Die Welt - 17.08.2019

(Axel Boer) #1

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17.08.19 Samstag, 17. August 2019DWBE-HP


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12 BILDUNG DIE WELT SAMSTAG,17.AUGUST


B


ald beginnt an den Hoch-
schulen das neue Semester.
Zahlreiche Jugendlichewer-
den dann anfangen zu stu-
dieren. Die Kultusminister-
konferenz geht davon aus, dass die Zahl
der Studienanfänger in diesem Jahr wie-
der auf mehr als 500.000 steigen wird.

VON FRIEDERIKE LÜBKE

Im vergangenen Jahr waren es rund
510.400 Jugendliche, die in Uni-Städte
strömten, in WGs und Wohnheime zo-
gen. Viele Eltern bleiben allein zurück
und leiden oft mehr unter dem Auszug
ihres Kindes, als sie erwartet haben.
Das Problem hat einen Namen: Empty-
Nest-Syndrom.

WELT:Frau Fromm, Sie beraten als
Psychologin Menschen, die am Emp-

ty-Nest-Syndrom leiden. Warum ist
es für Eltern so schwer, wenn die Kin-
der ausziehen?
BETTINA FROMM:Wir Menschen sind
Gewohnheitstiere. Es ist emotional ei-
ne sehr große Veränderung, wenn man
15 oder 20 Jahre lang als Familie zusam-
mengelebt hat und dann plötzlich al-
lein ist oder nur noch der Partner da
ist. Auch der Alltag ändert sich.

Was ist das Empty-Nest-Syndrom?
Das ist ein Fachbegriff, der auch im
ICD-10 aufgeführt ist, dem Klassifikati-
onssystem der Krankheiten. Psychische
Erkrankungen kann man aber nur
schwer umgrenzen. Möglicherweise
hat jemand einige Symptome und ande-
re nicht. Die Bandbreite kann stark
schwanken. Es geht um ein Gefühl der
Leere und der Traurigkeit – auch im
räumlichen Sinne. Das Kind räumt das

Zimmer aus. Was mache ich mit dem
leeren Raum? Lasse ich ein Sofa für
mein Kind drin, wenn es wieder nach
Hause kommt? Oder richte ich mir ein
Sportzimmer ein? Es gibt viele Mög-
lichkeiten. Vielleicht brauche ich eine
Zeit, in der das Zimmer leer bleibt und
das Kind die Möglichkeit hat, zurückzu-
kommen.

Wann ist es so schlimm, dass sich be-
troffene Eltern Hilfe suchen sollten?
Meine Regel lautet immer: Wenn das
Problem so stark wird, dass der Alltag
darunter leidet. Wenn ich den Auszug
meines Kindes als emotional so belas-
tend erlebe, dass ich mich zurückzie-
he, dass ich unter Schlafstörungen
leide. Wenn ich merke: Ich komme
einfach überhaupt nicht mehr klar,
weiß nichts mit mir anzufangen
und kann mich auf nichts mehr kon-

zentrieren. Dann ist es ein Indikator
dafür, dass eine Unterstützung sinn-
voll wäre.

Haben Sie den Eindruck, dass Eltern
heute häufiger unter dem Empty-
Nest-Syndrom leiden als früher?
Das kann man so pauschal nicht sagen.
Die Entwicklung spiegelt vor allem,
dass Menschen erst einmal darüber
sprechen können. Früher hätte man
vielleicht einfach weitergemacht. Aber
da wir gelernt haben, uns mehr zu öff-
nen, wird die Symptomatik in der Öf-
fentlichkeit präsenter, wenn sie als
Thema plötzlich gesellschaftsfähig
wird.

Dabei ist es heute doch – gerade dank
neuer Medien – viel leichter, mit den
Kindern Kontakt zu halten.
Absolut. Aber gleichzeitig muss man
sehen, dass die Face-to-Face-Kommu-
nikation eine ganz andere Qualität hat.
Zum kurzen Hallo-Sagen ist eine What-
sApp-Nachricht gut geeignet. Aber sie
ersetzt kein gemeinsames Essen, bei
dem man sich zwei Stunden aus-
tauscht.

Können sich Eltern auf den Abschied
vorbereiten?
Ja, das ist ein langer Weg mit vielen
kleinen Schritten. Am Anfang wollen
die Kinder die ganze Zeit mit einem
verbringen, nach und nach orientieren
sie sich immer weiter nach außen. Zu-
erst gehen sie in den Kindergarten,
dann in die Schule, dann verbringen sie
auch das Wochenende lieber mit
Freunden. Man sollte versuchen, sich
nicht an eine dieser Phasen zu klam-
mern, sondern sie alle zuzulassen und
den Kindern so den Weg in die Selbst-
ständigkeit und Eigenverantwortung
zu ermöglichen.

Wie kann man die Beziehung zum
ausgezogenen Kind gut gestalten?
Das hängt sehr davon ab, wie das Ver-
hältnis vorher war. Man kann davon
ausgehen: Wenn man eine gute Bezie-
hung hatte, wird sie nicht plötzlich
schlecht werden. Ich empfehle immer,
sich daran zu orientieren, was man vor-
her gemacht hat. Hat man vorher jeden
Tag, an dem das Kind nicht zu Hause
war, telefoniert, kann man das mögli-
cherweise auch weiterhin tun. Wenn
nicht, ist es komisch, jetzt damit anzu-
fangen. Ich rate dazu, auch mit dem
Kind zu sprechen: „Ich vermisse dich.
Für mich, für uns ist es nicht einfach,
dass du jetzt nicht mehr da bist. Wie
stellst du dir den Kontakt vor?“ Man
kann auch einmal im Jahr zusammen
verreisen. Oder man isst alle zwei Wo-
chen zusammen. Man muss allerdings
akzeptieren: Das Kind braucht einen
letztlich immer weniger.

