Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

ENTDECKEN


ANZEIGE


Henit amet aliquam commy
nostrud magna feugue facilla
feugiam volor

u stehst auf einem riesigen Bahnhof in ei-
ner fremden Stadt. Um dich herum Men-
schen, die drängeln und eine Sprache spre-
chen, die du zum ersten Mal hörst. Es gibt
150 Gleise, und du kannst die Anzeigetafel
nicht lesen. Menschen hasten an dir vorbei,
jeder hat ein Ziel. Nur du weißt nicht, wo-
hin. In fünf Minuten fährt dein Zug ab.
Ob du ihn erwischst, entscheidet über
dein Leben. Du wirst diesen Zug verpassen.
Außer irgendjemand bleibt stehen, schaut
dich an und fragt dich, wie er helfen kann.
Vielleicht nimmt dir sogar jemand das
Gepäck ab. Dann kannst du es schaffen.
Vermutlich. Vielleicht.
So etwa fühlt sich der Anfang einer In-
tegration an. Sie ist begleitet von der Hoff-
nung auf ein besseres Leben und der Angst
zu scheitern. Bei meinen Eltern ver-
schwand die Angst erst nach 20 Jahren,
lange nach der Wut und der Verzweiflung
darüber, dass das Ankommen in Deutsch-
land doch nicht so einfach war, wie sie es
sich vorgestellt hatten. Meine Eltern waren
streng zu sich selbst und zu uns Kindern.
Sie wussten, dass es ohne Deutsch in die-
sem Land nicht geht. Dass Migranten die
Sprache lernen müssen. Aber als Carsten
Linnemann von der CDU in einem Inter-
view neulich sagte, Kinder, die kaum
Deutsch sprechen, hätten auf einer Grund-
schule »noch nichts zu suchen«, sagte mei-
ne Mutter: »Das ist das Blödeste, was ich
dazu gehört habe.«
Und ich? Dachte an 1988. In dem Jahr
kamen wir nach Deutschland, mit zwei
Koffern, ich war acht Jahre alt. Damals
waren die einzigen Wörter, die ich auf
Deutsch sagen konnte: »Halt!«, »Hände
hoch!« und »Schnella, schnella!«. Wörter
aus meiner Welt der polnischen Hinterhö-
fe, in denen wir nachmittags Nazis besiegt
und den Zweiten Weltkrieg neu entschie-
den hatten. Außerdem: »Hallo« und »Dan-
ke«. Das hatte mir ein deutsches Ehepaar
im Zug auf dem Weg in unser neues Leben
beigebracht.
Im Mai 1988 waren es noch ein paar
Wochen bis zu den Sommerferien, und so
wurde ich in einem Hamburger Vorort
wieder in die erste Klasse geschickt. Dort
hießen die Kinder nicht Magda, Kasia,
Maciej, sondern Steffi, Julia, Oliver. Ich
hatte keine Worte, um mich vorzustellen.
Ich war mir nicht einmal sicher, wie mein
Name ausgesprochen wird in diesem neuen
Land. Alicja wie in Polen? Oder Alice? Wer
war ich jetzt? Wer sollte ich sein? Ich be-

