Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

R


ené Streitenbürger spricht jeden
Tag mit Jesus Christus. Wenn er
morgens aufwacht und schlecht
geschlafen hat, sagt er: Ich fühle
mich nicht so gut – schön, dass du für mich
da bist. Wenn er an einer roten Ampel
steht, nutzt er die Zeit, um Jesus zu fragen:
Wie läuft es bei dir im Moment? Für ihn
sei der Herr lebendig, sagt Streitenbürger.
Er redet mit ihm wie mit einem Freund.
Ein Dienstag im Juni, im liturgischen
Kalender der römisch-katholischen Kirche
ist es die siebte Osterwoche. Streitenbür-
ger bereitet eine heilige Messe im Borro-
maeum vor, dem bischöflichen Priesterse-
minar in Münster. Er holt das Schultertuch
für den Pastor aus dem Schrank, füllt einen
Krug mit Wasser und einen zweiten mit
Wein, stellt den Kelch mit den Hostien auf
die Fensterbank.
An diesem Abend hält er die Statio, das
ist die Einleitung vor der Eucharistiefeier,
der Wandlung von Brot in den Leib Christi.
Obwohl er das schon oft gemacht hat, ist
er manchmal noch so aufgeregt, dass er ein
Taschentuch im Ärmel versteckt, mit dem
er sich den Schweiß von der Stirn tupfen
kann. Streitenbürger ist 36, ein Mann mit
Brille und Stoppelbart, drei Jahre lang
muss er seine Eignung noch beweisen, bis
auch er die Stola eines Priesters tragen darf.
Seine Ausbildung endet mit der Weihe.
Sieben Priesterkandidaten betreten den
Gebetsraum, in dem schwarze Hocker und
ein Kerzenständer stehen, als Altar dient
ein Glastisch. Der Gottesdienst beginnt.
Streitenbürger redet über den Apostel
Paulus: »Paulus war Nachstellungen aus-
gesetzt. Das ist topaktuell. Denken wir nur
an das Thema ›Missbrauch durch Priester‹.
Die Leute sehen uns als potenzielle Täter.«
Nicken in der Runde.
»Als zukünftige Priester wissen wir
nicht, was uns im Dienst erwarten wird«,
sagt Strei tenbürger. »Werden es Fesseln
und Drangsale sein?« Er erwähnt zwei
Schulungen, die in dieser Woche auf dem
Plan stehen. In einer geht es um Pornogra-
fie, in der anderen um die Frage: Wie gehe
ich damit um, wenn ich unter Generalver-
dacht stehe?
»Der Herr sei mit euch«, sagt der Pastor.
»Und mit deinem Geiste«, erwidern die
Seminaristen.
In Deutschland leben 23 Millionen Ka-
tholiken, von denen nur noch jeder elfte
sonntags zur Messe geht. Immer weniger
Menschen glauben an Gott. Immer mehr
wenden sich von der katholischen Kirche
ab, weil sie Abtreibung für Mord hält und
praktizierte Homosexualität verurteilt.
Viele treten aus, weil Geistliche sich tau-
sendfach an Kindern vergangen haben und
die Kirche diese Straftaten vertuscht, Op-
fer ignoriert und Täter gedeckt hat.
Aber die katholische Kirche verliert
nicht nur Gläubige. Ihr fehlen auch Priester.


1962 haben die Bischöfe noch 557 Männer
geweiht, vergangenes Jahr waren es 60.
Die Nachfrage ist groß, das Angebot
klein. 2018 traten 70 Priesterkandidaten
einem Seminar bei, so wenige wie noch
nie, und erfahrungsgemäß hält nur rund
die Hälfte bis zum Schluss durch. Im Bor-
romaeum versammeln sich 21 Aspiranten
aus den Diözesen Münster, Essen, Osna-
brück und Aachen. Das Haus hat 110 Zim-
mer, die früher alle mal belegt waren.
Wer widmet sein Leben heute noch
Gott und der katholischen Kirche? Wer
entscheidet sich als junger Mann dafür,
zöli batär zu leben, ohne Frau und ohne
Kinder, um die »Frohe Botschaft« zu ver-
künden? Und warum?
Der Leiter des Priesterseminars, der
Regens, wollte nicht, dass man nur über
einen einzigen Anwärter schreibt. Nicht
jeder Kandidat war allerdings bereit, über
sein Leben zu erzählen. Vier von ihnen
ließen sich am Ende begleiten.
Das Borromaeum, 1854 gegründet, liegt
in Münster gegenüber vom Dom, am Ende
einer Stichstraße. Ein vierstöckiger Bau
aus rotem Backstein, unter dem Giebel
eine Figur der Unbefleckten Jungfrau.
Drinnen ein offenes Treppenhaus, lange
Gänge, auf denen niemand zu sehen ist,

