Der Tagesspiegel - 18.08.2019

(Axel Boer) #1

S


eit gut einem Vierteljahrhundert streitet
man sich in Berlin über den Wieder-
aufbau des Schlosses. 1950 wurde die
bisdahinimmer nochimposanteKriegs-
ruine gesprengt, 2008 wurde der Wie-
deraufbau beschlossen – der aber doch eher ein
Neubau hinter den historisch korrekten Barock-
fassaden ist. Die Münchner Residenz hingegen,
im Krieg weit stärker zerstört als das Hohenzol-
lernschloss, wurde ohne jede Diskussion Stück
für Stück, Saal für Saal wiederaufgebaut. Und
dann der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkir-
che, die nach dem verheerenden Luftangriff vom


  1. Februar 1945 zusammensank! Aus dem
    schwärzlichen Trümmerhaufen, der jahrzehnte-
    lang die Wunde des Krieges bezeichnete, ent-
    stand ein bis ins Detail originalgetreuer Nachbau
    –sogar einschließlichder Dekorationen im Inne-
    ren. Der Nachbau wurde nahezu einhellig gefei-
    ert, und heute mag sich niemand mehr Dresdens
    Stadtbild ohne die kühne Kuppel vorstellen.
    Rekonstruktionen gibt es in aller Welt. Es ist
    erstaunlich, wie viele Bauwerke, die gemeinhin
    als authentisch gelten, in Wirklichkeit Nachbau-
    ten sind. Welcher Venedigbesucher, verzaubert
    vom Markusplatzmit seinen historischen Gebäu-
    den, will schon wissen, dass der Campanile
    1902aus Altersschwäche vollständig zusammen-
    fiel und zwei Jahre später wiedererstand – wenn
    auch mit modernem Innenleben, insbesondere
    einem Fahrstuhl? Hamburgs Wahrzeichen der
    „Michel“, die Michaeliskirche in der Nähe des
    Hafens wurde bei einem Großbrand 1906 ver-
    nichtet undin den folgenden Jahren wiederaufge-
    baut. Mit einem Turm aus Beton und Stahl statt
    der originalen, kupfergedeckten Holzkonstruk-
    tion. Derartige Veränderungen in Konstruktion
    und Material sind häufig; meist, um wie in Ham-


burg ein erneutes Unheil aufgrund der Feuerge-
fahr zu vermeiden.
Aber auch den Weg einer peniblen Wiederho-
lung der ursprünglichen Bauweise gibt es. Das
„Schwarzhäupterhaus“ in der lettischen Haupt-
stadt Riga, 1941 beim Einmarsch der deutschen
Wehrmacht beschädigt, vom Sowjetregime
1948 gesprengt und danach jahrzehntelang als
Leerstelle im Stadtbild sichtbar, wurde bis 1999
Stein auf Stein getreulich wiedererrichtet – ein-
schließlich der Inschriften in deutscher Sprache.
Eine lautet treffend: „Sollt’ ich einmal fallen nie-
der/So erbauet mich doch wieder.“ Was denn
auch geschah.
Das Rigaer Beispiel steht für etliche Rekon-
struktionen im vormaligen Ostblock, die der
nationalen Identität dienen. Der Wiederaufbau
der Warschauer Altstadt, die die deutschen
Besatzer 1944 buchstäblich dem Erdboden
gleichgemacht hatten, begann bald nach Kriegs-
ende als Zeichen dafür, dass die Eroberer nicht
das letzte Wort behalten sollten. Dass War-
schau und damit Polen weiterbestehen. Gegen
diesen moralisch gerechtfertigten Wiederauf-

