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undertachtzig Jahre literarische
Leidenschaft! Aber verteilt auf
zwei Leben. Vergangenen Monat
hat Katharina Wagenbach-Wolff ihren
- Geburtstag gefeiert. Und das nämli-
che Jubiläum steht im November Hans
Magnus Enzensberger bevor.
So ist es wie ein hübscher Zufall: dass
in der einst von Katharina Wagenbachs
Vater Andreas Wolff gegründeten und
von ihr selbst bis 2017 fast dreieinhalb
Jahrzehnte geleiteten Friedenauer Presse
in Berlin jetzt auch ein Enzensber-
ger-Büchlein erschienen ist. Eigentlich
beruht die kleine Broschur in der ge-
wohnt schönen Friedenauer Fadenhef-
tung auf zwei kurzen Essays von Denis
Diderot. Aber dessen „Gründe, meinem
alten Hausrock nachzutrauern“ sowie
den zweiten Text „Über Frauen“ hat En-
zensberger in sein anmutiges Deutsch ge-
bracht (31 Seiten, 14 €).
Die Übertragungen stammen schon
vom Anfang der 1990er Jahre, in denen
der poetisch-essayistische Universalist
HME mitunter zum Spezialisten der fran-
zösischen Aufklärer wurde (bei „Vol-
taires Neffe. Eine Fälschung in Diderots
Manier“ u.ä.). Aber vor allem der Haupt-
text „Über Frauen“ aus dem Jahr 1722
liest sich bis heute oft schlagend modern
und letztlich auch wie eine subtile Hom-
mage an diegroßeKleinverlegerin Katha-
rina Wagenbach-Wolff. Das gilt ungeach-
tet der nicht nur zu Diderots Zeiten ste-
reotypischen Einschätzung weiblicher
Emotionalität (tiefer als bei Männern, in-
des zur Hysterie neigend...).
Hintersolcherleimännlichen Vorurtei-
len enthüllt sich nämlich auch Diderots
menschliche Frauenkenntnis. Mit kriti-
schen Beobachtungenzur anti-emanzipa-
tiven Erziehung, zur patriarchalischen
Ehe oder gar zur Missachtung des weibli-
chen Rechts auf den Orgasmus. Und wer
sonst außer Diderot alias Enzensberger
hätte wohl einen so charmant-graziösen
Satz formuliert: „Wer über Frauen
schreibt, der muss seine Feder in den Re-
genbogen tauchen und den Staub von
Schmetterlingsflügeln über jede Zeile
streuen.“
Meist sind es ja Fundstücke aus dem
FundusfrühererAusgaben,dieinderFrie-
denauerPressewieneueOriginaleausge-
sucht und aufgebunden werden. So etwa
aus verstreuten Übersetzungen der ver-
gangenen 45 Jahre die „Gedichte aus dem
Exil“vonMarinaZwetajewaimBändchen
„Der Drang nach Haus“ (56 Seiten, 14 €).
Die meisten dieser oft erschütternd schö-
nen Texte der Ende August 1941 – nach
Jahren der Emigration (auch in Berlin) –
bei ihrer Rückkehr „nach Haus“ der stali-
nistischen Verfolgung erlegenen großen
russischen Dichterin hat der Lyriker Ri-
chard Pietraß sprachmächtig übersetzt
undmitseinemNachwortversehen.Aber
auch Elke Erb, Sarah Kirsch, Rainer
Kirsch oder Karl Mickel sind hier mit
Übertragungenvertreten.
