Der Tagesspiegel - 18.08.2019

(Axel Boer) #1

BERLIN, SONNTAG, 18. AUGUST 2019 / 75. JAHRGANG / NR. 23 918 WWW.TAGESSPIEGEL.DE BERLIN / BRANDENBURG 2,50 €, AUSWÄRTS 3,30 €, AUSLAND 3,50 €


A


bleger. Mit dem Wort bezeichne-
ten manche Leute in lockerem Ton
ihre Kinder, damals in den 1970er,
1980er Jahren. Ableger, Kurze, Zwerge.
Man wollte nicht sentimental sein. Able-
ger, ein Begriff aus der Pflanzenwelt,
passt zur Fortpflanzung. Betont wird die
Abstammung, Stamm und Zweige: das ei-
geneKind, alseinStückvon mir,derMut-
ter, uns, den Eltern.
Während es auf weiten Teilen der Süd-
halbkugel sehr viele eigene Kinder gibt,
werden sie auf der Nordhalbkugel oft zu
Raritäten. Immer ältere Menschen wol-
lennochEltern werden,Karriere- undFa-
milienplanungen ziehen sich hin, gleich-
geschlechtliche Paare und Alleinste-
hende begehren Nachwuchs. Oft könnte
nur die Reproduktionsmedizin helfen,
die erhofften Ableger anzusetzen – Spen-
den von Eizellen und Samen, Implantie-
ren von Embryos in Leihmütter.
Zumindest an der FDP soll der Fort-
schritt des Fortpflanzens nicht scheitern.
Sie regt an, dass das alles neu reguliert
werden könnte, moderner, freier, flexib-
ler, wie etwa in Dänemark, Israel oder Ja-
pan schon üblich. Kassen sollen mehr
Kinderwunschbehandlungen erstatten,
das Abstammungs- und Adoptionsrecht
müsse der gesellschaftlichen Realität ge-
recht werden, Elternschaft für ein Kind
solle auf bis zu vier Personen ausgedehnt
werden können. Ethiker aller Couleur
runzeln die Stirn: Egoismus! Wider die
Natur! Sich ein „Kind anschaffen“, wie es
im Kapitalismus treffend heißt, egal wie?
Doch längst entstehen Kinder auch in
Deutschland ganz unterschiedlich und
wachsen in Patchwork-Konstellationen
auf. Für schwule Paare trägt eine Freun-
din ein Kind aus, lesbische Paare nutzen
Samenbanken in Dänemark, im Internet
bieten Samenspender ihre Dienste an.
Nochverbietet dasdeutscheEmbryonen-
schutzgesetz die Leihmutterschaft.
Schwangerschaft soll nicht kommerziali-
siert, ein Embryo nicht zur Ware werden.
Nach dem vorliegenden FDP-Konzept
soll die Leihmutterschaft zwar legal, aber
keineswegs käuflich sein, wie es im Aus-
land teils der Fall ist, wenn arme Frauen
den Nachwuchs reicher Frauen austra-
gen. Ethische Gefahren und unabsehbare
Rechtsfolgen birgt aber auch das legale
Szenario.
Kinder dienen vielen Zwecken. Eines
der ältesten Motive ist die Alterssiche-
rung,undwoSozialstaatenfehlenoderde-
fizitär sind, bleibt das Motiv stark. In mo-
dernen Gesellschaften können Kinder
auch Prestigeobjekte sein. Mitunter die-
nen sie als Leim, um brüchige Partner-
schaften zusammenzuhalten, als Blitzab-
leiter und Sündenböcke, als Objekte zum
BefriedigenvonMachtwünschenoderals
lebendeKuscheltiere vonErwachsenen.
Ganz gleich, wie sie zustande kom-
men, aus welchen Motiven heraus, mit
wie viel Liebe und in welchen Milieus –
relevant scheint in jedem Fall ein frischer
Blick auf Artikel 6 der Verfassung. Da-
nach wird das elterliche Recht am Kind,
das Erziehungsrecht, durch das „Wäch-
teramt des Staates“ begrenzt.
Bei Adoptionen nimmt der Staat das
enorm genau. Mütter und Väter werden
akribisch auf ihre Befähigung geprüft,
ehe sie einen minderjährigen Menschen
an Kindes statt annehmen dürfen. Wa-
rum, so lässt sich fragen, gilt solche Sorg-
falt nicht überall? Warum bietet der Staat
nicht zumindest einen „Elternführer-
schein“ an, Rat und Information über
kindliche Bedürfnisse und Entwicklung –
für alle, die ein Kind „ihr Eigen“ nennen
wollen?

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BUNDESLIGA


WETTER ........................................... 2
Der Sonntag bleibt meist bewölkt,
die Sonne scheint selten.
Gebietsweise gibt es auch
Schauer und Gewitter.
Schwacher bis mäßiger Südwestwind.