bau hatten auch die Puristen unter den Denk-
malpflegern nichts einzuwenden, die ansons-
ten dem berühmtem Wort Georg Dehios fol-
gen, des Mitbegründers ihrer Disziplin: „Kon-
servieren, nicht restaurieren“.
Immerhin konnte Warschau auf fotografische
Dokumentationen der Altstadt zurückgreifen. In
anderen Fällen mussten Hypothesen aushelfen.
So wurde in Vilnius, der Hauptstadt Litauens,
erstnach2000dasSchlossderGroßherzögewie-
deraufgebaut, zudem sichangesichertenSpuren
nicht mehr fand als die jahrhundertelang ver-
schüttetenFundamente.DenndasSchlosswarbe-
reits Mitte des 17. Jahrhunderts zerstört und im
Jahr 1801endgültigabgetragenworden.Kein In-
nenraum war auch nur annäherungsweise durch
Darstellungen belegt – und doch wurde auch das
Innere so hergestellt, wie es vielleicht gewesen
war oder doch hätte gewesen sein können. Der
Schritt zur freien Interpretation der Vergangen-
heit ist nicht weit. Viollet-le-Duc, der Architekt
von Notre-Dame, schufmit der BurgPierrefonds
nördlichvonPariseineFestung,dievonallenBe-
suchern als originales Mittelalter bestaunt wird,
obwohl der ursprüngliche Bau seit 1617 weitge-
hend zerstört war und bis zur Mitte des 19. Jahr-
hunderts nur als malerische Ruine überdauerte,
dieder Architekt freihändigergänzte.
Die moderne Technik erlaubt mittlerweile
sehr weitgehende Rekonstruktionen der jeweili-
gen Gebäudesubstanz. Nicht mehr „Einfühlung“
ist gefordert, sondern beispielsweise die dreidi-
mensionale Umsetzung von Fotografien, die es
im Falle von im Zweiten Weltkrieg zerstörten
Bauten zumeist gibt. So konnte die völlig ausge-
brannte Hülle des Rathauses von Augsburg, ein
Meisterwerkdes Jahres1600, inbald zwanzigjäh-
riger Arbeit nicht nur wiederhergestellt, son-

dern zudem mit dem reich dekorierten Festsaal
im Inneren versehen werden. Die romanischen
Kirchen Kölns, samt und sonders im Zweiten
Weltkrieg schwer beschädigt, wurden unter Be-
seitigung barocker und historistischer Ein- und
Umbauten bis 1995 wiederhergestellt, wobei
das „romanische“ Erscheinungsbild im Inneren
naturgemäß einen Idealzustand, aber keine gesi-
cherte historische Wirklichkeit darstellt.
Stadtbildprägende Bauten wie die Fachwerk-
bauten des „Knochenhaueramtshauses“ in Hil-
desheim oder der „Löwenapotheke“ in Aschaf-
fenburg entstanden in den 1990er Jahren neu,
als sich Kommunen in ganz Deutschland nach
den Exzessen des autogerechten Umbaus wieder
auf ihr historisches Erscheinungsbild besannen.
Ein besonders markantes, aber auch umstritte-
nes Beispiel ist die Frankfurter „Altstadt“ zwi-
schen Römerberg und Dom, die bis 2018 an-
stelle unter anderem des erst 30 Jahre zuvor er-
richteten Technischen Rathauses entstand. Der
mittelalterliche Verlauf von Gassen und Plätzen
wurde wiederbelebt und mit einer Mischung
von historisch belegten Rekonstruktionen und
stilistisch angelehnten Neuschöpfungen bebaut.
Viele Rekonstruktionen haben ihrerseits
längst Patina angesetzt und sind Gegenstand
neuerlicher Sanierungen. Nach dem Ersten
Weltkrieg wurden die stark zerstörten Städte
Flanderns und Nordfrankreichs, wie Ypern
oder Arras, in ihrer historischen Mitte kom-
plett wiedererrichtet. Niemand sieht den von
Wetter und Schmutz nachgedunkelten Steinen
ihr wahres Alter an. Es spielt tatsächlich keine
Rolle. Was zählt, ist die Gegenwart einer Ver-
gangenheit, die sonst spurlos verschwunden
wäre. Sie zu bewahren, ist der Sinn einer jeden
Rekonstruktion. Bernhard Schulz

Patina für Puristen


Der


nach dem Feuer


4 DER TAGESSPIEGEL REPORTAGE NR. 23 918 / SONNTAG, 18. AUGUST 2019 5


Kirchen, Schlösser,


komplette Altstädte:


Was authentisch wirkt,


ist oft rekonstruiert.


