von astrid viciano
M
anchmal sind Medikamente
mehr als nur ein Hilfsmittel ge-
gen Kopfschmerzen oder Infektio-
nen. Manchmal stehen sie für Hoffnung
und Lebensmut. Edavarone ist so eine Arz-
nei. Sie wird zur Therapie der Amyotro-
phen Lateralsklerose, kurz ALS, einge-
setzt, jener tödlich verlaufenden degenera-
tiven Erkrankung, an der auch der berühm-
te Physiker Stephen Hawking litt. Die Ner-
venzellen werden dabei irreversibel ge-
schädigt, Edavarone soll das bremsen.
Vor vier Jahren wurde der Wirkstoff un-
ter dem Handelsnamen Radicut in Japan
und Südkorea zugelassen, vor zwei Jahren
unter dem Namen Radicava in den USA, in
diesem Jahr in der Schweiz. Die Genehmi-
gung der europäischen Arzneimittelbehör-
de EMA schien der nächste, logische
Schritt zu sein. Dann würden auch Patien-
ten der EU die Kosten der Therapie von den
Krankenkassen erstattet.
Doch vor drei Monaten zog der Herstel-
ler des Medikaments seinen Antrag auf Zu-
lassung bei der EMA zurück. „Das bedau-
ern wir sehr“, sagt Thomas Meyer, Leiter
der Ambulanz für ALS und andere Moto-
neuronerkrankungen an der Charité in Ber-
lin und stellvertretender Sprecher der
Kommission für ALS und neuromuskuläre
Erkrankungen der Deutschen Gesellschaft
für Neurologie. Auch wenn technische Fort-
schritte es ALS-Patienten heute ermögli-
chen, deutlich länger ein selbstbestimm-
tes Leben zu führen, setzen viele Betroffe-
ne im Frühstadium auf Edavarone.
Der Rückzug des Zulassungsantrags hat
nicht nur eine Diskussion um das Medika-
ment entfacht. Die Debatte ist für weit
mehr als jene 400 Menschen relevant, die
jedes Jahr in Deutschland neu an ALS er-
kranken. Die Situation wirft vielmehr die
Frage auf, wie viel Mitgefühl für kranke
Menschen im Gesundheitswesen möglich
ist. Genügen starke Hinweise auf die Wirk-
samkeit eines Medikaments, um Patienten
mit einer tödlich verlaufenden Erkran-
kung damit zu versorgen? Wie sollen
Politik, Krankenkassen und Ärzte agieren,
wenn der Effekt einer Behandlung wahr-
scheinlich, aber nicht vollends sicher ist?
Es geht um die Frage, ob im Zweifel für
oder gegen eine solche Therapie zu ent-
scheiden ist, wenn die Patienten nur noch
wenige Jahre zu leben haben und nur ein
einziges anderes Medikament zur Verfü-
gung steht.
Es geht um Menschen wie Christian Bär.
Seit anderthalb Jahren erhält er als ALS-
Patient Edavarone. Im Jahr 2016 hatte der
Informatiker von seiner Erkrankung erfah-
ren. Zunächst war ihm nur eine Schwäche
im rechten Arm aufgefallen, innerhalb we-
niger Monate wurde er zum Pflegefall. Sei-
ne Muskeln in Armen und Beinen sind ver-
kümmert, er wird künstlich beatmet, Fra-
gen beantwortet der 40-Jährige mithilfe
eines Sprachcomputers, den er mit seinen
Augenbewegungen steuert. „Edavarone
ist für mich eine wichtige Erweiterung der
Therapiemöglichkeiten“, schreibt Bär.
Warum also hat der Hersteller Mitsubi-
shi Tanabe den Zulassungsantrag bei der
EMA zurückgezogen? Dafür muss man zu-
nächst wissen, wie sich die europäische Be-
hörde zu Edavarone geäußert hat. Bevor
die EMA über einen Antrag entscheidet,
gibt sie erste Einschätzungen zu den Anträ-
gen ab. Zu Edavarone ließ die EMA durch-
blicken, dass sie den Antrag würde ableh-
nen müssen. Die für die Zulassung einge-
reichte klinische Studie entspreche nicht
den europäischen Standards. Sie sei nur
über sechs Monate gelaufen, gefordert sei
die doppelte Zeit. Die Patienten in der The-
rapiegruppe seien zu Beginn in besserer
Verfassung gewesen als jene der Kontroll-
gruppe. Vor allem habe die Studie nicht un-
tersucht, ob ALS-Patienten durch die Be-
handlung länger überleben als andere.