Also eine schmale, doch starke Antho-
logie. Mit Versen wie denen aus dem
Poem „Für Majakowski“,für denRevoluti-
onsdichter, der bereits elf Jahre vor Ma-
rina Zwetajewa im Selbstmord endete
undden sieauch als „Sowjetwerther“apo-
strophiert: „Ver-
schlissen glänzend
wie Talmi / Im
Marsch über zwan-
zig Jahr / Nahm er
den proletarischen
Sinai, / Auf dem er
Gesetzgeber war.“
Viel Originelles in
den aktuellen neuen
Publikationen der
seit 2017 unter dem
Obdach des Verlags
Matthes & Seitz von Friederike Jacob ge-
leiteten Friedenauer Presse. So gibt es
zum Humboldt-Jubiläum als Besonder-
heit den Prachtband mit Alexander von
Humboldts „Tierleben“: eine Textaus-
wahl von Sarah Bärtschi, mit AvHs wun-
derbaren Zeichnungen von Krokodilen
oder Nachtaffen und Betrachtungen etwa
zum „Aturen-Papagei“ (188 Seiten, 24 €).
Und noch etwas zum Thema Tier und
Mensch: „Es ist schon komisch mit dem
Geld. Was die Menschen von den Tieren
unterscheidet, ist Geld. Alle Tiere haben
die gleichen Gefühle und gleichen Ge-
wohnheiten wie Menschen. Aber was
kein Tier kann, ist zählen, und was kein
Tier kennt, ist Geld.“ Das hat die Avant-
gardistin Gertrude Stein 1936 geschrie-
ben, und man kann es jetzt nachlesen in
der mit Friedrich Mecksepers „Magi-
schen Quadraten“ illustrierten Stein-Bro-
schur, betitelt „Geld“ (23 Seiten, 14 €.).
Peter von Becker
schreibt an dieser
Stelle regelmäßig
über Trouvaillen.
Nächste Woche:
Gregor Dotzauer
über Zeitschriften
und Websites.
FundSTÜCKE
Foto: Mike Wolff
Seine Feder in den
Regenbogen tauchen
Peter von Beckerzu neuen
Entdeckungen der Friedenauer Presse
D
ie erste Strophe beginnt mit Be-
schimpfungen. „Eselshure.
Schlitzi. Nachgeburt der Hölle.“
Eine zunächst namenlose Heldin und
Ich-Erzählerin berichtet, wie sie hinkend
durch ihr Dorf zieht und von gehässigen
Kindern beleidigt und drangsaliert wird.
Die junge Frau scheint vogelfrei zu sein,
überlebt im Grunde nur, weil sie unter
dem Schutz eines „Betvaters“ steht, eines
gütigen Geistlichen, der in einer seltsam
fremden, patriarchal organisierten Dorf-
gemeinschaftKraftseines AmtesRespekt
genießt. Die strengen Regeln der Ge-
meinde sind in dem heiligen Buch Khora-
bel niedergeschrieben, das nicht nur dem
Namen nach eine Mischung aus Koran,
Thora und Bibel darstellt.
Wir befinden uns auf einer von der Zi-
vilisationweitgehendabgeschnittenenIn-
sel, in einer Zeit, die vergangen scheint,
aber doch noch nicht so lange her ist. Der
Roman – das legen Titel und Struktur
nahe – soll ein Klagelied sein, eben ein
Miroloi. Den von Frauen angestimmten
Totengesang gibt es in der griechisch-or-
thodoxen Kirche tatsächlich. Für Karen
Köhler bietet seine traditionelle „Rede
überdas Schicksal“den Rahmenihres ers-
ten Romans. „Miroloi“ ist in 128 Stro-
phen unterteilt, die jeweils auf wenigen
Seiten ein eigenes Thema wie den Opfer-
kult oder die Mühen der Landwirtschaft
behandeln, aber auch die Lebensge-
schichte der Heldin vorantreiben.
Köhler, die viele Jahre als Schauspiele-
rin gearbeitet hatte, als sie Theaterstü-
cke, Drehbücher und Prosa zu schreiben
begann, knüpft mit „Miroloi“ an ihren
vielgelobten Kurzgeschichtenband „Wir
haben Raketen geangelt“ (2014) an. So
ambitioniert die Anlage des Romans auf
den ersten Blick erscheinen mag, das
Buch lebt vor allem von kleinen Szenen,
Beobachtungen und Miniaturen, die sich
mal besser, mal schlechter ins Gesamt-
konzept einfügen.