Manchmal sogar


echter als im Original


Von Björn Rosen, Paris


Brand


P


atrick Chauvet wird aufs Herzlichste
begrüßt an diesem Sonntagmorgen.
Manche unter den knapp 100 Besu-
chern sind womöglich nur gekom-
men, weil er die Messe zelebriert.
Die Orgel spielt, und der 67-Jährige
mitden jungenhaften Zügen tritt hin-
ter den Altar. Der Gottesdienst findet in
St.-Étienne-du-Mont im Herzen von Paris statt,
gleich neben dem Panthéon. Mit ihrer barocken
Kanzel und dem weißen Marmor gilt sie als eine
der schönsten Kirchen Frankreichs. Eine Vertrete-
rin der Gemeinde steht auf. Man sei sehr glück-
lich, den Monseigneur heute als Gast zu haben,
sagt sie. Chauvet bedankt sich. Er spricht von der
Gnade, hier zu sein.
Denn Monseigneur Chauvet hat seine Kirche
verloren, mindestens für den Moment.
Als Notre-Dame am 15. April in Flammen
stand, gingen die Bilder des weinenden Domde-
kans um die Welt. Ohnmächtig musste Chauvet
für mehrere Stunden beobachten, wie sich Feuer
in seine geliebte Kathedrale fraß. Es war bei Res-
taurierungsarbeiten ausgebrochen, der Dachstuhl
aus jahrhundertealtem Holz brannte aus. Spät-
nachts erst war die Situation unter Kontrolle.
VierMonate späterscheint einGroßteilder mit-
telalterlichen Kirche gerettet, wobei es immer
noch zu Einstürzen kommen könnte. Ins Innere
darf derzeit keiner, auch nicht Chauvet, ja nicht
einmal die Bauarbeiter. Wegen der großen Menge
an Bleistaub, die durch das Feuer freigesetzt
wurde,istdie Restaurierungseitmehr als drei Wo-
chen unterbrochen. Künftig sollen strengere Si-
cherheitsvorschriften die Arbeiter schützen.Schu-
len im Umkreis werden gerade von dem giftigen
Schwermetall gereinigt. Am morgigen Montag
soll es nun weitergehen.
„Ich bin jetzt Priester einer Baustelle“, sagt Pa-
trick Chauvet. Ein paar Tage vor der Sonntags-
messe führt er ins Pfarrhaus. Es liegt in einer klei-
nen Seitenstraße unweit der Kathedrale. Chauvet
deutet stolz auf die Holzbalken des Treppenhau-
ses aus dem 16. Jahrhundert. Alt und ehrwürdig
ist auch hier alles, doch wirken die Räume im Ge-
gensatz zur Kirche nebenan gedrungen und ver-
winkelt, das Licht gedämpft.
Notre-Dame war die populärste Sehenswürdig-
keit der Stadt: freier Eintritt, 30000 Besucher je-
den Tag – und 67 Angestellte. „Sie erwartet leider
die Arbeitslosigkeit“, erklärt der Domdekan, wäh-
rend er in einem Sessel versinkt. „Wir werden So-
zialpläne erarbeiten müssen, so was gehört jetzt
zu meinen Aufgaben.“


Mehr noch als eine Kirche ist Notre-Dame ein
nationales Symbol. „Das Herz von Paris, das Herz
Frankreichs“, sagt Chauvet. Am 15. April schie-
nendieFranzosenso vereint wielange nichtmehr.
Vor der Kathedrale sangen die Leute gemeinsam,
und an den Fernsehschirmen bangten Millionen
um das Gebäude. Für ein paar Stunden waren die
wachsenden sozialen Spannungen und die Mas-
senproteste der Gelbwesten vergessen. Schnell je-
doch mündeten Schock und Trauer in eine De-
batte, die noch immer anhält – über den Präsiden-
ten, den Zustand und die Identität des Landes.
Es ist nicht bloß ein Wortspiel: Der Brand hat
das Land im Herzen getroffen. Manche sprechen
vom „medialen Feuer“, das auf das reale folgte. Es
begann mit Gerüchten in den sozialen Netzwer-
ken, Notre-Dame sei einem Anschlag zum Opfer
gefallen (so wie es bei anderen Kirchen tatsäch-
lich passiert ist in jüngster Zeit), dann kamen Ent-
hüllungen über all das, was am Abend des
15.April schief gelaufen war, Entwürfe für einen
neuen Vierungsturm spalten das Land, und zu-
letzt war der Bleistaub als Gefahr für die Anwoh-
ner ein Aufreger in den französischen Medien.
Notre-Dame kommt nicht aus den Schlagzeilen.
Hunderte Interviews hat Patrick Chauvet in den
vergangenen Monaten schon gegeben, am heuti-
gen Tag warten noch das schwedische Fernsehen
und ein Pariser Regionalkanal. Er ist der richtige
Mannfür dieseAufgabe. Im freundlichenPlauder-
ton kann er geduldig immer wieder die gleichen
Fragen beantworten. Ja, sagt er, die Blei-Gefahr

