Die Zeit - 15.08.2019

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  3. September | Würzburg
    Investigativjournalismus live:
    Das Netzwerk der Neuen Rechten
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    seinen Recherchen rund um Geldgeber und Hinter-
    männer der neurechten Bewegung.

  4. – 25. September | bundesweit
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Sie schreit, spuckt, schlägt und tritt. Einmal droht sie
sogar mit dem Messer. Bernadette oder Benni, wie
sie genannt werden will, ist ein neunjähriges Mäd-
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nistin im Spielfilm der Filmemacherin Nora Fing-
scheidt, und sie ist ein »Systemsprenger«. Bennis
Leidensweg durch Pflegefamilien berührt (auf der
Berlinale preisgekrönt mit dem silbernen Bären) und
wirft beim Zuschauer zahlreiche Fragen auf. Unter
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  1. September | Berlin
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Arbeitsmarktforscherin Jutta Allmendinger.

Fotos: Phil Dera, © Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures, Convent

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  1. September,
    Leipziger Kupfersaal:
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    redakteur Giovanni di Lorenzo ihre
    Fragen zu Journalismus,
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    und zum Zeitungma-
    chen zu stellen
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  1. August 2019 DIE ZEIT No 34


Kleine Diebe, große Totschläger


In der spießerhölle: Wie ich einmal mit meinem unglaublich klugen Freund timo das alte stasi-Hauptquartier in der


Berliner Normannenstraße besuchte und mir dabei ziemlich schlecht wurde VON MAXIM BILLER


W


ir waren noch keine halbe stunde
im alten stasi-Hauptquartier in
der Normannenstraße, das ja zum
glück nur noch ein Museum ist,
als mir plötzlich ganz schlecht
wurde. Mir war nicht übel, mir wurde nicht schwarz
vor den Augen, und ich musste mich auch nicht vor
schwäche hinsetzen. Ich war einfach nur angewidert
und deprimiert, so wie ich es immer bin, wenn ich
ein Haus oder ein öffentliches gebäude betrete, das


die Ostblock-Kommunisten gebaut und eingerich-
tet haben und das immer noch so aussieht und
riecht, als würden sie gleich wiederkommen.
Ich war mit timo da, dem unglaublich freund-
lichen, klugen und viel zu oft an sich selbst zweifeln-
den timo, der schon viel zu lange an der udK Kunst


studiert und gleichzeitig einer der besten Innenaus-
statter der stadt ist. Als mir schlecht wurde, standen
wir gerade im ersten stock vor diesen großen grauen
schautafeln mit den Fotos und Lebensläufen von ein
paar sehr böse und primitiv aussehenden Männern,
die früher einmal hier, im unwirtlichen, ewig stau-
bigen Berlin-Lichtenberg, in der Zentrale des Mi-
nis te riums für staatssicherheit, tag für tag damit
beschäftigt waren, darüber nachzudenken, wie sie
Millionen von Ostdeutschen noch tiefer in die Köpfe
und in die seelen hineinschauen könnten.
Nein, sie sahen natürlich überhaupt nicht so gut
und sexy aus wie die skurril kostümierten sechziger-
und siebzigerjahre-Agentendarsteller in Das Leben
der Anderen, Deutschland 86 und Weissensee. Es
waren lauter kleine Diebe, große totschläger und
biedere Beamte in billigen Anzügen, ziemlich un-
gepflegt und erstaunlich schlecht gekämmt, mehr
so der typ KZ-Aufseher oder Lagerleiter, wie eben
erst von den Alliierten verhaftet und für die Ver-
brecherkartei fotografiert. und als ich genau das
leise zu timo sagte, lächelte er sein engelhaftes
Mädchenlächeln und sagte mit seiner erstaunlich
tiefen stimme laut: »Diktatur des Proletariats! Wenn
solche Leute ganz allein die Macht haben, wird es
immer besonders brutal.«
timo – groß, blond, schlank, aber auch irgendwie
rund – wurde zwei Jahre vor der großen kleinen
DDR-Revolution in Ost-Berlin geboren und ver-
brachte seine Kindheit in einer modernen, hellen
Plattenbau-Wohnung im Ernst-thälmann-Park, von
wo es damals, ideologisch gesehen, nach Moskau und
Warschau vermutlich viel näher war als nach steglitz
und Charlottenburg. und vermutlich ist auch genau
dort das Foto entstanden, das timo als kleinen Jun-
gen auf dem Arm seines Vaters zeigt, das kleine Kin-
derfäustchen zum Arbeitergruß in die Höhe gereckt.
Über dieses Foto hat timo einen kurzen, unglaublich
kalten, klugen und zugleich sehr wütenden text ge-
schrieben, in dem er auch erzählt, wie sein großvater,
den man auf dem Bild gar nicht sieht, damals ihm,
dem Zweijährigen, den Arbeitergruß vorgemacht hat.
Den text, der auf eine einzige DIN-A4-seite passte,
hat timo beim letzten udK-Rundgang ganz unauf-

