14 SERIE BERLINERKURIER,Sonntag, 18. August 2019 15
Gerd Focken Schmidt ein halbe
Stunde später meinen Gedan-
ken. Schmidt, der mich mit dem
Auto in Großebersdorf abholt,
ist sehr pünktlich, sehr groß
und sehr schlank, das Landle-
ben scheint gutzutun –der
Mann ist 77, sieht aus wie 60
und ist so etwas wie der Stadt-
chronist von Lederhose. „Sie
müssen Herrn Schmidt treffen,
ich gebe Ihnen seine Nummer“,
hatte Andreas Weber gesagt,
Bürgermeister der Verwal-
tungsgemeinschaft München-
bernsdorf, zu der auch Leder-
hose gehört. Herr Schmidt sei
so etwas wie das Gedächtnis
des Ortes.
Geboren in Weida, sei er der
Liebe wegen nach Lederhose
gezogen, sagt Gerd Focken
Schmidt und lacht ein wenig
schüchtern. Schmidt war Inge-
nieur im VEB Wetron Weida
und lebt mit seiner Frau seit ei-
nem halben Jahrhundert in Le-
derhose, einer sogenannten
Landstadt mit etwas mehr als
260 Einwohnern, Tendenz re-
lativ stabil.
Mit dem Beinbekleidungs-
stück habe der Ortsname ur-
sprünglich nichts zu tun, ob-
wohl eine Lederhose das Stadt-
wappen ziert, erklärt Schmidt.
Der Name komme aus dem Sla-
wischen und sei wohl aus dem
Namen Ludorad entstanden:
Ludoraz–der Ort des Ludorad.
2012 feierte man 725 Jahre Le-
derhose, und es ist nicht ver-
messen zu sagen, dass die Zeit
hier ein wenig langsamer vor-
anschreitet als anderswo. Das
weiß auch Herr Schmidt, zu ru-
hig ist es ihm hier aber nicht, im
Gegenteil: Die Ruhe, die Mög-
lichkeit durchzuatmen, sei es,
die das Leben in Lederhose le-
benswert mache. In meinen
Ohren rauscht es, seit Minuten
habe ich kein Auto mehr ge-
hört.
In der Ferne sieht man einen
Lkw, der in das Gewerbegebiet
fährt, das Lederhose sich mit
dem benachbarten München-
bernsdorf teilt. Struktur-
schwach ist die Region nicht.
Entlackungsfirmen und Logis-
tikunternehmen teilen sich den
Standort, es gibt einen Betrieb,
der Folien herstellt und einen
Produzenten für Keramik. Und
den letzten Hersteller von Tep-
pichen, einer Ware, für den die
Region einmal berühmt war,
Teppiche aus Greiz, das war
was.
Schmidts Frau ist gelernte
Teppichweberin, zu DDR-Zei-
ten arbeitete sie in einer Tep-
pichfabrik im Nachbarort. Die
Fabrik gibt es nicht mehr, auch
nicht das Werk, in dem Herr
Schmidt arbeitete und dessen
Lebenslauf typisch ist für einen
Bürger der DDR, dem die Wen-
de nicht nur Gutes brachte.
Als die Mauer fiel, war Gerd
Focken Schmidt 48 Jahre alt.
Mit ihr verschwand auch sein
Job. Eine Zäsur sei das gewe-
sen, man habe ihn nicht mehr
gebraucht, erzählt er ohne Bit-
terkeit. Als die große Geschich-
te den kleinen Ort Lederhose
erfasste, da hätten sie immer-
hin ein eigenes Haus gehabt,
fast abbezahlt.
Doch fortan musste sich
Schmidt durchschlagen. Ja, das
könne man so sagen, bekräftigt
er, während er auf der Haupt-
straße des Ortes steht. ABM-
Maßnahmen folgten und eine
Umschulung in der Branche
„Heizung, Lüftung, Sanitär“ ha-
be auch mal über einen länge-
ren Zeitraum Arbeit gebracht,
doch richtig Fuß fassen konnte
der Vater von zwei Kindern im
Berufsleben nicht mehr. Eine
Zeit lang war Gerd Focken
Schmidt Turmwächter im Fer-
berturm von Gera, einem
Wahrzeichen der Stadt.
Er habe nie den Mut verloren,
sagt Schmidt, er habe seinem
Sohn ein Vorbild sein müssen.
Wegzugehen aus Lederhose sei
ihm nie in den Sinn gekommen,
seine Frau habe ja auch noch
Arbeit gehabt. Hier sei er da-
heim, hier gehe er nicht weg.
Seit ein paar Jahren führt eine
Umgehungsstraße am Ort vor-
bei, und so liegt das Städtchen
sauber vom Regen und still da.
