Focus - 16.08.2019

(Sean Pound) #1

AGENDA


Man kann das Verhalten von Russ-
lands Staatschef als Wegtauchen vor den
Problemen im Land interpretieren. Oder
auch als Zurschaustellung der wahren
Prioritäten und seiner Überzeugung, dass
die größten Demonstrationen seit 2012 in
Russland ebenso verpuffen werden wie
vor sieben Jahren. Da wehrten sich die
Russen bei den sogenannten Bolotnaja-
Protesten – benannt nach dem Bolotna-
ja-Platz im Zentrum Moskaus – gegen
die Fälschung der vorangegangenen
Duma-Wahl durch die Regierungspartei
„Einiges Russland“. Sie endeten mit Ver-
haftungen und zum Teil mehrjährigen
Haftstrafen.
Der Staat hatte wieder einmal
Stärke gezeigt. Nein, Putin hat-
te sie gezeigt, denn beide sind
in den 20 Jahren seiner Regent-
schaft eins geworden. „Es gibt
kein Russland heute ohne
Putin“, sagte einst sein lang-
jähriger innenpolitischer Bera-
ter, der heutige Duma-Sprecher
Wjatscheslaw Wolodin.


Die Macht der
„Scheißhaus“-Parole


Stärke zeigen – das durchzieht
wie ein roter Faden Putins
Amtszeit. Er ist der am längs-
ten regierende Politiker Russ-
lands. Nur Josef Stalin herrschte
länger, 25 Jahre dauerte seine
Diktatur. „Er ist in der Lage,
diejenigen um sich zu scha-
ren, die das Große Russland im



  1. Jahrhundert erneuern sol-
    len“, zeigte sich Präsident Boris
    Jelzin im August 1999 über-
    zeugt, nachdem er dem etwas
    schüchtern wirkenden Geheimdienstchef
    das Amt des Ministerpräsidenten ange-
    tragen hatte. Kurz danach holte Putin
    bereits zu seinem ersten Schlag aus, ließ
    Tschetschenien bombardieren. Der zweite
    Kaukasuskrieg begann.
    Wenige Tage zuvor waren in Moskau
    zwei Wohnhäuser explodiert, mehr als 200
    Menschen starben. Wer die Täter waren,


wurde nie zweifelsfrei geklärt. Alexan-
der Litwinenko, ein in London 2006 ver-
gifteter früherer KGB-Offizier, beschul-
digte den russischen Geheimdienst
der Tat. Putin aber machte tschetsche-
nische Separatisten verantwortlich. „Wir
werden sie überallhin verfolgen“, giftete
er in aller Öffentlichkeit. „Und entschul-
digen Sie, dass ich das so sage: Wir erle-
digen sie auch im Scheißhaus.“
Der berühmte Spruch bestimmte den
Tonfall für alles, was danach kam. Bis
heute. Putin, der Law-and-Order-Mann,
war geboren. Das Gegenteil von Jelzin,
der Russland in die Bedeutungslosig-

ses Denken hat Putin so lange an der
Macht gehalten.
Russlands Größe mithilfe des Westens
wiederherzustellen, darin sah der No-
body aus St. Petersburg in den ersten Jah-
ren seiner Präsidentschaft keinen Wider-
spruch. So drängte er das Parlament,
Rüstungskontrollverträge zu ratifizieren,
was die zuvor kommunistisch beherrschte
Duma verweigert hatte. Putin betrachtete
das als ein Friedensangebot, um danach
über die Integration Russlands in nord-
atlantische und europäische Sicherheits-
strukturen zu reden. Auf Augenhöhe, ver-
steht sich.

Prinzipien sind Heuchelei
Nur hatte der Westen damals
ganz andere Vorstellungen da-
von, wie sich das Riesenreich
entwickeln sollte: in eine libe-
rale Demokratie und nicht
in ein System, in dem Parla-
mente Befehlsempfänger und
Präsidenten nominiert statt
gewählt werden. Putin dage-
gen, so die Russlandkenne-
rin Kadri Liik vom European
Council on Foreign Relations,
glaube, Staaten handelten nur
nach machtpolitischen Kriteri-
en, und Prinzipien seien reine
Heuchelei. Zu dieser Weltsicht
passt wohl auch, dass er Kanz-
lerin Angela Merkel monate-
lang versicherte, es gebe keine
russischen Truppen auf der
Krim, um dann schließlich
stolz den erfolgreichen Ab-
schluss der Militäroperation auf
der ukrainischen Halbinsel zu
verkünden.
Der Aufschrei des Westens nach der
Annexion der Krim 2014, die Nikita
Chruschtschow 1954 der damaligen
Ukrainischen Sowjetrepublik übergeben
hatte, kümmerte Putin nicht: Innenpoli-
tisch hatte er alle russischen Patrioten auf
seiner Seite. Seine Beliebtheitswerte bei
der Bevölkerung stiegen auf über 80 Pro-
zent. Die Krim, sie war heimgekehrt ins
Reich. So sahen das viele.
Seitdem intervenierte Putin auf der
Seite des Diktators Baschar al-Assad in
Syrien, beteiligte sich am internationalen
Atom-Deal mit dem Iran – auch gegen
die Interessen der USA – und näherte
sich China an. 2018 kündigte er in seiner
Jahresansprache die Entwicklung von
Wunderwaffen an. „Die USA haben unse-

keit regiert und sich mit seinen Alkohol-
exzessen lächerlich gemacht hatte. Wenn
man die Russen fragt, dann sind es noch
immer Tatkraft, Energie und Gesundheit,
die viele an Putin bewundern. Historiker
sagen, Russen würden alles verzeihen,
nur nicht, wenn der Zar die Kontrolle
über den Staat verliert – wie Nikolaus II.
oder Michail Gorbatschow. Auch die-

Der aus der Kälte kommt Putin nimmt am Dreikönigsfest ein
traditionelles Eisbad im Seligersee in der Region Nowgorod

„Es gibt kein Russland heute ohne Putin“
Duma-Sprecher Wjatscheslaw Wolodin

26 FOCUS 34/2019

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