fällig und bescheiden irgendwo hingehängt, und ich
fand, es war die beste studenten-Arbeit des Jahres.
»guck mal, dort drüben hatte irgendwo mein
großvater sein Büro«, sagte timo. Wir waren
immer noch im ersten stock des stasi-Museums,
im alten Mfs-Hauptgebäude, und schauten
durchs offene Fenster, quer über
einen großen, hässlichen Park-
platz, der von lauter traurigen
Plattenbauten umrahmt war, auf
ein sehr graues, überraschend
schönes sozialistisches Hochhaus,
wo früher der angeblich so kulti-
vierte, belesene Markus Wolf mit
seinem völlig skrupellosen Aus-
landsgeheimdienst HVA saß.
»War das Büro deines Vaters auch
dort?«, fragte ich. timo lächelte und
schwieg – und dann sagte er immer
noch nichts. »Was für ein toller sommertag«, sagte
ich. »In der sonne, und mit diesem blauen Himmel
überall, sieht es hier gar nicht so schlimm aus.«
»Ich würde gern das Büro meines großvaters
sehen«, sagte timo. »Aber leider kommt man nicht
rein.« – »Vielleicht ist es ja besser so«, sagte ich,
und ich dachte, komisch, mir ist gar nicht mehr
schlecht. »Ja, vielleicht«, sagte timo. »Vielleicht
aber auch nicht«, sagte ich.
»Keine Ahnung«, sagte er. »Komm, lass uns
weitergehen. Im zweiten stock können wir uns
wenigstens das Büro von Erich Mielke angucken.«
»Was suchst du hier eigentlich, timo?«, fragte ich.
»Mich selbst«, sagte timo. »Ja, genau, und das ist
überhaupt nicht esoterisch gemeint, verstehst du?«
Oben, auf der Mielke-Etage, sah es plötzlich
wirklich so aus wie in den stasi-Fernsehserien, schon
deshalb, weil viele Weissensee- und Deutschland
86-szenen genau hier gedreht wurden. schäbige
Couchgarnituren, braune, zu kurze Fenstervorhänge,
karierte tischdeckchen und überall billiges, falsch
glänzendes, gelbliches VEB-Holzfurnier. An einer
Wand hing das schlechteste und kitschigste Berlin-
Aquarell, das ich jemals gesehen habe – Fernsehturm,
Hotel-stadt-Berlin-silhouette, viel zu grüne Finger-

