Focus - 16.08.2019

(Sean Pound) #1
RUSSLAND

Fotos: action press, AFP


re Warnungen ignoriert“, rief der sonst so
coole Präsident ungewohnt erregt. „Und
jetzt hören Sie uns einfach mal zu!“
Die außenpolitische Linie Putins nennt
der russische Journalist Michail Krosti-
kow die „Honigdachs-Doktrin“: Benannt
nach den possierlichen Tieren, die für
ihre Kraft, Zähigkeit und Rachsucht
bekannt sind und sich gerne mit größe-
ren Rivalen anlegen. Täuschen gehört
dabei zum Handwerk. Was der Analy-
tiker meint: Moskau wagt die Konfron-
tation, obwohl der russische Verteidi-
gungshaushalt im Vergleich zu dem der
USA und Europas klein ist. Und macht
dem Westen das Leben schwer,
zum Beispiel durch die Finan-
zierung von rechtsextremen
Parteien oder den Einsatz von
Internet-Trollen. Maximale Auf-
regung bei minimalem Einsatz.
„Die Honigdachs-Doktrin hat
aber auch Schwächen“, so der
Journalist im Russland-Portal
Dekoder. „Es ist eine Überle-
bensstrategie, keine Strategie
der Entwicklung.“ Weder ver-
bessert sie das Russlandbild
noch trägt sie zur Modernisie-
rung der Wirtschaft bei.

Sinkender Lebensstandard
Dabei stieg die russische Leis-
tungsbilanz 2018 um 245 Pro-
zent gegenüber dem Vorjahr.
Die Inflation liegt bei derzeit
4,6 Prozent, die Devisen- und
Goldreserven wuchsen auf
519,8 Milliarden Dollar. Aber
die makroökonomische Stabi-
lität komme bei den Menschen
nicht an, kritisiert selbst Putins
toughe Zentralbankchefin Elvira Nabiul-
lina. Mehr Wachstum könne bloß ein
besseres Investitionsklima bringen, etwa
ein stärkerer Schutz des Eigentums und
unabhängige Gerichte.
Im laufenden Jahr rechnet Moskau
nur mit rund einem Prozent Wachstum,
die Realeinkommen sinken das fünfte
Jahr in Folge. Die Zahl derjenigen, die
unter dem Existenzminium leben, ist seit
2012 von 10,7 auf 13,3 Prozent gestiegen.
Wenn es so weitergehe, fürchtet Rech-
nungshof-Chef Alexej Kudrin sogar eine
„soziale Explosion“.
Nur, wer hat schon Lust, in einem Land
zu investieren, in dem es jederzeit Prob-
leme mit den Sicherheitsbehörden geben
kann? Top-Vertreter der sogenannten

regimekritischen „Nowaja Gazeta“ kon-
trolliert Putins innerer Zirkel ein Vermö-
gen von mindestens 24 Milliarden Dollar.
Seit Jahren verspricht der Staatschef
zwar, die Sicherheitsbehörden zurückzu-
drängen. Doch nichts ist bisher passiert.
Und vermutlich kann er sein Verspre-
chen auch gar nicht erfüllen, denn über
die Verteilung von Ressourcen versucht
Putin, rivalisierende Fraktionen innerhalb
des Machtapparats in Schach zu halten.
Wie ein Dompteur, der mal dem einen,
mal dem anderen Löwen etwas in den
Rachen wirft. Zu grundlegenden Struk-
turreformen wie der Verringerung des
Staatssektors war Putin nie stark genug.
Dennoch galt er lange als unantastbar.
Der Mythos der Unfehlbarkeit ging ihm

offenbar selbst zu weit. „Da gibt es diese
Vorstellung der Russen, dass der Zar gut
sei und nur die Bojaren schlecht. Aber ich
kann Ihnen sagen: Wenn etwas im Land
nicht gut läuft, dann ist es die Schuld
von allen.“ Zumindest in Moskau trau-
en sich viele nun tatsächlich,
Putin zu kritisieren. Es gebe
eine allgemeine Anti-Stim-
mung, hat Julius Freytag-Lo-
ringhoven, seit 2012 Leiter der
Friedrich-Naumann-Stiftung in
Russland, festgestellt. Neulich
sei er bei einer Party in einem
Moskauer Hinterhof gewe-
sen, der mit lauter Plastik-
enten geschmückt war, einem
Symbol der Opposition gegen
die Korruption. In Städten wie
Archangelsk oder Jekaterin-
burg protestieren sie gegen
Mülldeponien oder Kirchen-
neubauten. Eine einheitliche
koordinierte Protestbewegung
mit gemeinsamen Zielen in
Russland gibt es jedoch nicht.
Und viele Russen wollen
zwar Veränderung, aber jeder
versteht darunter etwas ande-
res, wie Umfragen des Carne-
gie Moscow Center zeigen.
Nicht notwendigerweise sind
damit Reformen für eine libe-
rale Demokratie gemeint. Die Protes-
te gegen Putins Rentenreform mit der
Anhebung des Pensionsalters zeigen,
dass die Russen manchmal auch das Ver-
nünftige ablehnen. Und trotzdem: Die
russische Zivilgesellschaft wird reifer,
mutiger.

Fehlende Vision
Fest steht: Der „Krim-Konsens“ hat laut
Michail Dmitriew, eines Soziologen und
ehemaligen Vize-Handelsministers, sei-
ne Strahlkraft für viele verloren. Er ver-
öffentlichte eine Untersuchung, die das
schwindende Vertrauen der Russen in
Putin zeigt. „Als wir nach Putins Errun-
genschaften fragten, tauchte die Krim
nur einmal auf. Sie ruft keine

Der mit dem Pferd tanzt Russlands Präsident zeigt seinen
Oberkörper gerne textilfrei, hier beim Reiten in Sibirien

„Ich kann Ihnen sagen, wenn etwas im Land


nicht gut läuft, dann ist es die Schuld von allen“
Wladimir Putin

Silowiki wie Rosneft-Chef Igor Setschin
haben sich in vielen Staatsunternehmen
an die Spitze gesetzt, mittlere Ränge
verdienen Geld mit dem Eintreiben von
Schutzgeldern oder bei feindlichen Fir-
menübernahmen. Nach Angaben der

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