Zentral für alles, was auf den immerhin
463 Seiten erzählt wird, ist das rabiat-re-
aktionäre Geschlechterverhältnis inner-
halb einer religiösen Gemeinschaft, in
der Glauben schnell in Terror gegenüber
missliebigen Mitgliedern, vor allem
Frauen, umschlagen kann. Erstaunlicher-
weise akzeptieren die meisten Frauen ihr
jämmerliches Schicksal, nur die geschun-
dene Heldin rebelliert, obwohl sie sich
vor den Konsequenzen und dem eigenen
Gewissen fürchtet: „Ich will nur Gutes,
aberes scheint, ob jede meinerBewegun-
gen Schlechtes hervorruft.“
Sie lernt zu lesen (was sonst nur Män-
nern erlaubt ist), sie lernt schwimmen
(was einem Fluchtversuch gleichkommt
und mit dem Schandpfahl bestraft wird),
sie hat außerehelichen Sex mit einem
„Betschüler“ (selbstverständlich eine
Todsünde) – und sie lässt sich von ihrem
AngebeteteneinenNamen geben (einHö-
hepunkt der frevelhaften Emanzipation).
Alina, so heißt sie nun, weiß durchaus,
welchen Gefahren sie sich aussetzt, denn
manhatauch sie schon malin allerÖffent-
lichkeit auf so schlimme Weise mit Schlä-
gen traktiert, dass ihr Bein zertrümmert
wurde. Die Hüter der Khorabel erinnern
ein wenig an die Schergen des IS oder die
Vertreter der Inquisition, und dieser ra-
tionale Irrsinn ist durchaus anschaulich
beschrieben. Alina aber wird nicht aufge-
ben, ihr Freiheitswille und ihr Gerechtig-
keitssinn sind zu groß. Außerdem wird
ihre Lage nach dem Tod des Ziehvaters
immer bedrohlicher. Sie wird sich un-
sichtbar machen müssen, nur eben an-
ders als bisher: „Und ich mach mich weg,
jeden Tag mach ich mich weg.“
Statt sich weiterhin wegzuducken,
muss sie fliehen. Damit ist keineswegs zu
viel verraten, denn Alinas Auf- und Aus-
bruch kommt alles andere als überra-
schend. Wie überhaupt vieles vorherseh-
bar ist. Das liegt vor allem an der Erzähl-
perspektive, die von Beginn an zwischen
krasser Naivität und kurios wortwitzi-
gem Selbstbewusstsein changiert. Der
Text behauptet einen Lernprozess, der
auf sprachlicher Ebene nicht wirklich
stattfindet – in figurenpsychologischer
Hinsichtleider auchnicht.Die Ich-Erzäh-
lerin ist aus durchaus nachvollziehbaren
Gründen vor allem mit sich selbst be-
schäftigt, nur eben ohne sich zu verän-
dern. Selbst interessante Nebenfiguren
werden nur schablonenhaftbeschrieben.
Ein naiv-neugieriger Blick in die Welt
verleitet dazu, alles auszuerzählen, keine
Interpretationsräume zuzulassen. Das en-
det bei Köhler nicht selten im Banalen,
manchmalauchim Kitsch, etwa wennAli-
nas Freundin Sofia im Duktus eines
Mama-Tochter-Gesprächs anschauliche
Aufklärungsarbeit leistet und erklärt, wie
frau sich selbst befriedigt. „Und wenn es
dir gefällt, dann wirst du hier feucht, in
der Tiefe feucht, da, schau, da kannst du
auch mit dem Finger hinein, und dann
wieder über die Knospe reiben. So. Ganz
wie du magst.“ Für wen und welche Al-
tersgruppe sind solche Zeilen geschrie-
ben? Und wie passen sie zur Miroloi-An-
lage? Ein Gesang ist eben kein Roman,
und wenn ständig wiederholt wird, wie
wütend Alina auf das Dorf und seine Ge-
setze ist, mag das in einem liturgischen
Kontext vielleicht einen Sinn ergeben, im
Roman jedoch stellt sich Langweile ein.