farben-Bäume –, und als ich auf das Bild zeigte und
lachte, lachte timo komischerweise überhaupt nicht.
Jetzt ist ihm schlecht, dachte ich, und ich sagte:
»seltsam. Die sED- und stasi-Chefs hatten so viel
geld – sie hätten sich aus dem Westen alles liefern
lassen können, sofas von gio Ponti, Colombo-
Lampen und george-Nelson-stüh-
le. Aber stattdessen sah es bei ihnen
immer so aus wie in der schlimms-
ten deutschen Kleinbürgerhölle.«
»Ja, genau das meinte ich vor-
hin«, sagte timo, und er lachte
immer noch nicht. »Lauter Prole-
ten. Wer keinen geschmack hat,
wer nie wirklich ein Buch gelesen
hat, der hat auch keinen Respekt
vor anderen.«
»Ich glaube nicht, dass das etwas
mit Bildung zu tun hat«, sagte ich.
»Mussolini, Hei deg ger, Markus Wolf und so.«
»Mein großvater war vom Dorf«, sagte timo.
»Der hätte im Westen nie eine solche Karriere
gemacht.«
»Mein großvater war auch ein sehr einfacher
Mann«, sagte ich, »und den haben damals in der
sow jet union ziemlich gebildete typen umgebracht.«
Dann wurde mir wieder übel.
Auf der Rückfahrt nach Mitte redeten wir nicht
viel. Erst fuhren wir an den frisch renovierten, in der
sommersonne freundlich glänzenden DDR-Wohn-
türmen von Lichtenberg vorbei. Dann kam der teil
der Frankfurter Allee, wo es immer ein bisschen wie
in Moskau aussieht, dann die Karl-Marx-Allee, deren
selbstverliebte, imperiale, stalinistische Architektur
mir jedes Mal so lächerlich und so brutal vorkommt
wie eine gestammelte Breschnew- oder Honecker-
Rede. und als wir die Henselmann-Hochhäuser am
strausberger Platz passierten, in denen schon seit
Jahren sehr gebildete, sehr wohlhabende Architekten,
Künstler und Journalisten aus dem Westen wohnen,
weil sie es so unglaublich modern finden, dachte ich
daran, dass ich außer timo keinen einzigen Menschen
aus dem Osten kannte, der auf seine großeltern oder
seine Eltern so richtig sauer war.

Dann – während vor uns an der Ecke Prenzlauer
Allee und torstraße plötzlich der riesige, schiefer-
graue soho- House- Block auftauchte, in dem früher
auch schon die HJ und die sED residiert hatten –
dachte ich an Fritz teufel, Joschka Fischer und
Jürgen Habermas. Ich dachte an die gruppe 47
und an die eifrigen studenten von Adorno und
Horkheimer, ich dachte daran, wie mehrere west-
deutsche Nachkriegsgenerationen dafür gesorgt
hatten, dass das Wort »Nazi« zu einem erstklassigen
schimpfwort werden konnte. und ich fragte mich,
warum sich die ostdeutsche Jugend eigentlich nie
für all die täter, Mitläufer, spitzel und Mörder im
Namen des sozialismus in ihren Familien geschämt
und gegen sie aufbegehrt hatte.
Wahrscheinlich, sagte ich zu mir selbst, ohne
wirklich sicher zu sein, hatte es damit etwas zu
tun, dass kein junger Ostdeutscher sich nach der
Wende irgendwo im Ausland oder zu Hause an-
hören musste, dass er ein verdammter Bolschewik
und stalinist sei, im gegensatz zu den Kindern
und Enkeln von Hitler und Himmler, die ja vor
allem deshalb damals die Nazi-schatten in ihrer
geschichte gejagt hatten, um nicht selbst als
diejenigen zu gelten, die sie vielleicht immer
noch warfen.
gäbe es heute vielleicht, fragte ich mich, als wir
beim ehemaligen jüdischen Warenhaus Jandorf in
die Veteranenstraße einbogen, wo jetzt Mercedes-
Benz einzieht, mit einem ostdeutschen 68 weniger
AfD, Rechtsrock-Konzerte und völkische siedlun-
gen zwischen gera und Chemnitz? Ja, ganz sicher,
hundert Prozent!
Nachdem ich am Zionskirchplatz aus timos
Autos ausgestiegen war, beugte ich mich noch ein-
mal kurz in den Wagen rein und sagte zu timo:
»Danke, dass du mich heute mitgenommen hast.«
»Vielen Dank«, sagte er, »dass du mitgekommen
bist. Ohne dich wäre ich heute wahrscheinlich gar
nicht hingefahren.«
»Wirst du über unseren stasi-Ausflug etwas
schreiben?«, fragte ich. »Ja, vielleicht«, sagte er.
»Ich vielleicht auch«, sagte ich, und jetzt lachte
er endlich wieder.

42 FEUILLETON


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Illustration: Christoph Niemann für DIE ZEIT
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