Berliner Kurier - 18.08.2019

(WallPaper) #1
BERLINERKURIER,Sonntag, 18. August 2019

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A


lles wird gut, jetzt, da
Berlin und Moskau
einen Pakt geschlos-
sen haben. Der Mann,
der Teddy genannt wird, ist
sich dessen sicher. Er sei „fel-
senfest überzeugt“, dass Stalin
und Molotow–der sowjetische
Außenminister–bei den Ver-
handlungen „die Frage der
Freilassung der politischen Ge-
fangenen einschließlich die von
Thälmann irgendwo und ir-
gendwie gestellt und aufgewor-
fen haben“, schreibt er. „Alles,
aber auch alles, spricht für mei-
ne baldige Freilassung.“
Seit etwas mehr als sechs Jah-
ren ist Ernst „Teddy“ Thäl-
mann, populär geworden als
Führer der Kommunistischen
Partei Deutschlands (KPD),
Hitlers Gefangener. Ungebro-
chen scheint er, wie aus seinen


Briefenzu lesen ist. Demgegen-
über sind auch Zeilen überlie-
fert, aus denen Enttäuschung
und Wut sprechen.
Nichts wird gut, nachdem die
Deutsche Reichsregierung und
die Regierung der UdSSR am


  1. August 1939 einen Nichtan-
    griffsvertrag unterzeichnet
    haben. Thälmann wird fünf
    weitere Jahre Hitlers Gefange-


ner sein; Stalin hat ihn längst
fallengelassen, seine Parteige-
nossen im Exil ebenso. Seine
Gefangenschaft endet vermut-
lich kurz nach Mitternacht des


  1. Augusts 1944–vermutlich
    durch drei Schüsse in den Rü-
    cken und einen Schuss ins Ge-
    nick.
    Wer war Ernst Thälmann?
    Ein Kommunist und Antidemo-


krat, beides durch und durch.
Ein Verehrer Stalins und Ver-
ächter der Sozialdemokraten.
Ein Held und Märtyrer der Ar-
beiterklasse. Auch,ja, auch ein
Wegbereiter Hitlers.
Ein Bauer auf dem Schach-
brett der Geschichte.
Das Leben, in das Ernst Thäl-
mann am 16. April 1886 in Ham-
burg geboren wird, ist ein ent-
behrungsreiches. Mit seiner
Schwester lebt er zunächst in
einer Pflegefamilie. Er hilft spä-
ter im Gemischtwarenladen
der Eltern. Wegen anhaltender
Streitereien mit seinem Vater
entschließt er sich, sein Eltern-
haus zu verlassen. Er schlägt
sich durch als Hafenarbeiter,
Seemann und–inden USA –
Landarbeiter, als Transportar-
beiter und Kutscher. In die Po-
litik zieht es ihn schon als Ju-

gendlichen. Erwird im Mai
1903 Mitgliedder SPD.
Im ErstenWeltkriegkämpft
er an der Westfront;im Herbst
1918 kehrter von einemFront-
urlaubnichtmehrzur Truppe
zurück.Ererlebtdie Revoluti-
on in Hamburg,er arbeitetdort
auf einerAbwrackwerft.Und
schließtsich der USPDan, der
aus demlinkenFlügelder SPD
hervorgegangenenPartei.
Auch die USPDführtFlügel-
kämpfe,sie zerbrichtbeimPar-
teitagin Halleim Oktober1920:
Die Fraktion,die von der Revo-
lutionin Russlandbegeistertist
und der auchder Delegierte
Ernst Thälmann angehört,
setzt ihre Forderung durch,
sichder KommunistischenIn-
ternationale anzuschließen,
dem Weltverbandaller kom-
munistischenParteienmit Sitz
in Moskau. Wenige Wochen
später gliedert sich die USPD-
Linke in der KPD ein. Damit
wächst die Partei um 350000
Mitglieder, erst jetzt ist sie eine
Massenpartei.