Zumal die literarische Ödnis dazu verlei-
tet, weitere Grundsatzfragen zu stellen.
Wie kommt es überhaupt, dass die
Dorfgemeinschaft zwar Kontakt mit
Händlern der Außenwelt pflegt, dass Wa-
ren wie Fernseher und Telefone angebo-
tenundvomDorfvorstand abgelehntwer-
den können, dass aber nie ein Betbruder
sich im Schiff des Händlers versteckt, um
in die schöne neue Welt zu segeln? Oder
eine der unterdrückten Frauen trotz
schlimmsterStrafen dasWeite sucht?Un-
geklärt auch, warum im Gegenzug keine
staatliche Macht die mittelalterlichen
Praktiken auf der Insel unterbindet?
Das ist alles so unwahrscheinlich, und
selbst als literarische Zukunftsvision, die
mitRegressionenindiedüsterste Vergan-
genheit spielt, nicht wirklich plausibel.
So verfehlt die überdeutliche Kritik am
Patriarchatihr Ziel,dennüber die kompli-
zierten Geschlechterverhältnisse unserer
Zeit vermag die allzu simpel gestrickte
Klage über die Barbarei religiöser Fanati-
ker nur wenig auszusagen.
E
in Roman wie eine Güllegrube! Das
wäre ein kraftvoller, aber vermut-
lich nicht sehr zugkräftiger Werbe-
spruch.Aberwarumeigentlichnicht? Kri-
mis und Thriller werden schließlich auch
mit unappetitlich bluttriefenden Slogans
angepriesen. Neulich hieß es über so ein
Machwerk, die Sätze würden mit „der
Wucht einer Pumpgun“ treffen oder gar
wie „eine Kugel durch den Leser hin-
durchfegen“. Nun also: Der Leser von
„Tierreich“ fühlt sich, als würde er mit
der Mistgabel aufgespießt. Oder vom
Vier-Meter-Zuchteber „La Bête“ hinter-
rücks besprungen.
Der vierte Roman des Schriftstellers
Jean-Baptiste Del Amo, 1981 geboren in
Toulouse, ist einer der besten, der in den
letzten Jahren in Frankreich geschrieben
wurde. Er verdient mehr Aufmerksam-
keit als die angesagte Dünnbrettprosa ei-
nes Édouard Louis. Es ist ein düsteres
Epos des französischen Landlebens, das
schafft, was nur beste Literatur kann:
Scheußlichkeit in ein großes Leseerleb-
nis zu verwandeln.
„Tierreich“ erzählt
in vier Teilen von ei-
ner Familie, die sich
aus dem kargen, be-
drückend armseli-
gen Bauernleben um
1900 hocharbeitet
zum mäßigen, einer
Hölle von Gestank,
Dreck und Schufte-
rei abgewonnenen
Wohlstand eines in-
dustriellen Schweinemastbetriebs. Das
Ende auch dieses Familienromans heißt
jedoch Verfall und Untergang. Er kommt
in den achtziger Jahren, mit einem Mahl-
strom von Selbsthass und Krankheit,
Wahn und Fäkalien.
Die junge Éléonore ist die Hauptfigur
der ersten Hälfte. Für die Lieblosigkeit
des Milieus steht ihre Mutter, die bloß
„die Erzeugerin“ genannt wird. Sie
schlägt auf die Hunde ein, wenn sie sich
paaren,bisihnen, groteskineinander ver-
hakt,die Lust vergeht. Umgeben von Vie-
chern, die sich unaufhörlich bespringen,
istdie Sexualitätdennochverpöntbeider
von einem säuerlichen Katholizismus ge-
prägten Familie imfiktiven DorfPuy-Lar-
roque, irgendwo in der Gascogne.
Es gibt allerdings intensive Momente
der Naturverbundenheit fernab von dem
kleinen, schäbigen Bauernhof, auf dem
sich Éléonores Vater zu Tode schuftet.