müsse man ernstnehmen, aber nein, man dürfe
sich nicht verrückt machen lassen.
Derzeit zelebriert Chauvet Messen mal hier,
mal dort. Im September zieht die Institution No-
tre-Dame in eine Kirche am Louvre. Seine künf-
tige Rolle sieht der Domdekan, im Amt seit 2016,
„als eine Art Botschafter“. Seine Mission: „Den
Geist von Notre-Dame am Leben und die Kirche
im Gespräch halten.“ Sobald es die Behörden er-
lauben, möchte er auf dem Kirchenvorplatz ein
Zelt für Pilger aufstellen. Dort soll dann eine Ko-
pie der berühmtesten Jungfrauen-Statue aus dem
Innern stehen, die – „für mich war das ein Zei-
chen“ – den Brand unbeschadet überstanden hat.
Die Leute sollen sie anfassen, Blumen niederlegen
können.
An der Nordseite von Notre-Dame, vor der
Schutzwand mit Stacheldraht, die die Kathedrale
jetzt umgibt, steht Alexandre Gady und blickt
nach oben auf die Kirche, die sich dunkel vom
blauen Sommerhimmel abhebt. Der 51-jährige
Kunsthistoriker ist ein großgewachsener Mann im
weißen Hemd. „Wir befinden uns noch immer in
der ersten Phase, der Konsolidierung, und die ist
diffizil“, erklärt er. Wo sich einst der Dachstuhl
befand, klafft eine Lücke, abgedeckt mit Planen.
Holzbalken stützen die Strebebögen an der Seite.
Die großen, unversehrten Glasfenster wurden aus
Sicherheitsgründen entnommen und durch Platz-
halter ersetzt. Im Innern haben in den vergange-
nen Monaten Roboter heruntergefallene Steine
und Balken aufgesammelt, Experten analysieren
und katalogisieren jedes einzelne Teil.
Gady, der Professor an der Sorbonne ist, gehört
zu den Initiatoren eines offenen Briefs an Emma-
nuel Macron, unterzeichnet von mehr als 1000
Kuratoren, Denkmalschützern, Archäologen, un-
ter ihnen auch deutsche Fachleute. Darin wird das
Vorgehen des Präsidenten höflich und doch in al-
ler Deutlichkeit kritisiert. „Macron ist ein sehr in-
telligenter Mann“, sagt Gady, „aber er hat einen
Fehler: Er ist leider unreif.“
Der Brand war kaum gelöscht, da verkündete
der Präsident, man werde die Kathedrale inner-
halb von fünf Jahren wiederaufbauen, schöner als
je zuvor. Statt den Austausch mit Experten zu su-
chen,preschte ervor.Ersetzte Jean-Louis George-
lin, einen verdienten General im Ruhestand, als
Sonderbeauftragten ein, und er ließ von seinem
Premiereinen internationalen Architektenwettbe-
werbankündigen. Emmanuel Macronliebt die gro-
ßen Gesten – und Frankreichs politisches System
erlaubt sie ihm. „Wir sind eine republikanische
Monarchie“, sagt Gady spöttisch. Und noch jeder