Berlin- CDU-Chefin Annegret Kramp-
KarrenbauerhältdieParteimitgliedschaft
desfrüherenVerfassungsschutzpräsiden-
ten Hans-Georg Maaßen für problema-
tisch.Siebezweifeltoffenbar,dassernoch
in die CDU gehört. Ein Parteiausschluss-
verfahren fordert sie allerdings nicht, wie
sie am Samstag in Berlin betonte. Kramp-
Karrenbauer hatte der Funke-Medien-
gruppeaufdieFrage,obsieübereinenPar-
teiausschluss nachdenke, gesagt: „Es gibt
ausgutemGrundhoheHürden,jemanden
aus einer Partei auszuschließen. Aber ich
sehebeiHerrnMaaßenkeineHaltung,die
ihn mit der CDU noch wirklich verbin-
det.“ Die Partei werde„von einer gemein-


samen bürgerlich-konservativen Haltung
getragen“. Mit Blick auf Maaßen fügte sie
hinzu: „Eine Politik unter dem Deckman-
tel der CDU zu machen, die den politi-
schenGegnervorallemindeneigenenRei-
hen sieht, wird dieser Haltung nicht ge-
recht.“ Sie ergänzte, es müsse klar sein,
„dass nicht versucht wird, eine Partei
grundlegend zu verändern“.
Der Ex-Geheimdienstchef ist in der
Werte-Union aktiv, einer Gruppierung
vonäußerstkonservativenCDU-Mitglie-
dern, die jedoch keine offizielle Gliede-
rung der Partei ist. Maaßen ist derzeit im
OstenindenLandtagswahlkämpfenunter-
wegs, nicht zuletzt in Sachsen hat er Auf-
tritte, zu denen sich offenbar auch gern
AfD-Anhängereinfinden.

KonservativeCDU-Politikerreagierten
mit Kritik an der Parteichefin. „Ich sehe
bei Maaßen kein parteischädigendes Ver-
halten“,sagteWolfgangBosbach,ehemali-
gerVizechefderBundestagsfraktion,dem
Tagesspiegel.Bosbachbetonte,dieFlücht-
lingspolitik von Bundeskanzlerin Angela
Merkel 2015 „ist nicht nur von Maaßen
kritisiert worden“. Sollte Kramp-Karren-
bauer erwägen, ein Ausschlussverfahren

gegenMaaßeneinzuleiten,seinichtzuer-
warten, „dass die hohen rechtlichen Hür-
den überwunden werden“. Bosbach ver-
mutet, Kramp-Karrenbauers Äußerun-
gen dürften sogar dazu beitragen, „dass
dieVeranstaltungenmitMaaßennochbes-
serbesuchtwerden“.
SylviaPantel, Sprecherinder konserva-
tiven Gruppierung „Berliner Kreis“, be-
fürchtet, dass Kramp-Karrenbauers Vor-
stoßderAfDkurzvordenWahleninBran-
denburg, Sachsen und Thüringen nützt.
Die Äußerungen der Parteichefin „sind
keine Wahlkampfhilfe“, sagte sie dem Ta-
gesspiegel.
DerCDU-Innenpolitiker ArminSchus-
ter wertet die Äußerungen Kramp-Kar-
renbauers als „Schuss vor den Bug“ von

Maaßen. Die Parteichefin habe keinen
Parteiausschluss vorgeschlagen, sagte
Schuster, „und das hielte ich momentan
auch nicht für nötig“. Sachsens Minister-
präsident Michael Kretschmer sagte
„Bild am Sonntag“, trotz „berechtigter
Kritik“ an Maaßen schließe die CDU nie-
manden aus, „nur weil er unbequem ist“.
Maaßen warf Kramp-Karrenbauer vor,
ihre Äußerung „schadet der CDU mas-
siv“. Sie werde dem politischen Gegner
massiv Mitglieder und Stimmen in die
Arme treiben, sagte er der Nachrichten-
agentur AFP. Den Vorwurf, dass ihn mit
der CDU nichts mehr wirklich verbinde,
wies Maaßen zurück.

— Meinungsseite

E


ine freundliche Leserin hat mich
gebeten, nicht so oft die SPD zu
kritisieren, sondern öfter mal
zum Beispiel die CDU. Die Grünen
kritisiere ich ja oft genug. Was die
AfD betrifft, habe ich gelesen, dass
man mit ihr keinen Dialog führen soll,
und weil Kritik in meinen Augen eine
Form des Dialogs ist, scheidet das
auch aus. Nun habe ich von der origi-
nellen Idee erfahren, das Berliner Müll-
problem zu lindern, indem Touristen
einen Teil des Mülls wegräumen. Ich
würde gern schreiben, dass es sich um
eine Idee der CDU handelt. Leider
kriege ich dann Ärger, die CDU würde
mir mächtig einheizen, zu Recht. Um
mein Versprechen nicht zu brechen,
verrate ich nicht, aus welchen Par-
teien die Idee stammt.
Federführend ist der Bezirk Pankow.
Die Touristen, dies sei betont, sollen
freiwillig mitmachen, das ist schon mal
viel wert. Gesäubert werden erst mal
der Mauerpark und der Ernst-Thäl-
mann-Park. Die meisten Touristen inte-
ressieren sich für die Berliner Mauer,
undwennsiedann sehen, dass derMau-
erpark nur ein Park ist, können sie nicht
mehr zurück. Hinterher kriegen sie
„eine Anerkennung“ – womöglich die
Ernst-Thälmann-Medaille mit Eichen-
laub und Pizzaresten.