Schnell macht sich Thälmann
in der KPD einen Namen. Erer-
weist sich als ehrgeizig und
machtbewusst, seine Denkwei-
se kennt nur Genossen und
Gegner. Im Oktober 1923 will er
den bewaffneten Aufstand ins
Volk tragen, auf eigene Faust,
gegen einen Beschluss der Par-
tei. Der Hamburger Aufstand
scheitert nach drei Tagen. Beim
folgenden Parteitag macht
Thälmann–der vermeintliche
Held der Barrikaden verfolgte
den Aufstand aus sicherer Ent-
fernung–dafür die mangelhaf-
te Bolschewisierungder Partei
verantwortlich.
Moskau wird auf Thälmann
aufmerksam.GrigoriSinowjew,
enger Weggefährte Stalins (und
später Opfer der stalinistischen
Säuberungen), hält ihn für „das
Gold der Arbeiterklasse“.
Im Frühjahr 1925 kandidiert
Thälmann bei der Wahl des
Reichspräsidenten. Obwohl er
im ersten Wahlgang nur sieben

Prozent der Stimmen be-
kommt,hält er seineKandida-
tur aufrecht.Der zweiteWahl-
gang bringtihm6,4 Prozent.
Damit verhindert er –wohl
sehr bewusst–die Wahldes de-
mokratischen Zentrumpoliti-
kersWilhelmMarx,Kandidat
der bürgerlichenParteien.Der
unterliegtmit drei Prozentwe-
nigerStimmendemparteilosen
PaulvonHindenburg,Kandi-
dat der rechtenParteien.
StalinsEinflussmachtThäl-
mannim selbenJahrzumVor-
sitzendender KPD.Da führter
bereitsden Rotfrontkämpfer-
bund,der schonbaldTausende
in seinenBannundgegendas
Reichsbanner der SPD, den
Stahlhelmund die SA zu Felde
zieht.Ernimmtmit erhobener
Faustdie Paradenab.
Wieum Stalinwirdauchum
Thälmann ein Führerkult auf-
gebaut. Moskau will ihn zum
Theoretiker des deutschen
Kommunismus aufbauen. Da-
bei ist er mehr ein Mann der
Tat denn des Wortes.
Die Frage, ob Thäl-
mann seiner ihm zuge-
dachten Aufgabe ge-
wachsen ist, stellen
schonZeitgenossen.Cla-
ra Zetkin, einflussrei-
ches Mitglied der KPD,
charakterisiert die Par-
tei im September 1927
als „schwach und unfä-
hig“, geprägt durch
„Herausbildung kleiner
Kliquen, persönliches
Intrigieren, Gegenei-
nanderarbeiten“. Thälmann
wirft sie vor, dass er „kenntnis-
los und theoretisch ungeschult
ist, in kritiklose Selbsttäu-
schung und Selbstverblendung
hineingesteigert wurde, die an
Größenwahnsinn grenzt (...).“
Für Stalin bleibt Thälmann
erste Wahl. Das zeigt sich, als
die Führungsspitze der KPD
ihn im September 1928 von sei-
nen Ämtern entbindet; er deck-
te einen Genossen, der Partei-
gelder unterschlagen hatte.
Nach Druck aus Moskau ist er
zehn Tage später wieder im
Amt; fortan verfolgt er noch er-
gebener die Moskauer Weisun-
gen.
Die Weisungen orientieren
sich an der „Sozialfaschismus-
these“, von Grigori Sinowjew
1924 aufgestellt (und von der
Komintern bis 1935 vertreten).
Sie besagt: Die Sozialdemokra-

KPD-Führer Ernst Thälmann:


VonStalin im Stich gelassen,


auf Hitlers Befehl in der Haft


erschossen–vor 75 Jahren


TTTTeddyseeedddddddyyysss

TTragödieTTrrraaggöööddiiieee

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JOURNAL


Moskaubetrachtet


Thälmannals„Gold


derArbeiterklasse“,


Kritikerrügenseine


„Selbstverblendung“.


„Stimme und
Faust der
Nation“:
So preist ein
Lied aus dem
Jahre
Ernst Thälmann,
hier zu sehen
bei einerRede.

Aufmarsch des
Rotfrontkämpfer-
bundes in Berlin,
vermutlich 1927.
Ernst Thälmann
(vorne links) ist
Vorsitzender des
paramilitärischen
Kampfverbandes
der KPD.

Fotos: dpa pictur

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