Präsident der Fünften Republik hinterließ in Paris
bleibende architektonische Spuren, vom Centre
Pompidou bis zu Jacques Chiracs spektakulärem
Museum für außereuropäische Kunst. Vermutlich
sei Macrons Ego mal wieder mit ihm durchgegan-
gen, und er hoffe auf schöne Bilder in den Medien.
„Notre-Dame verdient mehr als die kleinen Aufge-
regtheiten des Monsieur Macron.“
Dabei sei die Vorgabe von fünf Jahren nicht un-
bedingt unrealistisch, aber warum der Zeitdruck,
zumal bei einem Gebäude mit mehr als 850-jähri-
gerGeschichte? „Mitdervorübergehenden Schlie-
ßung wegen der Blei-Belastung gibt es schon die
erste Verzögerung.“ Außerdem habe das Lösch-
wasser dem Mauerwerk zugesetzt, dann kam Re-
kordhitze über Frankreich. Ein gefährliches Zu-
sammenspiel. „Alles ist noch sehr fragil. Sollte ein
Teil des Gewölbes einstür-
zen,würdesich dieRestaurie-
rung weiter verlangsamen.“
An Gady drängen Touris-
ten vorbei. Die Kathedrale ist
weiterhineine Sehenswürdig-
keit. Ein junges italienisches
Paar lässt breit lächelnd ein
Beweisfoto von sich vor der
Baustelle schießen,eine ame-
rikanische Reisegruppe
starrt fasziniert auf die Wunde im Dach. Doch
danneilen die Leute sofort weiter. DerUmsatz der
umliegenden Läden ist eingebrochen, in der Bras-
serie „Quasimodo“ sind zur Mittagszeit nur drei
Tische besetzt.
Zentraler Streitpunkt in der öffentlichen De-
batte ist die Rekonstruktion des Vierungsturms,
der so markant auf der Kathedrale thronte: 93 Me-
ter hoch, 500 Tonnen Holz, verkleidet mit
250 Tonnen Blei. Am 15. April brach er zusam-
men und stürzte in die Tiefe. Während Macron
mit dem Architektenwettbewerb eine zeitgenössi-
sche Lösung ins Spiel brachte, sprachen sich die
Rechte undderpopulistische „Rassemblement Na-
tional“ von Marine Le Pen für eine identische Re-
konstruktion aus. Le Pen machte ihre Forderung
aufTwitterunter demHashtag#touchepasmonno-
tredame bekannt: Finger weg von Notre-Dame!
Damit wird nun auch die Restaurierung der Ka-
thedrale entlang der Trennlinie diskutiert, die so
typisch ist für Frankreichs Gesellschaft: Progres-
sive auf der einen, Traditionalisten und Reaktio-
näre auf der anderen Seite. Eine Politisierung, die
Macron durch mehr Zurückhaltung hätte verhin-
dernkönnen,ja verhindern müssen, findet Alexan-
dre Gady.

Internationale Architektenbüros standen umge-
hend mit Ideen fürs Dach parat, darunter ein Ge-
wächshaus, ein Turm aus Glas und einer, dessen
Spitze sich per Lichtstrahl scheinbar ins Unendli-
che verlängert. Die Entwürfe erregten die Gemü-
ter, dabei handelt es sich bloß um kuriose Gedan-
kenspiele. Wie genau das Dach rekonstruiert wer-
den kann, hängt von vielen technischen Details
ab, die momentan kaum absehbar sind. Domde-
kan Chauvet lehnt sich bei der Frage nach dem
Vierungsturm denn auch entspannt zurück. „Wa-
rum sollte es keine moderne Variante geben, so
lange sie sich harmonisch in das mittelalterliche
Gebäude einfügt?“, sagt er. „So oder so wird der
neue Turm anders aussehen als der alte. Denn
man wird für ihn sicher nicht wieder Blei verwen-
den.“ Die Brisanz der Debatte liegt darin, dass der
im Land wenig populäre Macron am Ende allein
darüber entscheiden könnte, welcher Entwurf ge-
winnt – und damit über die Zukunft eines der be-
deutendsten Baudenkmäler der Nation.
Füreine moderne Lösunggibt es durchausArgu-
mente. Zum Beispiel dieses: Der nun zerstörte
Turm war selbst eine zeitgenössische Lösung,
eine des 19. Jahrhunderts. Die ursprüngliche goti-
sche Spitze war Ende des 18. Jahrhunderts abge-
baut worden, als sie drohte, einzustürzen. Wäh-
rend der Französischen Revolution wurde die Ka-
thedrale beschädigt, danach vernachlässigt. Erst
50 Jahre später – Victor Hugo hatte der Kirche
inzwischen mit seinem „Glöckner von No-
tre-Dame“ ein wirkmächtiges literarisches Denk-
malgesetzt – beauftragte man den Architekten Eu-
gène Viollet-le-Duc mit der Restaurierung. Er
setzte dem Gebäude einen Spitzturm aufs Dach,
der sich zwar an gotischen Formen orientierte, je-
doch sein ganz eigener Entwurf war. Auch die
Glaspyramide am Louvre, vom Präsidenten
FrancoisMitterand initiiert,beweist, dassdie Fran-
zosen mit der Zeit selbst umstrittenste architekto-
nische Projekte liebgewinnen können.
Kunsthistoriker Gady spricht sich nicht grund-
sätzlich gegen eine moderne Variante aus, findet
aber, radikal neue Entwürfe seien nur angebracht,
wenn man etwa an ein historisch wichtiges Ereig-
nis erinnern wolle. „Die Ursache des Brands war
vermutlich ein Kurzschluss. Wollen wir eines
Kurzschlusses gedenken?“ Das führt Gady zu
dem, was er als eigentliches Problem betrachtet:
den schlechten Umgang mit dem nationalen Kul-
turerbe. Auch Domdekan Chauvet beklagt sich
über den dürftigen Zustand vieler alter Kirchen.
„Der Brand wurde viel zu spät bemerkt, die Si-
cherheitsleute waren nicht ordentlich vorbereitet,

