Der Stern - 08.08.2019

(Ann) #1
stern, „aber trotzdem scheinen die Leute ein
verschwommenes Gefühl zu haben, dass
gelingendes Leben irgendwie doch mehr
sein müsste als das, was man kaufen kann.“
Welzers Resümee: „Die Welt ist zum Ver-
ändern da, nicht zum Ertragen.“
So mancher kennt das. Dieses stumme Er-
tragen. Und die stille Sehnsucht nach einem
anderen, echten, gelingenden Dasein. Das na-
gende Gefühl, dass da draußen das Leben wei-
tergeht und pulsiert, aber einem selbst sagt
das alles nichts mehr. Man ist in der Welt, man
funktioniert, aber die Welt verblasst und wird
stumm. So fühlen sich Depressive. Und davon
gibt es immer mehr in Deutschland. Gerade
meldete die Krankenkasse DAK, dass sich die
Zahl der Fehltage von Arbeitnehmern auf-
grund psychischer Probleme in den letzten
beiden Jahrzehnten mehr als verdreifacht hat.
Was ist los mit uns? Warum geht es so vie-
len Menschen in einer so reichen Gesellschaft
offenbar so schlecht? Vielleicht, weil wir uns
in einer immer schneller werdenden, immer
aggressiveren und weitgehend entzauberten
Welt selbst überholt und dafür einen hohen
Preis gezahlt haben. Diese Entwicklung ist
nicht neu, aber sie hat sich verschärft. Schon
die Philosophen Theodor W. Adorno und Max
Horkheimer haben sie in der „Dialektik der
Aufklärung“ beschrieben. Die Aufklärung hat
uns zwar aus der Unmündigkeit geholt, vom
Aberglauben befreit und die Macht der Kirche
eingeschränkt, aber die dann folgende Herr-
schaft der instrumentellen Vernunft wurde
mit einer Verarmung des Lebens bezahlt.
Unsere moderne, verwaltete und wachstums-
fixierte Welt wurde berechenbarer, kalkulier-
barer, gefühlloser und kälter. „Mit der Ver-
sachlichung des Geistes“, schreiben Horkhei-
mer und Adorno, „wurden die Beziehungen
der Menschen selber verhext, auch die jedes

Einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knoten-
punkt konventioneller Reaktionen und Funk-
tionsweisen zusammen, die sachlich von ihm
erwartet werden.“
Erwartungen erfüllen – das kennen wir alle.
Unser Alltagsleben, so Hartmut Rosa, „kon-
zentriert und erschöpft sich mehr und mehr
in der Abarbeitung von explodierenden
To-do-Listen: der Einkauf, der Anruf bei der
pflegebedürftigen Tante, der Arztbesuch,
die Arbeit, die Geburtstagsfeier, der Yogakurs


  • erledigen, besorgen, wegschaffen, meistern,
    lösen, absolvieren“.


Dabei drohen viele auf der Strecke zu blei-
ben. Der allgegenwärtige Optimierungsdruck,
die Angst vor Statusverlust und das zuneh-
mende Tempo lassen uns immer mehr tun,
aber immer weniger empfinden. Social Media
ist der neue Marktplatz der eitlen Meinungen.
„Likes“ sind unsere emotio-nale Währung.
Wichtig ist, wer viele „Freunde“ hat. Aber
das „Social“ in „Social Media“ ist letztendlich
nur eine Simulation von Gemeinschaft. Das
Digitale kann das Echte niemals ersetzen. Der
Psychologe und Meditationsexperte Boris
Bornemann warnt denn auch vor zunehmen-

Innehalten
„In dem Wahn,
etwas darstellen
zu müssen,
verpasse ich es, zu
sein, zu fühlen,
mich wirklich vom
Leben berühren
zu lassen“, sagt
der Psychologe
Boris Bornemann

Auch


gehört zu uns“


„ Verletzlichkeit


28 8.8.2019

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