gefliester Boden, weiße Wände, Stille. Auf
den ersten Blick ein Geisterhaus, mit drei
Gebetsräumen und zwei Kapellen.
Über die Flure schleichen schließlich jun-
ge Männer, manche tragen gebügelte Hem-
den und Stoffhosen, andere T-Shirts und
Sandalen. Da ist der Priesterkandidat mit
dem gezwirbelten Schnauzer, der eigentlich
Lehrer werden wollte. Ein ehemaliger Nach-
wuchspolitiker der SPD. Der Rheinländer,
der dachte, er würde heiraten und Kinder
haben. Der Immobilienkaufmann, der auf
keinem Foto für diese Geschichte zu sehen
sein will. Wie in jeder Gemeinschaft gibt es
Streber, Angepasste und Aufsässige.
René Streitenbürger, der sich vorstellen
kann, Bischof zu werden, wohnt in Zimmer


  1. Jan Sienert, Zimmer 245, hatte noch
    nie eine Freundin. Lukas Mey, Zimmer 235,
    hätte kein Problem damit, wenn auch Frau-
    en das Priesteramt ausüben dürften. Maxi -
    milian Heuvelmann, Zimmer 341, rät,
    »Überwachen und Strafen« von Michel
    Foucault zu lesen, bevor man ihn zum Ge-
    spräch trifft. Foucault erklärt darin, wie die
    Macht das Individuum drangsaliert.
    Ihre Zimmer sind etwa 13 Quadratmeter
    groß, darin ein Schreibtisch, Ausziehbett,


Schrank, Regal. 240 Euro Miete im Monat,
Verpflegung mit Ausnahme des Frühstücks
inklusive.
Bei René Streitenbürger stehen die Bü-
cher auf Kante, nichts liegt einfach herum
wie in einer normalen Studentenbude. An
einer Wand hängen zwei Bilder, die seine
Großmutter gemalt hat, Acryl auf Lein-
wand, sie zeigen die Gottesmutter und den
brennenden Dornbusch. Streitenbürgers
Großmutter hat ihn mit in den Gottes-
dienst genommen, als er klein war. Seit
Herbst 2013 ist er Seminarist.
Die Ausbildung zum Priester dauert in
der Regel acht Jahre. Die Kandidaten stu-
dieren katholische Theologie an der Uni-
versität und lernen im Seminar, wie man
predigt. Die Tage beginnen früh im Bor-
romaeum. Um 7.30 Uhr sitzt Streitenbür-
ger bei der Kontemplation. »Meine Seele
dürstet nach Gott«, sagt der Pastor und
schlägt an eine Klangschale. Streitenbür-
ger schließt die Augen. Es folgt eine halbe
Stunde Stille. Beim Einatmen denke er »Je-
sus«, beim Ausatmen »Christus«, sagt er
später. Dabei versenke er sich in Gott.
Aufgewachsen ist er in Alsdorf bei
Aachen. Seine Mutter ist Krankenschwester,
der Vater arbeitet bei der Post. Streiten-
bürger spielte Handball, ging auf ein Gym-
nasium des Spiritaner-Ordens und war
Pfadfinder, gründete einen Jugendliturgie-
kreis, saß als Jugendvertreter im Pfarr -
gemeinderat. Als er 17 war, fragte ihn sein
Pfarrer, ob er Priester werden wolle.
Streitenbürger hockt in seinem Zimmer
und sagt: »Damals hat mich die Frage völ-
lig überrascht. Ich bin schon mit einem
Mädchen zusammen gewesen. Der Zölibat
war keine Option.«
Heute fasziniert ihn der Gedanke, zu
leben wie Jesus. Nur ohne Familie könne
er seinen Auftrag als Priester erfüllen, sagt
er. Ihn erstaunt, dass es gesellschaftlich ak-
zeptiert ist, wenn zwei Frauen miteinander
leben und ein Kind adoptieren, der Zölibat
aber kritisiert wird.
Streitenbürger studierte Politik, Sozio -
logie und Wirtschaftsgeschichte und jobbte
nebenher bei einer Zeitung, einer Fahrschu-
le, in einem Freizeitpark. Er zog in eine
WG, seine Mitbewohner kifften und feier-
ten. Streitenbürger besuchte nun öfter den
Gottesdienst.
2012 ging er für drei Tage ins Kloster
und schrieb eine Selbstbetrachtung. Ir-
gendwann rief er seinen Pfarrer an und
sagte: Jetzt mache ich das.
Wer Priester werden will, muss dem Lei-
ter des Seminars, das für sein Bistum zu-
ständig ist, zwei Lebensläufe schicken: einen
tabellarischen und einen handgeschriebe-
nen, ausformulierten. Außerdem ein Moti-
vationsschreiben, ein Empfehlungsschrei-
ben und ein erweitertes Führungszeugnis.
Im Borromaeum hat der Bewerber drei
Vorstellungsgespräche – mit dem Regens,

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 47


Wie in jeder
Gemeinschaft gibt es
Streber, Angepasste
und Aufsässige.
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