Stattdessen beobachteten die Forscher,
dass Edavarone die Verschlechterung der
Körperfunktionen verlangsamen kann.
Auf einer Messskala für ALS-Patienten
schnitten die behandelten Probanden in ih-
rer Punktzahl um 30 Prozent besser ab, so-
wohl im Vergleich zum üblichen Verlauf
der Erkrankung als auch zur Kontrollgrup-
pe. „Das allein sollte bei einer Erkrankung
mit so wenigen Therapieoptionen Grund
genug sein, die Patienten damit zu behan-
deln“, sagt der Hersteller. Den Zulassungs-
behörden anderer Länder genügte das.
Doch die EMA hielt bereits vor Jahren in
speziellen Richtlinien fest, dass ein ALS-
Medikament auch das Überleben der Pati-
enten verlängern muss, damit es zugelas-
sen werden kann. „Das ist historisch zu be-
gründen“, sagt der Berliner Neurologe Mey-
er. Im Jahr 1996 nämlich wurde das ALS-
Medikament Riluzol in Deutschland zuge-
lassen, es verlängert laut der Zulassungs-
studie das Überleben um durchschnittlich
drei Monate. „Seither wurden die Ansprü-
che an ein ALS-Medikament sehr hoch ge-
steckt“, sagt Meyer. Keine weitere Arznei
gegen ALS wurde seither in Deutschland
oder der EU zugelassen.
Die EMA habe es sich mit ihrer Entschei-
dung nicht leicht gemacht, erklärt der Ber-
liner Neurologe. Doch sei es an der Zeit, die
Richtlinien zu überdenken. Andere Medizi-
ner sehen das ähnlich. „Die EMA hält sich
an ihre alten Richtlinien wie an ein Gesetz-
buch, dabei haben wir längst neue veröf-
fentlicht“, sagt etwa Markus Weber, Leiter
des Muskelzentrums und der ALS-Klinik
des Schweizer Kantonsspitals St. Gallen,
der auch als Berater für Mitsubishi Tanabe
tätig ist. 140 internationale ALS-Experten
haben erst im April im FachblattNeurology
neue Richtlinien zu ALS-Studien veröffent-
licht. Darin heißt es, dass klinische Studien
künftig neben dem Überleben auch den
Funktionserhalt der ALS-Patienten unter-
suchen sollten. „Die meisten meiner Pati-
enten sagen mir, dass es ihnen wichtiger
ist, ihre Körperfunktionen möglichst lange
zu erhalten, als ein paar Monate länger zu
leben“, sagt Weber.
Christian Bär erklärt, seine Koordinati-
on verbessere sich nach den Infusionen
mit Edavarone. Er könne besser schlu-
cken, auch habe er mehr Kraft in der
Rumpfmuskulatur. „Der Verlauf hat an Ag-
gressivität eingebüßt“, schreibt Bär.
Dabei bestreitet keiner der ALS-Exper-
ten, dass die Zulassungsstudie des Herstel-
lers Schwächen hat. Sie bemängeln zum
Beispiel, dass nur 69 Patienten Edavarone
in der Studie erhielten. Auch ging es vielen
Teilnehmern der Therapiegruppe zu An-
fang der Studie besser als jenen der Kon-
trollgruppe, was einen Teil des langsame-
ren Krankheitsverlaufs erklären könnte.
„Hier liegt uns eine gut gemachte, klini-
sche Studie vor, eine größere Anzahl an Pro-
banden wäre jedoch wünschenswert gewe-
sen“, sagt Jörg Meerpohl, Leiter des Insti-
tuts für Evidenz in der Medizin am Univer-
sitätsklinikum Freiburg.
Auch dies sollten die ALS-Patienten wis-
sen. „Wir informieren unsere Patienten
über den Stand der Forschung und den
Ablauf der Therapie und lassen sie dann
entscheiden“, sagt Christoph Neuwirth,
stellvertretender Leiter des Muskelzen-
trums/ALS-Klinik des Kantonsspitals
St. Gallen, wo das Medikament seit Febru-
ar zugelassen ist.