An einem Freitagnachmittag
stehen die Chancen gut, in Le-
derhose mehr Gänse als Men-
schen zu sehen und auf wen das
keine meditative Wirkung aus-
übt, der ist fürs Landleben
nicht geschaffen. Noch bin ich
mir nicht sicher, zu welcher
Fraktion ich gehöre, in der
Großstadt ist es nie so still,
nicht einmal im ruhigsten Mo-
ment tief in der Nacht.
Das Landleben,ja, das müsse
man mögen, sagt GerdFocken
Schmidt. Er führtnun durchsei-
nen Ort, eine großeRunde in
zweiStunden, präsentiert stolz
die kleine Dorfkirche,dievon
FreiwilligeninSchuss gehalten
wird, führt vorbei am einzigen
Gasthof, der praktischerweiseso
heißt wie der Ort.Erl iegtander
Hauptstraße und hat geschlos-
sen –Sommerferien. Doch am
Wochenende,dahabe man wie-
der auf, verkündetein Schild ne-
ben dem Eingang.
Früher einmal, da hat es meh-
rere Lokalitäten gegeben in Le-
derhose. Mit der Umgehungs-
straße kam die Ruhe, gut für die
Einwohner, schlecht für die Gas-
tronomie. Proper ist der Ort, eine
Mischung aus älteren Wohnhäu-
sern, ehemaligen Gehöftenund
liebevollsaniertem Bestand.
Das alles beeindruckt Frau
Müller, die eigentlich anders
heißt, wenig. Auch nicht die
Ruhe, die meditative Stille. Sie
ist aber auch erst seit ein paar
Jahren hier und einer der weni-
gen Menschen, die an diesem
Nachmittag in Lederhose auf
der Straße sind. Frau Müller
gehtmitihremPudelspazieren,
der sei „der Star von Lederho-
se“, sagt sie und lacht. So richtig
daheim fühle sie sich in Thürin-
gen nicht.
Frau Müller arbeitet in der
Pflege in Münchenbernsdorf
und auch sie ist „der Liebe we-
gen hier“, „rübergemacht“ aus
Rheinland-Pfalz. Doch aner-
kannter Ureinwohner von Le-
derhose wird man erst nach ein
paar Generationen. Sehr
freundlichseien die Menschen
hier, bestätigt Frau Müller. Sie
sei hier gut aufgenommen wor-
den, doch, ach, das Ländliche,
das mache ihr schon noch zu
schaffen. Hätte sie kein Auto,
dann wäre das ein großes Un-
glück.
Ein Auto, das brauche man,
bestätigt Gerd Focken Schmidt,
obwohl seit 15 Minuten keines
mehr vorbeigefahren ist. Er
lädt zum Kaffee ins Eigenheim
mit großem Garten. Es ist so or-
dentlich wie Lederhose selbst,
so ruhig und so idyllisch. Man
muss das mögen.
Einer, der das ganz sicher
mag, ist Harald Deussen.
Schmidt kennt ihn–bei gut 260
Einwohnern kennt jeder jeden
–und überredet ihn noch auf
der Straße, uns sein Anwesen
zu zeigen, das sei einfach zu
schön. Deussen ist 57 Jahre alt
und Dozent, ein drahtiger
Mann, der die 6000 Quadrat-
meter Grundstück selbst be-
wirtschaftet, eine Idylle, wie sie
sich der Großstädter nur er-
träumen mag mit einem Wei-
her, in dem man schwimmen
kann, und einem Garten, in dem
Pfefferminze und Frauenman-
tel wachsen. Seit 25 Jahren lebt
DeussenmitseinerFrauhier,er
sei viel unterwegs, doch sein
Lebensmittelpunkt seien Le-
derhose und diese Mühle, hier
bekomme er „die Rübe frei“.
Es istwohlgenaudas,was die
Menschen an diesen kleinen Ort
bindet–manbekommtdenKopf
frei, man hat Raum undRuhe.
Lederhose lässteinen friedlich
werden. MarcusWeingärtner
BLZ/GALANTY
Naschhausen
Rom
Herzsprung
Eisdorf
Wüstenhain
Lederhose
Wetterwitz
Klein Bademeusel
Altliebel/Rietschen
Nächste Woche
Lieberose
Nachmittags stehen
die Chancen gut,in
Lederhose mehr Gänse
als Menschen zu sehen.
Der einzigeGasthof des Ortes hatte bei unserem BesuchSommerferien. Die Dorfkirche wirdvonFreiwilligen inSchussgehalten.
GerdFockenSchmidt
lebt seit langerZeit in
Lederhose undweiß
fast alles über den Ort.
Trau, schau,wem:
Zwei Ziegen beäugen
unserenFotografen.
Landwirtschaft spielt
natürlich auch in
Lederhose eineRolle.