obachtete. Ich lernte. Sprang nicht mehr
vom Stuhl auf und presste meine Hände an
den Körper, wenn der Lehrer etwas fragte.
Die Eltern lernten auch. Legten bald Ka-
rottenschnitze und Knoppers in die Brot-
dose, wie deutsche Eltern.
Was überhaupt ist Integration? Das
Sprachzertifikat, Modul C2? Ein fester
Arbeitsplatz? Ein deutscher Ehemann?
Knoppers kennen? Sich an die Mittagsruhe
halten? Für mich war Integration: zum
ersten Mal allein mit dem 63er-Bus fahren.
Zum ersten Mal ein Langnese-Eis im
Dorfladen kaufen. Zum ersten Mal Wiener
Würstchen auf einem deutschen Kinder-
geburtstag essen.
Natürlich hat Carsten Linnemann
recht. Jedes Kind in Deutschland muss die
Sprache lernen. Aber ging es Linnemann in
seinem Vorstoß wirklich um Kinder, die
sich beim Deutschlernen schwertun und
Hilfe brauchen? Oder vielmehr um die an-
deren, die auf ihrem deutschen Erfolgsweg
gebremst werden?
»Daheim werden Kinder das allein mit
ihren Eltern nicht schaffen«, sagt auch
meine Mutter. Bei mir half zunächst Frau
Gernitz. Sie war um die 70. Mit ihren Kol-
leginnen von der Diakonie hat sie ganze
Generationen von Kindern, auf deren Er-
folg niemand gewettet hätte, geholfen.
Kostenlos.
Zu Frau Gernitz kamen deutsche Kin-
der aus zerrütteten Familien und türkische
Kinder aus sozialen Brennpunkten, die
Deutsch sprachen, aber nicht lesen konn-
ten. Irgendwo dazwischen steckten wir:
Kinder von Akademikern, die in Deutsch-
land erst mal wieder zu Arbeitern wurden,
die schwarz arbei te ten, in Fabriken aushal-
fen. Wir konnten lesen und schreiben, aber
nicht auf Deutsch. Zwei-, dreimal die Wo-
che fuhren die Eltern mich und meinen
Bruder mit ihrem feuerroten Opel Kadett,
den sie für 250 Mark gekauft hatten, zu
Frau Gernitz. Damals hatte der Staat noch
gar nicht daran gedacht, dass Kinder wie
wir Hilfe brauchten. Wir hatten einfach
Glück, dass unsere Verwandten uns von
Frau Gernitz erzählten. Schon ihre Kinder
hatten bei ihr Deutsch gelernt.
Nun lernte auch ich, dass jedes Subs tan-
tiv einen Artikel hat, den man sich nicht
selbst aussuchen darf. Dass V, ein mir neuer
Buchstabe, manchmal wie W und manch-
mal wie F ausgesprochen wird. Ich schrieb
Verd, weil ich es schöner fand als Pferd,
und Fater statt Vater. Ich streute großzügig

Doppelpünktchen über meine Vokale, weil
sie so viel freundlicher aussahen.
Nach ein paar Wochen zogen wir um,
nun kam die Hilfe schon von der Nach-
barstochter. Es waren Som mer ferien, meine
erste deutsche Freundin und ich liefen über
Wiesen, kletterten auf Bäume, tobten im
Heuspeicher. Ich brachte ihr Rollschuh-
fahren bei, sie mir neue Wörter: reiten,
traben, Stall. Irgendwann, schleichend, war
die Sprache da. Nach dem ersten Halbjahr
in der zweiten Klasse wurde ich gleich in
die dritte versetzt.
Wir Kinder rasten voran, zurück blie-
ben die Eltern. Mein Bruder und ich wur-
den ungeduldig. Wenn meine Mutter sich
anstrengte, Deutsch zu reden, sagten wir:
»Mama, mach schneller, sag es auf Pol-
nisch!« Für uns Kinder wurde die deutsche
Sprache zur Heimat, die Eltern aber müh-
ten sich ab.
Deutsch ist nicht nur der Schlüssel ins
neue Leben. Man braucht es auch, um sich
wehren zu können. Wenn wieder irgendein
Sachbearbeiter beim Arbeitsamt die Fort-
bildung nicht genehmigte, die für ihre
Fachprüfung nötig war; wenn sie nachwei-
sen mussten, dass ihr Studium aus Polen
gleichwertig war mit dem in Deutschland.
Sprache, das spürten meine Eltern genau,
bedeutete Macht und Schutz. Ohne sie
wirkte selbst ein freundlicher Sechsjähriger
auf einem Spielplatz einschüchternd, den
meine Mutter nicht verstand. »Hast du
keine Ohren?«, fragte er sie schließlich.
Ohr? Das Wort klang vertraut. Meine Mut-
ter zeigte ihm ihre Uhr. Als sie dem Jungen
später wieder begegnete, sagte er zu ihr:
»Du hörst ja schon viel besser als vor drei
Monaten.«
Unsere Ankunft in Deutschland liegt 31
Jahre zurück. In dieser Zeit haben wir die
unterschiedlichsten In te gra tions ideen von
Politikern vorbeiziehen sehen: Migranten-
kinder sollen zu Hause bitte Deutsch spre-
chen. Sie sollen zu Hause lieber kein
Deutsch sprechen. Sollen bitte früh in die
Kita, sollen lieber später in die Schule. Es
ist schwer, den passenden Weg für die un-
terschiedlichsten Kinder zu finden, die nur
eines verbindet: Sie sind hier Fremde, noch.
Und sie benötigen Hilfe.
Manche viel mehr als ich. Kinder, deren
Eltern es nicht schaffen, so aufs Deutsch-
lernen zu pochen wie meine, brauchen erst
recht eine Frau Gernitz, sie brauchen deut-
sche Freunde, sie müssen mit deutschen
Kindern in die Schule gehen.