Etwa wenn das Mädchen die beiden
Schweine des Hofes in den Eichenwald
führt, wo sie sich auf einen Baumstumpf
setzt, den Geruch der Pilze und der mo-
dernden Pflanzen einsaugt und den Tie-
ren zusieht, wie sie sich an Eicheln und
Kastanien laben und mit den Rüsseln den
Boden nach Schnecken durchwühlen.
„Sie liebt die Ruhe des Eichenwaldes, das
Gefühlihrer tiefenEinsamkeit,die Gegen-
wart der Schweine, ihr zufriedenes Grun-
zen, die Schreie und das Flügelrascheln
unsichtbarer Vögel.“Der Romanträgt sei-
nen Titel sehr zu Recht; mit seinem krea-
türlichen Hyperrealismus fasst er alles
scharf ins Auge, was da kreucht und
fleucht und hoppelt.
NichtgleichzufriedenesGrunzen,aber
ein kleines Glück scheint das Leben auch
fürÉléonorebereitzuhalten,alseinjunger
Verwandter auf den Hof kommt, um die
Arbeitskraft des qualvoll sterbenden Va-
ters zu ersetzen. Eine spröde Liebesge-
schichte deutet sich an. Doch vor die Ehe
hatdas 20. Jahrhundert den Weltkrieg ge-
setzt.Marcelwird eingezogen.Das große
Schlachten beginnt, und die Blut- und
Fleischmühle,diedenjungenMännernbe-
reitet ist, erscheint in den drastischen
Schilderungen des Romans als Variation
derSchlachthöfe,indenendieTiereverar-
beitet werden. Der Erste Weltkrieg, der
fürdieFranzosenvielopferreicherwarals
der Zweite mit seinen weitgehend auser-
zählten Narrativen der Kollaboration und
Résistance, rückt in der französischen Li-
teratur als Ur-Trauma des Jahrhunderts
neuerdings wieder stärker in den Fokus;
dieser Roman ist ein Beispiel dafür. Und
auch bei den Kriegsszenen mischt sich in
das Dröhnen der Geschütze das Gebrüll
desViehs.
ÉléonorewartetvergeblichaufMarcels
Rückkehr.Mantröstetsie:erseivermisst,
er sei tot, sie solle sich abfinden. Warum
das ein Trost sein könnte, wird deutlich,
alsernachJahrenwiederauftaucht–alsei-
ner jener Kriegsverstümmelten mit grau-
sig deformiertem und gleichsam kubis-
tisch zusammengeflicktem Gesicht, wie
sie der Fotograf Ernst Friedrich in seinem
erschütternden Buch „Krieg dem Kriege“
aus dem Jahr 1924 dokumentiert hat. Im
Haus werden alle Spiegel verhängt. Für
die Liebe kommt Marcel eigentlich nicht
mehr infrage; nicht nur, weil sein Anblick
das Verlangen erstickt, sondern weil er
menschlicheKörperkaumnochbegehren
kann,nachdemeranderFrontzuvielvon
deren Innenleben gesehen hat, in Form
blutiger Fleischfetzen und dampfender
Eingeweide. Und dennoch: Éléonore und
Marcel heiraten. Ihr Sohn Henri und des-
sen Nachkommen Serge und Joel sind die
Patriarchen der Sippe, die in der zweiten
Hälfte des Romans einen industriellen
Schweinemastbetrieb während der frü-
henachtzigerJahre bewirtschaftet.
HiernunwirddieganzedüsterePalette
des Anti-Heimat-Romans aufgeboten,
wieman sieetwaaus den BüchernvonJo-
sefWinklerkennt:kaputteEhenundFami-
lie als Zwangsanstalt, ruinierte Kindhei-
ten und Homosexualität, Alkoholsucht
und Inzest, Bigotterie und Degeneration.
Der Roman ist ganz nah bei den in ihre
Buchten gepferchten Schweinen, ihrem
GestankundGeschrei,ihrerFressgierund
Panik, aber auch bei den abgearbeiteten
Körpern und den zerschlissenen Seelen
der Bauern, die Zeit ihres Lebens im Kot
waten.SelbstdieGebäudedesHofeswer-
den zerfressen vom beißenden Gülle-
dunst und dem giftigen Strom der Exkre-
mente, dem auf Dauer keine noch so oft
nachbetonierteWand standhält.
