Der Spiegel - 17.08.2019

(singke) #1
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I


ch glaube, die meisten Menschen wissen ganz genau, wo
sie eigentlich herkommen. Vom Herzen her. Ich zum Bei-
spiel bin Russe. Mein Russisch ist etwas eingerostet, aber
die Seele funktioniert einwandfrei. Mir war also klar, welche
Ergebnisse der Gentest bringen würde, den ich im Mai bei
»MyHeritage« in Auftrag gegeben hatte.
Ich erledigte das im Foyer des Pressezentrums vom Euro-
vision Song Contest, der in diesem Jahr in Tel Aviv stattge-
funden hat. Dort befand sich, noch vor dem Akkreditierungs-
tischchen für die internationalen Medien, ein Stand der
israelischen Firma, die unser Erbgut untersucht. Auf Werbe -
tafeln konnte man sehen, dass die letztjährige ESC-Siegerin
Netta, aber auch Céline Dion, Madonna und Abba Kunden
bei MyHeritage waren. Der Test war kostenlos. Meine Frau
und ich machten sofort mit. Ein freundlicher junger Mann
entnahm ein paar Speichel -
proben, versiegelte sie und
schickte sie ins Weltlabor. In
etwa sechs Wochen könnten
wir mit einer Antwort rech-
nen, sagte er. Wir nickten und
sahen uns die Gesangsprobe
der armenischen Kandidatin
an und dann die der irischen.
Die Lieder klangen sehr ähn-
lich. Der Eurovision Song
Contest dient dazu, unser Ge-
fühl als Weltbürger zu stärken.
Wir sind Teil einer großen
Familie, wir halten uns alle an
den Händen. Wir singen die-
selben Lieder, während im
Hintergrund ein Feuerwerk
abbrennt.
Auch die Firma MyHeri -
tage hilft beim großen Fami -
liengesang der Erdbevölke-
rung. Der geheime Wunsch von uns Erbgutsuchern besteht
darin, unserer kleinen Welt zu entfliehen. Den Soul zu spüren
und den Blues, unsere Temperamente zu verstehen, die Haut-
farbe zu wechseln. Selbst Abba kann sich so wahrscheinlich
noch besser kennenlernen. Agnetha, Benny, Björn und Anni-
Frid haben in ihren Tests womöglich erfahren, dass sie gar
nicht aus dem kalten Schweden stammen, sondern aus dem
Süden der Welt.
Can you hear the drums, Fernando?
Ich nahm die kleine Box von MyHeritage mit nach Hause
und wartete auf eine Geschichte, die mich aus der deutschen
Vergangenheit führte. Wenn man den Deckel hob, spielte sie
die Eurovisions-Hymne. Die Spieldose des Schicksals.
Meine Frau bekam ihre Werte ein paar Wochen vor mir.
Sie stammt zu mehr als 40 Prozent aus Osteuropa. Mein
Blut würde diesen Familientrend später verstärken, dachte
ich. Meine Frau heißt Anja, ich heiße Alexander. Wie die Figu -
ren aus einem Tschechow-Stück leben wir ein reiches Leben,
sehen aber am Horizont ein Unwetter aufziehen. Unsere Er-
fahrung ist: Kein Reich steht für immer. Wir hören, wie Abbas
Fernando, die Trommeln in der Ferne.


Ich wurde in Berlin geboren, meine Eltern sind Deutsche.
Mein Urgroßvater mütterlicherseits aber war ein aufständischer
russischer Arbeiter, der von Zarenhäschern bestialisch ermor-
det worden ist. Sie schlugen ihn tot und ließen ihn in seinem
Blut auf der Straße liegen. Meine Großmutter war zwei Jahre
alt, als das passierte. Vor ein paar Jahren besuchte ich ihre Ge-
burtsstadt. Ich stand an der Stelle, wo vor mehr als hundert
Jahren mein revolutionärer Urgroßvater gestorben ist. Es gibt
eine Straße, die nach ihm benannt ist. Sein Blut war versickert,
aber ich spürte seinen Auftrag. Ich fuhr nach Hause und begann,
ein Buch zu schreiben, das die dunklen Ströme auslotet, die
unter meinem Leben fließen. Eine Reise zu den Dämonen mei-
nes Geschlechts. Ich wollte wissen, warum ich nicht glücklich
werden kann, warum ich ständig wegrenne. Vier Jahre lang
habe ich geschrieben. Der Roman ist über 600 Seiten dick ge-
worden. Ein Ziegelstein. Ein Buch, das mich mit meinen russi-
schen Ursprüngen verbinden würde. Es ist gedruckt. Mein Ver-
lag schickt es gerade mit der Post nach Tel Aviv.
Bevor das Buch hier eintraf, erreichten mich die Resultate
von MyHeritage.
Ich öffnete die Datei. Ich schaute gleich nach rechts, dort
wo Russland liegt. Aber da war nichts. Gar nichts. Meine
Herkunftswolken ballten sich in der Mitte Europas. Es gab
eine kleine Wolke über dem Balkan, die mein Temperament
im Straßenverkehr und auf
dem Fußballplatz erklären
könnte, das große Gewitter al-
lerdings fand im Westen statt.
Über der alten Bundesrepu-
blik. Und über Frankreich.
Die väterliche Hälfte mei-
ner Familie soll von Hugenot-
ten abstammen, heißt es. Sie
bauten eine Kartonagenfabrik
in Berlin-Charlottenburg. Ich
habe noch eine Karte vom
Neujahrsempfang 1905, zu
dem mein deutscher Urgroß-
vater einlud, etwa zu der Zeit,
als mein russischer Urgroß -
vater 2500 Kilometer weiter
östlich ermordet wurde. Die
Kartonagenfabrik Osang ging
in den Zwanzigerjahren pleite.
Die Familie zog auf ihren Som-
merlandsitz am Stadtrand von
Dresden. Ein riesiges Grundstück mit Park, Stallungen, einer
langen, geschwungenen Kieseinfahrt und einem kleinen ver-
schossenen Schlösschen mit Erkern und Türmchen, am höchs-
ten stand »Osangs Eck«. Der Krieg und die deutsche Teilung
zerstreuten die Familie. Mein Großvater brachte das An -
wesen durch die Ostzeit. Er starb ein paar Jahre vorm Mau-
erfall. Meine Tante hielt den Laden zusammen, so lange, bis
die vielköpfige Westverwandtschaft erschien und das Grund-
stück verscherbelte. Meine Tante musste gehen, sie zog in
eine Einzimmerwohnung neben dem Friedhof, auf dem die
Hugenotten liegen. Das würde die dunkle Wolke über Frank-
reich erklären, aber nicht meine russische Seele.
Ich sah auf meine genetische Weltkarte. So muss man sich
fühlen, wenn man als Erwachsener seine Adoptionsurkunde
findet. Der Junge ist dann doch nur ein Deutscher. Ich dachte
kurz an den deutschen Schlagerrussen Ivan Rebroff, der eigent-
lich Hans Rolf Rippert hieß und aus Berlin-Spandau stammte.
Meine Frau sagt, die Erbgutforscher sind wahrscheinlich
noch nicht weit genug in den Osten vorgedrungen. Mit an-
deren Worten: Ich bin zu russisch für MyHeritage. Viel zu
russisch. Das könnte ich mir vorstellen.

Russisch Roulette


LeitkulturWarum Alexander Osang von dem
Ergebnis seines Gentests enttäuscht ist

Reporter Osang auf dem Roten Platz in Moskau
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