Wie aber soll es für die ALS-Patienten in
Deutschland weitergehen? Der Hersteller
Mitsubishi Tanabe hat in einem Brief an
die EMA angekündigt, das Medikament in
der EU über sogenannte Härtefall-Pro-
gramme an die Patienten zu bringen. Da-
für stellt das Unternehmen den Wirkstoff
kostenlos zur Verfügung und verpflichtet
sich, Informationen zur Arzneimittelsi-
cherheit, zum Beispiel zu Nebenwirkun-
gen, zu sammeln. Doch das müsste der Her-
steller beim Bundesinstitut für Arzneimit-
tel und Medizinprodukte (BfArM) beantra-
gen, was bislang nicht geschehen ist.
Manchmal erstatten die gesetzlichen
Krankenkassen sogar die Kosten von nicht
zugelassenen Medikamenten. Wenn die Er-
krankung des Patienten lebensbedrohlich
ist, wenn es keine medikamentöse Alterna-
tivtherapie gibt und vor allem auch: wenn
Indizien für die Wirksamkeit des Präpa-
rats vorliegen. „Nun werden die gesetzli-
chen Krankenkassen neu abwägen müs-
sen, wie sie die Studienlage und die Rück-
nahme des Zulassungsantrags bewerten“,
so eine Einschätzung des GKV-Spitzenver-
bands.
Oft lassen die gesetzlichen Krankenkas-
sen die Anträge der ALS-Patienten auch
vom Medizinischen Dienst der Kranken-
kassen (MDK) prüfen. „Für die Patienten
ist das natürlich schrecklich, aber wir kön-
nen seit dem Rückzug des EMA-Antrags
keine Übernahme der Therapiekosten
mehr empfehlen“, sagt Lili Grell vom MDK
Westfalen-Lippe. Der Medizinische Dienst
beruft sich dabei auf ein Urteil des Bundes-
sozialgerichts zu einem anderen Medika-
ment. „Hier werden Parallelen gezogen,
ohne das juristisch vor Gericht zu prüfen.
Das ist skandalös“, sagt Jan Koch, der Lei-
ter der Göttinger Spezialambulanz für
Amyotrophe Lateralsklerose und andere
Motoneuronerkrankungen.
Bereits jetzt lassen viele Kliniken recht-
lich prüfen, ob sie oder die Patienten be-
fürchten müssen, auf den Kosten sitzen zu
bleiben. An der Universitätsmedizin Göt-
tingen wurde ein Antrag auf Therapie mit
Edavarone abgelehnt, ein anderer Neurolo-
ge berichtet dagegen, dass die Kosten wei-
terhin erstattet würden. „Es ist das erste
Medikament in mehr als 20 Jahren, das ei-
ne Wirksamkeit bei ALS zeigt. Das sollte
bei der Abwägung eine Rolle spielen“, sagt
der Neurologe Weber.
Auch Christian Bär findet, dass ALS-Pa-
tienten die Möglichkeit gegeben werden
sollte, diese Chance zu nutzen. „Stattdes-
sen werden Patienten in die Position ge-
bracht, bei den Krankenkassen um Kosten-
übernahme zu betteln“, sagt der Informati-
ker. Das verletze die Würde der Patienten.
Selbst wenn die Ärzte statt des teuren Prä-
parats von Mitsubishi Tanabe günstigere
Nachahmer-Präparate verschreiben, kos-
tet die Behandlung fast 1000 Euro pro Mo-
nat.
Immerhin soll noch in diesem Jahr in
den USA und auch an der Charité in Berlin
eine klinische Studie zu Edavarone in Ta-
blettenform beginnen. „Vielleicht werden
diese Daten nochmals bei der EMA einge-
reicht“, sagt der Neurologe Meyer. Für die
Patienten wären die Pillen ein echter Fort-
schritt: Viele von ihnen scheuen bislang
den Aufwand der Infusionen, die sie bei
der Therapie mit Edavarone zehn Tage
lang für mehrere Stunden über sich erge-
hen lassen müssen.