Linnemann hat nie ein Grundschulver-
bot für Kinder ohne Deutschkenntnisse ge-
fordert, wie manche Medien zunächst be-
hauptet haben. Aber was dann? Als ihn ein
Journalist der Rheinischen Post fragt: »Wo
muss sich die CDU profilieren?«, antwortet
Linnemann: »Ganz klar bei der Integra-
tion.« Und sagt dann nicht: Wir brauchen
mehr Lehrer. Wir brauchen mehr Geld. Es
ist auch unser Versagen, wenn diese Kinder
nicht mitkommen. Er sagt: »Die Vorfälle in
Freibädern, die Tat auf dem Frankfurter
Bahnsteig, die Schwertattacke in Stuttgart


  • das alles wühlt die Menschen auf und be-
    feuert die Sorge, dass neue Parallelgesell-
    schaften entstehen könnten. Dem müssen
    wir jetzt vorbeugen.« Direkt im Anschluss
    folgt die Sache mit der Einschulung. Ein
    Politiker der CDU, der einen Pressespre-
    cher hat und Interviews vorher gegenliest,
    schlägt einen irritierenden Bogen von ei-
    nem psychisch kranken Eritreer in Frank-
    furt zu Kindern, die noch nicht gut
    Deutsch können. Als stünde am Anfang
    das nicht integrierte Kind und am Ende
    der Verbrecher.
    Fiel ihm wirklich nicht auf, wie seine
    Worte wirken würden? Dass es nicht nur
    darum geht, ob Menschen Worte haben
    oder nicht, sondern auch darum, welche sie
    wählen? Hat Linnemann keine Sätze der
    Stärke, kennt er keine Geschichte der Zu-
    versicht? Hier wäre eine: Das Kind, das
    damals mit sechs Wörtern im Gepäck nach
    Deutschland kam, ist heute Korresponden-
    tin. Der Bruder ist Oberarzt. Die Eltern
    haben sich in Deutschland hochgearbeitet,
    von ganz unten nach ziemlich weit oben:
    der Vater selbstständig, die Mutter Ärztin,
    mit Reihenhaus und Schrebergarten. Sol-
    che Geschichten sind keine glorreichen
    Ausnahmen. Es gibt sie hunderttausend-
    fach in Deutschland.
    Wir Migrantenkinder müssen wieder
    und wieder von ihnen erzählen, damit am
    Ende nicht nur die Geschichten vom Ver-
    sagen und Scheitern bleiben. Ist das so et-
    was wie der Migrantenjob? Wir suchen
    nach den vorsichtigeren Worten für die
    unterschiedlichen Integrationserfahrungen
    in diesem Land. Wir räumen der Profilie-
    rungslust mancher Politiker hinterher, die
    Skandal und Empörung bewusst in Kauf
    nehmen. Aber kräftig durchzuwischen, das
    haben uns unsere Eltern ja beigebracht.


Siehe auch Chancen, Seite 61: Deutsch in der
Grundschule – zwölf Fragen und Antworten

VON ALICE BOTA

Meine Deutschstunde

»Deutsch ist nicht nur der Schlüssel ins


neue Leben. Man braucht es auch,


um sich wehren zu können«


50 15. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34


JETZT NEU


AM KIOSK!


ODER ALS E-PAPER


BLICK INS HEFT: WWW.ZEIT.DE/ZEITCAMPUS


Alle wollen in die angesagten Viertel ziehen. Dabei ist es auch


woanders schön – und noch bezahlbar. ZEIT CAMPUS zeigt dir


Gegenden, die du jetzt erobern und zu deinem neuen Zuhause


machen kannst!


Außerdem: In der Mensa mit dem Künstler Jonathan Meese,


der ZEIT CAMPUS-Ratgeber für den Semesterstart und die große
Umfrage zur Nachhaltigkeit im Alltag.

SCHÖN UND BEZAHLBAR


107264_ANZ_10726400019216_23680092_X4_ONP26 1 05.08.19 10:45
Free download pdf