Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1

erklärt das Phänomen der indirekten Trau-
matisierung. Die Seminaristen, der Regens
und sie selbst sind sekundäre Opfer, soll
das heißen, die auch mit Scham, Isolation
und Vertrauensverlust zu kämpfen haben.
Sie sollten diese Gefühle nicht wegschieben,
sagt sie, sondern mitnehmen ins Gebet.
Am nächsten Morgen trifft sich die
Gruppe erneut. Diesmal will Schwester
Karolin über Pornografie sprechen. Es ist
ein vertraulicher Termin, selbst der Regens
muss draußen bleiben.
Worüber sie geredet haben? Beim Mit-
tagessen blättert Jan Sienert in seinen No-
tizen und sagt, Schwester Karolin habe von
einer Sexseite im Netz erzählt, die am Tag
gut 80 Millionen Menschen aufriefen.
Wie heißt die Seite?
Sienert sucht in seinen Unterlagen.
»Pornhub«, sagt er. Den Namen spricht er
deutsch aus, offenbar hat er noch nie da-
von gehört.
Schwester Karolin wollte nicht wissen,
ob die Priesteranwärter Pornos guckten. Sie
wollte klarmachen, was Pornografie in ih-
rem Kopf anrichten könne. Dass Pornogra-
fie abhängig machen könne wie Kokain. Sie
verteilte Erfahrungsberichte von Priestern,
die süchtig waren nach Pornografie.
Als sich Jan Sienert vom Dessert einen
Nachschlag nimmt, sagt ein Tischnachbar:
»Dass du mir davon nicht süchtig wirst.«
Der Katechismus zählt Pornografie zu
den Sünden, die gegen die Keuschheit ver-
stoßen. Die kirchenamtliche Lehre verbie-
tet auch Masturbation.
René Streitenbürger meint, dass man
Selbstbefriedigung mit seinem Gewissen
vereinbaren kann.
Jan Sienert will dazu nichts sagen.
Lukas Mey findet, um den Zölibat leben
zu können, sei der bewusste Umgang mit
dem eigenen Körper maßgeblich.


Maximilian Heuvelmann liest aus einer
psychologischen Studie mit dem Titel »Se-
xualität und Zölibat« vor: »Unter norma-
len Umständen kann die Masturbation
ganz einfach eine natürliche, gesunde,
selbstlose Handlung sein, die in allen Le-
benslagen als Teil des Wachstumsprozes-
ses, der Selbstfindung und normaler Sexual -
funktion erwartet werden muss.«
An einem warmen Nachmittag sitzen
René Streitenbürger und Maximilian Heu-
velmann in einem Arbeitszimmer des
Borromaeums, vor ihnen liegt der Erste
Petrusbrief, den sie vom Altgriechischen
ins Deutsche übersetzt haben. Auf dem
Tisch stehen Kaffee und Cola. Sie bereiten
sich auf eine mündliche Prüfung an der
Uni vor. Streitenbürger tippt in sein iPad,
Heuvelmann arbeitet mit Stift auf Papier.
Von jedem Buch, das er liest, schreibt er
eine kurze Zusammenfassung in ein Heft,
das er sein »Denkarium« nennt. Sein be-
vorzugter Platz im Haus ist die Bibliothek.
Heuvelmann ist 26 Jahre alt und kommt
aus Emmerich am Rhein, ein schlauer
Mensch, der den tschechischen Religions-
philosophen Tomáš Halík verehrt.
In seinem Zimmer hängen Fotos dreier
Päpste: Johannes Paul II. mit schmerzver-
zerrtem Gesicht, Benedikt XVI. mit einem
Buch, ein Selfie mit Franziskus.
Im September ist es fünf Jahre her, dass
Heuvelmann ins Borromaeum gezogen ist.
Das Haus vergleicht er mit einem Elfen-
beinturm, die Zimmer mit Zellen. Er sitzt
am Schreibtisch und zitiert frei nach Fou-
cault: »Der Insasse ist nie Subjekt der
Kommunikation, sondern immer Objekt
der Information.«
Er meint, im Priesterseminar werde ver-
sucht, die Kandidaten gleichzuschalten.
Heuvelmann spricht von »Normierung«.
Das ständige gemeinsame Mittagessen

50 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019

Gesellschaft

Blick vom Borromaeum auf den Dom in Münster: »Überwachen und Strafen«

nervt ihn. Neben Theologie würde er gern
ein zweites Fach studieren, aber das sei
nicht erwünscht.
Der Regens sei ein zugänglicher Mann,
sagt er, dem er permanent Auskunft über
sich gebe, ob er wolle oder nicht. Lacht er
beim Mittagessen laut oder leise? Hat er
tagsüber die Gardinen vors Fenster gezo-
gen? Heuvelmann fühlt sich kontrolliert.
»Wir schwimmen viel zu sehr in unserer
eigenen Suppe«, sagt er. »Wir müssen
raus! Raus zu den Leuten!«
Heuvelmann hat schon mal daran ge-
dacht, das Haus zu verlassen. Als er ver-
liebt war. Als ihn jemand als »Kinderficker«
beschimpfte. Er blieb, weil er den Zölibat
als Wunde betrachtet, die aufreißen kann,
aber auch wieder verheilt. Er blieb, weil
er glaubt, in der Kirche nur etwas bewegen
zu können, wenn er Teil von ihr ist.
Maximilian Heuvelmann ist auf dem
rechten Auge fast blind. Als er 13 war,
diagnostizierten die Ärzte einen Tumor in
der Augenhöhle. Vier Jahre später ent-
deckten sie eine walnussgroße Geschwulst
am Schläfenlappen. Er lag in der Berliner
Charité, am Tag vor der Operation kam
ein Pastor an sein Bett, Heuvelmann
sprach mit ihm über seine Beerdigung. Er
schrieb Abschiedsbriefe an seine Eltern,
seine Schwester, seinen Bruder. »Ich habe
noch nie so ruhig geschlafen wie in der
folgenden Nacht.«
Durch seine Krankengeschichte ist er
auf die Idee gekommen, Priester zu wer-
den. In der Kirche durfte er Messdiener
sein, mit 16 begleitete er seinen Pfarrer
nach Afrika, und im selben Jahr sah er in
Münster bei einer Priesterweihe zu.
»Ein paar Wochen später bemerkte ich,
dass ich unruhig wurde. Die Unruhe ging
wieder. Kam. Ging. Kam. Ich realisierte:
Da klopft einer an.«
Heuvelmann will als Priester ein Leben
führen »ohne Netflix und dicken Audi«,
an einem Ort, an dem er die Leute irritiert
und die Leute ihn irritieren. Er wolle an
Grenzen und Kreuzungen zu Hause sein,
»als Vagabund der Sehnsucht«.
Ein Donnerstag im Juni, 22 Uhr, die Se-
minaristen feiern das Nachtgebet. Sie sit-
zen verstreut in den Bänken der Kapelle.
Jan Sienert kniet im Kerzenschein vor
der Monstranz und schwenkt ein Weih-
rauchfass. Es folgen Schuldbekenntnis,
Vergebungsbitte, Hymnus. Lukas Mey
singt mit der Schola die letzten Worte Jesu
am Kreuz: »In deine Hände, Vater, lege
ich meinen Geist.« Der Pastor spricht die
Oration. Maximilian Heuvelmann faltet
die Hände zum Gebet. Dann wenden sich
die Männer einer Marienstatue zu, ge-
meinsam singen sie: »Regina caeli, laetare,
alleluia ...« Ihre Stimmen hallen in der
Kapelle wider. Ein Klang von unvergäng-
licher Schönheit.
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