Die Tatkraft erlahmt im letzten Spröss-
lingderFamilie.DerkleineJérômeisteine
ArtHannoBuddenbrook,dersicheineral-
lerdings ganz unkünstlerischen Kontem-
plation ergibt. Der Junge ist stumm und
geistesschwach, aber er hat einen siebten
SinnfürdieNaturunddieTiere,unterde-
nenersichwohlerfühltalszwischenMen-
schen:einwildesKind,dasdurchdieLand-
schaft streift und mit offenen Augen
träumt. Einer Spur der Freiheit folgt auch
der imposante Zuchteber „La Bête“, dem
die Flucht aus seinem Stallgefängnis ge-
lingtundderlistiggenugist,seinenVerfol-
gern zu entkommen. Der Verlust dieses
Prachtstücks,KrönungjahrelangerSelek-
tion, ist ein Menetekel für den Hof. „La
Bête“ gibt sich der Verwildschweinung
hin–undhaterstaunlicherweisedasletzte
Wort.
Der Schweinemastbetrieb bietet eine
IdealvorlagefürdenBeschreibungskünst-
ler Jean-Baptiste Del Amo. Denn hier gibt
es enorm viel zu sehen, zu hören, zu rie-
chen.Die Wirklichkeit, wie sie dieser Ro-
man darstellt, ist so krass, dass die Spra-
che bisweilen expressionistisch steil
klingt,obwohlsiebloßgenauist.Dassdie-
ses Sprachkunstwerk sich im Deutschen
ebenso intensiv und
beklemmend liest
wieim Original, ver-
dankt sich der fabel-
haften Übersetzung
vonKatrinUttendör-
fer.
Nur einem Ro-
man ist die Darstel-
lung der Umbrüche
in der industriali-
sierten Landwirt-
schaft des 20. Jahr-
hunderts in ähnlicher Intensität gelun-
gen: „Blösch“ von Beat Sterchi, einem
hierzulande wenig bekannten Meister-
werk der Schweizer Literatur aus dem
Jahr 1983. Obwohl er Veganer und in
Tierschutzbewegungen aktiv ist, verbie-
tet sich Del Amo wie Beat Sterchi jede
Meinungsäußerung, jedes Argumentie-
ren und Agitieren. Seine Wut verwan-
delt er in literarische Präzision, sein
Wissen in Bilder und detailversessene
Beschreibung. Dennoch mag es so wir-
ken, als wäre die große Inszenierung
des Niedergangs eine literarische Straf-
aktion: Je exzessiver der Missbrauch
der Tiere, desto übler bekommt es den
Menschen. Wolfgang Schneider
—Jean-Baptiste Del Amo:Tierreich.Ro-
man. Aus dem Französischen von Karin Ut-
tendörfer, Matthes und Seitz, Berlin 2019.
440 Seiten, 26 €.
—Karen Köhler:
Miroloi.Roman.
Carl Hanser Verlag,
München 2019.
463 Seiten, 24 €.
Das Aufbegehren
der Eingeweide
Von Schweinen leben: Jean-Baptiste Del Amos
hyperrealistischer Roman „Tierreich“
Als wär’s Margarets Atwoods dystopischer „Report der Magd“.Die Erzählerin Karen Köhler. Foto: Christian Rothe
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Ja, das
gibt es auch:
Alexander
von
Humboldts
„Tierleben“
Problemtiere
aller Länder,
vereinigt euch!
Ein Mastschwein im
niedersächsischen
Wehnen. Foto: p-a/dpa
Auch der
Mensch
erscheint in
seinem
kreatürlichen
Elend
Das Buch
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Leipziger
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Von Carsten Otte
Ich mach’ mich dann weg
Klagegesang in 128 Strophen: Karen Köhlers erster Roman „Miroloi“
30 DER TAGESSPIEGEL LITERATUR NR. 23 918 / SONNTAG, 18. AUGUST 2019
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