Warum ist es für Kinder wichtig, dass
Eltern loslassen?

Weil sie sonst im Leben nicht bestehen
können. Es ist sehr hilfreich, wenn man
schon früh damit anfängt, seinen Kin-
dern zu zeigen: Jetzt erkläre ich dir
mal, wie die Waschmaschine funktio-
niert, wie man kocht. Es gibt immer
noch Kinder, die mit 30 Jahren nach
Hause kommen, und Mutti wäscht ih-
nen die Wäsche. Das ist auch für eine
zukünftige Partnerschaft ein Problem.
Wenn der eine Partner alles machen
muss, kann man keine Partnerschaft
auf Augenhöhe führen.

Für wen ist der Auszug des Kindes
schwieriger, für die Mutter oder für
den Vater?
Erfahrungsgemäß für die Mütter. Das
ist aber sehr pauschal gesagt. Jetzt zie-
hen die Kinder der Mütter aus, die in
den 60er- und 70er-Jahren geboren
sind. Die haben häufiger in traditionel-
len Ehen gelebt und sind zu Hause ge-
blieben. Dadurch haben sie meist eine
engere Bindung zum Kind, und das Ver-
lustgefühl ist größer. Die Väter merken
manchmal erst, wenn sie beruflich ih-
ren Weg gemacht haben, dass sie gern
mehr Zeit mit ihrem Kind verbringen
möchten. Aber dann kann es schon zu
spät sein, weil das Kind erwachsen ist.
Dann leiden sie unter den verpassten
Optionen.

Wie lange dauert es, die Trauer wie-
der loszuwerden?
Das kann man nicht beantworten. Der
eine trauert nur ein paar Wochen, der
andere Jahre. Es hat auch damit zu tun,
welche Perspektive man sich aufbaut.
Wenn ich etwas unternehme, wird es
mir leichter fallen, als wenn ich nur zu

Hause sitze und der Situation nachwei-
ne. Manche Mütter machen zum Bei-
spiel zusammen Ausflüge und sprechen
darüber, wie es ihnen geht, andere ge-
hen zum Coaching, um sich auf sich zu
fokussieren und neu zu orientieren.
Mittlerweile gibt es auch Selbsthilfe-
Gruppen zum Thema.

Was bedeutet es für die Partner-
schaft, wenn die Kinder aus dem
Haus sind?
Familien gestalten ihr Leben sehr un-
terschiedlich. Für manche gibt es nur
noch die Familie. Sie funktionieren
nicht mehr als Paar. Andere schaffen es,
ihr Paarleben zu bewahren, indem sie
zum Beispiel einen Babysitter haben,
der einmal die Woche kommt, und sie
etwas für sich machen. Das gilt es erst
einmal auf den Prüfstand zu stellen:
Wie leben wir eigentlich? Was wollen
wir noch tun? Haben wir wegen der
Kinder etwas zurückgestellt, das wir
nun tun können? Man muss sich auch
die emotionale Ebene ansehen: Sind
wir noch ein Paar? Oder waren wir
schon lange nur noch Eltern? Das kann
erschreckend sein. In dieser Phase ist
die Scheidungsrate sehr hoch. Es ist ge-
nerell ein großer Umbruch.

Wie können Eltern diese Phase ge-
stalten?
Sie müssen sich neu finden. Wer bin
ich, wenn ich nicht mehr vor allem
Mutter oder Vater bin? Wo sind meine
Interessen? Wie wollen wir den Alltag
jetzt strukturieren? Es hat ja auch Vor-
teile, wenn das Kümmern um die Kin-
der und den Haushalt weniger wird. Es
entstehen neue Freiräume. Das hat
man sich doch gewünscht, als die Kin-
der klein waren und man immer für sie
zurückgesteckt hat. Jetzt kann man rei-
sen, lesen, für sich sein. Hobbys wieder
nachgehen, die über die Jahre auf der
Strecke geblieben sind. Endlich die lan-
ge Wanderung machen, zu der die Kin-
der immer keine Lust hatten. Man kann
wieder Anteile von sich leben, die vor-
her zu kurz gekommen sind, oder lang
gehegte Träume realisieren.

Warum können sich nicht alle Eltern
freuen, wenn sie plötzlich frei sind?
Das ist genau das, woran Eltern arbei-
ten müssen. Man kann das neue Leben
genießen! Der Schmerz überwiegt oft,
weil die Nähe, die Bindung und auch
die Liebe zu dem Kind so groß sind.
Wenn man etwas liebt, fällt es einem
oftmals schwer, es loszulassen. Aber
ich sage immer: Das Beste, was man als
Eltern erreichen kann, ist doch, dass
die Kinder ausziehen und ihnen ihr Le-
ben gelingt. Wenn sie selbst beruflich
erfolgreich sind oder eine glückliche
Beziehung führen. Dass man die Kinder
auf den Weg gebracht hat und sie mit
sich und dem, was sie tun, glücklich
sind, ist doch das größte Lob, das man
als Eltern bekommen kann.

Bettina Frommist Diplom-
Psychologin und arbeitet als
niedergelassene systemische
Therapeutin in Köln. Sie
beschäftigt sich schwerpunkt-
mäßig mit Klienten in Krisen
und Übergängen im jungen Er-
wachsenenalter und in der mitt-
leren Lebensphase. Dazu gehört
auch das „Empty Nest Syndrom“,
welches sie mithilfe der Accep-
tance Commitment Therapie
(ACT) bearbeitet. Klienten lernen
dabei, ihre Krise zu akzeptieren
und sich gleichzeitig neu aus-
zurichten. Durch die Übernahme
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