Christian Bär hofft, mit Edavarone wich-
tige Lebenszeit zu gewinnen, weniger für
sich, sondern für seine Ehefrau und seinen
dreijährigen Sohn. „Dass ich sterben wer-
de, liegt in der Natur der Sache. Aber es hät-
te noch Zeit.“
In der Arktis haben Meteorologen ver-
gangene Woche innerhalb eines Tages
rund 50 Blitzeinschläge detektiert. Be-
denkt man, dass es weltweit etwa 44 Mal
pro Sekunde blitzt, erscheint das zunächst
alles andere als spektakulär. Außergewöhn-
lich ist jedoch weniger die Anzahl, sondern
eher der Ort der Einschläge. Wie das Büro
des National Weather Service in Alaska auf
Twitter schreibt, blitzt es im Umkreis von
300 Seemeilen rund um den geografischen
Nordpol so gut wie nie. „Der Rekord für
einen Tag lag bisher bei sechs Blitzeinschlä-
gen“, sagte Ryan Said dem MagazinNatio-
nal Geographic. Said ist Ingenieur bei Vai-
sala, einem finnischen Unternehmen für
Messtechnik. Am vergangenen Samstag de-
tektierten die Meteorologen 48 Blitze. Zu-
dem handelt es sich bei diesen, wie der US-
Wetterdienst in einer Erklärung schreibt,
um einige der „nördlichsten Blitzeinschlä-
ge seit Beginn der Aufzeichnungen“.
Um zu verstehen, warum Blitze am Nord-
pol derart selten sind, muss man wissen,
wie ein Gewitter üblicherweise entsteht:
Treffen kalte und trockene Luftmassen
auf feuchtwarme Luft, kommt es zu einer
starken Wolkenbildung. Dies führt zu ei-
ner atmosphärischen Instabilität, die sich
vereinfacht gesagt in Blitzschlägen ent-
lädt. An warmen Luftmassen mangelt es
rund um den Nordpol jedoch für gewöhn-
lich, da diese durch die riesigen Mengen an
Eis gekühlt werden. Daher gibt es am Nord-
pol so gut wie nie Gewitter. Forschern zufol-
ge könnten die auffallend vielen Blitze mit
der Erderwärmung in Verbindung stehen.
Heiße Saharawinde haben die Arktis in die-
sem Jahr stärker erwärmt als in den vergan-
genen Jahren, wodurch besonders viel Eis
geschmolzen ist und sich vermehrt warme
Luftmassen bildeten. Waren die arkti-
schen Gewässer früher selbst während der
Sommermonate zugefroren, so gab es in
diesem Jahr einige komplett eisfreie Mee-
resbereiche. Auch die großflächigen Wald-
brände in Sibirien – insgesamt sollen mehr
als drei Millionen Hektar Wald den Flam-
men zum Opfer gefallen sein – könnten zu
dem Effekt beigetragen haben, vermuten
Wissenschaftler.
Wer sich nun fragt, wie das Ganze von
Alaska aus überwacht werden kann, Tau-
sende Kilometer vom Nordpol entfernt:
Möglich macht es das „GLD360“, ein Netz-
werk aus GPS-Empfängern. Diese Senso-
ren sind so sensibel, dass sie Blitze in bis zu
9600 Kilometer Entfernung wahrnehmen
können. tohe
„Im Zweifel für den Patienten“
Erstmals seit 20 Jahren sollte ein neues Medikament zur Therapie der Nervenerkrankung ALS in der EU zugelassen werden.
Doch dazu kam es nicht. Ist das Gesundheitssystem in Europa weniger menschlich als anderswo?
Spannung
am Nordpol
Meteorologen registrieren
Blitz-Rekord in der Arktis
Manchmal erstatten die
Krankenkassen die Kosten von
nicht zugelassenen Medikamenten
Demnächst soll eine weitere
Studie beginnen, diesmal mit
dem Wirkstoff in Tablettenform
Genügen starke Hinweise auf die
Wirksamkeit eines Medikaments,
um Patienten damit zu versorgen?
Die tückische Nerven-
krankheit ALSschädigt
den Körper ihrer Patien-
ten, nicht aber den Geist.
Das haben schon viele
Menschen bewiesen, so
zum Beispiel der Physi-
ker Stephen Hawking.
Vor einigen Tagen zog der
an ALS erkrankte japani-
sche Politiker Yasuhiko
Funago in das Oberhaus
des Parlaments seines
Landes ein (Bild). Seine
Erkrankung nimmt ihm
zwar die Sprache, nicht
aber die Stimme, die er
nun als Abgeordneter
einer Protestpartei bei
der Gesetzgebung Japans
hat. „Ich möchte jedem
Menschen mit Behinde-
rungen nahebringen, dass
es grenzenloses Potenzial
gibt“, erklärte Funago an
seine Leidensgenossen
gerichtet.FOTO: IMAGO
(^14) WISSEN Montag, 19. August 2019, Nr. 190 DEFGH
Menschen im
Leben ohne Brille.
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