und die richtigen Löschfahrzeuge mussten erst
aus Versailles kommen“, sagt Gady. „Was da pas-
sierte, ist eines zivilisierten, wohlhabenden Lan-
des wie unserem nicht würdig.“ Französische Zei-
tungen haben die Versäumnisse recherchiert, und
in der „New York Times“ erschien vor wenigen
Wochen ein Bericht, der für Aufsehen sorgte.
Demnach ist es nur dem mutigen Vorgehen der
Feuerwehrleute zu verdanken, dass ein großer
Teil von Notre-Dame erhalten blieb.
FürGadygehtesnicht so sehrummehr Geld für
den Denkmalschutz. Den Spitzenleuten in Politik
und Bürokratie fehle es zunehmend an Kompe-
tenz und Visionen. Er deutet Notre-Dame als tie-
fere Krise des französischen Staats – ein weitver-
breiteter Eindruck im Land.
Auch der Schriftsteller Sylvain Tesson teilt ihn.
Der 47-Jährige kann mit seiner leicht knarzigen
Stimme sehr unterhaltsam auf die politische
Klasse schimpfen. Macron hat seinen Fünf-Jah-
res-Plan für die Rekonstruktion mit Olympia 2024
inParis inVerbindunggebracht,auchBürgermeis-
terin Anne Hidalgo sprach immer wieder davon.
„Bezaubernd, die Dame“, hebt Tesson ironisch an.
„Es kann natürlich sein, dass die Menschen des
Mittelaltersbeim BauvonKathedralen dieDekora-
tion eines Volleyballspiels im Sinn hatten.“
Der Schriftsteller lebt keine 200 Meter von der
Kathedrale entfernt, auf dem linken Seine-Ufer.
„Von meiner Wohnung aus blicke ich auf No-
tre-Dame, dasBild hatsich mir so eingeprägt,dass
ich bis heute den Vierungsturm sehe“, erzählt er
während eines Gesprächs am Telefon. Unmittel-
bar nach dem Brand veröffentlichte er ein Büch-
lein mit Essays über die Kirche. Alle Einnahmen
von „Notre-Dame de Paris: Ô Reine de Douleur“ –
Königin des Schmerzes, so nennt er die Kathe-
drale – gehen an die Stiftung zur Bewahrung des
französischen Kulturerbes, mehrals 35000Exem-
plare sind verkauft. Ein großer Erfolg.
Tesson sucht das Abenteuer. Sechs Monate
lebte er mal allein in einer Hütte in Sibirien, die
Geschichte wurde in Frankreich sogar verfilmt.
Nachts kletterte der passionierte Bergsteiger viele
Jahre lang auf Gebäude, besonders gern auf Kathe-
dralen, arbeitete sich an Streben, Bögen und Brüs-
tungen empor. Auch auf Notre-Dame. Nicht die
berühmte westliche Fassade ist sein Lieblingsort,