Die Managerin Lisa John, die das
Evententmüllen organisiert, betont laut
RBB „das Erlebnis, sich als Teil der
Stadt fühlen zu können“, wenn man
Bierflaschenund fettige Dönerreste ein-
sammelt. Dies ist zweifellos richtig.
Müllmäßig ist Berlin vielerorts Haiti.
Andere Befürworter derAktionverwen-
dendie Trendwörter„nachhaltig“, „sen-

sibilisieren“ und „Spaß“. Letzterer
stelle sich beim gegenseitigen Kennen-
lernen von Einheimischen und Touris-
ten ein. Da bin ich nicht so sicher.
In der Regel macht das Einsammeln
vonMüll nichtunbedingt Spaß.Die Tou-
risten kehren dann von ihrem Drei-
Tage-TripnachNew York oderTokiozu-
rück und auf die Frage, was sie gesehen
haben, antworten sie: „Da in Berlin gibt
es unglaublich viel fettiges Papier, aber
die Leute haben eine Menge Spaß da-
mit. Ich war Teil davon.“ Vielleicht
könnte man Touristen auch als Lehrer
einsetzen,zum Beispielin Englisch, Sen-
sibilität und Erdkunde. Touristen mit
technischer Begabung würde ich an der
BER-Baustelle einsetzen.
Solche Müllsammel-Aktionen gibt es
auchinBarcelona.Zufälligwarich kürz-
lich in Barcelona. Das Müllproblem
dort ist mit den Berliner Dimensionen
nicht zu vergleichen. Geben die mehr
Geld für die Müllabfuhr aus oder sind
dort die Touristen fleißiger? Da tippe
ich auf Ersteres.
Berlintouristen machen viel Müll,das
stimmt. Aber im Gegensatz zu den
Dealern lassen sie Geld hier. Die Stadt
nimmt das Geld, den Müll räumt sie lei-
der nicht so weg, wie es nötig wäre. In
derBerlinerPolitik sindnämlich fürPro-
bleme meistens die anderen zuständig.

ISSN 1865-

Kinderwunsch


CDINDEX


SONNTAG


Borussia Dortmund – FC Augsburg 5:
Bayer Leverkusen – SC Paderborn 3:
VfL Wolfsburg – 1. FC Köln 2:
Werder Bremen – Fortuna Düsseldorf 1:
SC Freiburg – FSV Mainz 05 3:
Mönchengladbach – Schalke 04 0:

Jenseits der


Fortpflanzung


Pizzarest


am


Eichenlaub


Von Harald Martenstein

CD SONNTAG


Willkommen, Kirill Petrenko!
Am Freitag beginnt der russische Chefdirigent bei den
Berliner Philharmonikern. Am Tag danach gibt er ein
Gratiskonzert am Brandenburger Tor –Seiten 28 und 29

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Flammender Streit:


Der Wiederaufbau von Notre-Dame


entzweit Frankreich – Seiten 4 und 5


Von Caroline Fetscher

CDU-Chefin sieht Maaßen als Problem


Kramp-Karrenbauer: Nichts verbindet ihn mehr mit der Partei / Konservative Unions-Politiker widersprechen ihr


Istanbul- Viele Anwälte in der Türkei
wollen Einladungen des Obersten Beru-
fungsgerichts für einen Empfang boykot-
tieren. 16 Anwaltskammern, die 75 Pro-
zent der Anwälte repräsentieren, kritisie-
rendenMangelanUnabhängigkeitderJus-
tiz.Am2.SeptemberwilldasGericht den
BeginndesneuenGerichtsjahresimPräsi-
dentenpalast in Ankara feiern. „In der
Rede, die Sie halten werden, werden Sie
wahrscheinlich überUnabhängigkeit und
Unparteilichkeit der Justiz sprechen“,
schrieb die Anwaltskammer Izmir: „Ob-
wohl Sie wissen, dass Tausende Men-
schen,diefürRechtekämpfen,imGefäng-
nis sitzen, werden Sie über persönliche
Freiheit und Sicherheit, Meinungsfrei-
heit,dasRechtauffaireProzesseundPres-
sefreiheit sprechen“. Seit dem Putschver-
such 2016 wurden mehr als 100000
StaatsbediensteteentlassenundZehntau-
sende verhaftet, darunter viele Anwälte
undRichter.PräsidentRecepTayyipErdo-
gan ließ auch mehr als 100 Medien und
Verlage schließen. dpa

Fotos: Rei Gesing/Promo, Panoramic/Imago

Foto: Wilfried Hösl/AFP

Der neue


Maestro


Weisheit des Alters:


Hundertjährige geben Tipps


für ein gutes Leben – Seite 9


Türkische Anwälte


protestieren


gegen Erdogan


Fremd gewordene Heimat:
Der Soziologe Steffen Mau, der nach Ost-
deutschland zurückkehrte, spricht über
nervige Demokratie und naive Politik

Von Albert Funk und Frank Jansen

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