sondern die Rückseite, wo die Kathedrale in die
Höhe wächst, als wäre sie ein lebendiger Organis-
mus – für Tesson Inbegriff gotischer Schönheit.
Vorbei. Nicht nur wegen des Brands. „Was ich
damals machte, war eine jugendliche Dummheit,
verboten und nicht empfehlenswert.“ 2014
stürzte er in Chamonix zehn Meter tief und ver-
letzte sich dabei schwer. Notre-Dame wurde seine
Rettung, seine Reha. Wieder ging es regelmäßig
nach oben, dieses Mal, ganz legal, auf Stufen.
Sein Buch ist eine Liebeserklärung an die Ge-
nies der Gotik und die europäische Zivilisation.
Tesson war am 15. April nicht in der Stadt. Doch
die Bilder der brennenden Kathedrale berührten
ihn, sie seien von „schrecklicher Schönheit“. Seit
Jahren diskutiert das Land über nationale Identi-
tät, darüber, was es bedeutet, Franzose zu sein.
Zur großen Überraschung aller habe der Brand
freigelegt, wie tief Frankreich noch im Katholizis-
mus verwurzelt sei, „trotz mehrerer hundert Jahre
laizistischer Prägung“. „Die Menschen sind in den
Straßen auf die Knie gegangen und haben gebetet,
selbst der Chef der Feuerwehrleute, ein Mann der
Praxis, hat erzählt, wie viel ihm dieser Einsatz be-
deutete“, sagt Tesson. „Ich selbst glaube weder an
Gott noch an den Teufel. Ich bin ein schlechter
Christ, aber eben doch einer.“
Dass sofort am Morgen nach der Katastrophe
die Debatten begannen, hat den Schriftsteller we-
niger verwundert. Wobei ihn besonders der oft
gehörteVorwurfaufregt,die reichen Spendersoll-
ten ihr Geld nicht in alte Steine stecken, sondern
es den Armen geben. „Ein idiotischer Vergleich.“
„Mehr als jedes andere Volk haben die Franzo-
sen eine Begabung, sich gegenseitig zu hassen“,
glaubt Sylvain Tesson. „Vielleicht ist es genau das,
was uns verbindet.“

Für und Wider.Domdekan Patrick Chauvet (oben)
und Schriftsteller Sylvain Tesson.
Fotos: T. Samson/AFP, E. Scorcelletti/Le Figaro Magazine/laif

Gefährliche


Mischung:
Löschwasser
und

Rekordhitze


128 m


69 m


43,5 m


Nordturm

Spitzturm (beim Brandvöllig zerstört)
war 93 m hoch, aus Holz,
mit Blei verkleidet,
im 19. Jahrhundert von
Eugène Viollet-le-Duc erbaut.
Der Turm stürzte ins Innere und
riss ein Loch ins Kreuzgewölbe

Die Fassade,
die beidenTürme
und dieGlocken
sind gerettet

Teildes Gewölbes
im Langhaus
brach ein
Dachstuhl
(fast völlig ausgebrannt)
aus Eichenholz, mit Blei verkleidet,
im 13. und 19. Jahrhundert errichtet,
genannt „la forêt“ (Wald)

Südturm

Brandam 15. April 2019

Grundsteinlegung 1163,
Fertigstellung Mitte des 14. Jahrhunderts,
seit 1991 zählt die gotische Kathedrale
zum Unesco-Weltkulturerbe

Kathedrale Notre-Dame in Paris


Teildes Steingewölbes
(unter dem Dachstuhl)
32,5 m hoch, an mehreren Stellen
durchbrochen

teilweise gefährdet

Quellen: AFP, eigene Recherche
Bearbeitung: Sascha Lobers,
Gitta Pieper-Meyer

Pläne und Planen.
Für einen modernen
Neubau des Kirchen-
daches und des
Vierungsturms gibt
es durchaus Argu-
mente – der nun
zerstörte Turm war
einst selbst einer.
Foto: S. de Sakutin/AFP

Die Flammen ließen


das Land zusammenrücken.


Doch das ist längst vergessen.


Jetzt streitet Frankreich über


die Kathedrale Notre-Dame:


ihren Wiederaufbau,


Präsident Macrons Ideen


und die Identität der Nation

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