von pia ratzesberger
E
r kennt die Nummern noch alle, aber
bald wird er sie nicht mehr brau-
chen. Er drückt schon heute nur
noch selten den Hörer gegen sein Ohr, um
von den Wünschen seiner Kunden zu erzäh-
len. Der Reise nach Kreta, dem Marathon
in New York.
500 600 01 zum Beispiel. Die Zentrale
von Studiosus. Das hat man im Kopf nach
all den Jahren, sagt Gerhard Lind und
lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, ver-
schränkt die Arme hinter seinem Kopf. Die
Ärmel seines Polohemds spannen sich.
Wenn Lind aus seinem Büro im ersten
Stock schaut, sieht er einen blauen Anhän-
ger im Garten. Seinen Anhänger, mit dem
er neulich erst die Akten aus dem Keller
weggebracht hat. Lohnzettel, Reisekatalo-
ge. Abrechnungen. Zwei Tonnen Papier wa-
ren das.
Zwei Tonnen Papier, das sind drei Jahr-
zehnte, in denen Gerhard Lind Menschen
auf Reisen geschickt hat.
Bei manchen Nummern, die er auswen-
dig runter rattert, hebt heute niemand
mehr ab. 2101 500 zum Beispiel. Die frühe-
re Zentrale von Tui in München. Hat sich
eingebrannt, sagt Lind und tippt mit dem
Finger an seine Schläfe. Wenn er nicht
schon erzählt hätte, dass er lieber angelt
als Golf spielt, könnte man ihn sich mit der
hellen Stoffhose gut auf dem Golfplatz vor-
stellen. Die Schläger aber bleiben meistens
in der Ecke seines Büros. Er hat sein Leben
lang Reisen verkauft, den Traum von der
Auszeit, auf die manche Monate sparen,
manche Jahre. Eine Auszeit, die alles wett-
machen soll, was man Zuhause ertragen
muss. Er hat Reisen an junge Paare ver-
kauft und an ältere Witwen, an Familien
mit Kindern, an Familien ohne Kinder, an
Alleinstehende, an Marathonläufer, an
Radfahrer. An Einsame. Einmal verstarb
ein Kunde im Hotelbett in Thailand. Lind
sagt: „Im Laufe der Jahre muss man in mei-
nem Job auf viele Beerdigungen gehen.“
Wenn sich Gerhard Lind an seinem
Schreibtisch aus dunklem Holz umdreht,
sieht er ein Bild von einem Segelboot, ein
Bild vom Meer. Vielleicht die Ostsee, sicher
ist er sich nicht. Ein Erbstück der Tante.
Wenn er sich nach links dreht, sieht er ein
Bild von New York, die Brücke in Manhat-
tan, ein altes Werbeplakat. Kein anderer
Geruch hat sich ihm so eingebrannt, auch
wenn er München liebt, überhaupt Ober-
bayern, die ganze Gegend. Danach kommt
New York. Die heiße Luft aus den Schäch-
ten im Boden. Die Imbisse mit den Brezen.
Er war schon Dutzende Male in der Stadt,
in der sich Sehnsüchte über die Straßen le-
gen wie feiner Staub. „Aber jetzt ist das mit
den großen Reisen vorbei“, sagt Lind. „Das
sollen andere machen.“
Das hat vielleicht damit zu tun, dass Ger-
hard Lind 73 Jahre alt ist. Vor allem aber da-
mit, dass der Leiter des Reisebüros Galaxis
im Süden von München, Haltestelle Holz-
apfelkreuth, daran zweifelt, ob die vielen
Reisen, an denen er Jahrzehnte verdient
hat und noch immer verdient, wirklich
sinnvoll sind. „Das Reisen erweitert den
Horizont, das schon.“ Er glaubt nicht, dass
Reisen immer schaden. „Aber die unglaub-
liche Masse tut es.“ Ob er wieder ein Reise-
büro übernehmen würde, wenn er noch
einmal anfangen könnte? „Vielleicht wäre
ich auch Ökoberater oder so.“
Gerhard Lind drückt sich aus seinem
Stuhl, läuft über den Teppich aus der Tür-
kei, über den Teppich aus Teheran. Die Stu-
fen in den Flur hinunter, durch die Keller-
tür. Vor ihm einfache Holzregale, nur in
manchen liegen Kataloge. Die Stapel sind
fast nie höher als ein dicker Aktenordner.
Spanien und Portugal. Karibik und Mexi-
ko. Im Raum nebenan die gleichen Regale
mit ein paar Katalogen für den Winter.
„Früher brauchte ich so einen Winterkeller
für das viele Papier“, sagt Lind. Früher
schleppten die Kunden Dutzende Kataloge
mit nach Hause, auch wenn sie keinen Ur-
laub planten, blätterten sie durch Bilder
von Pools und Palmen. Früher kamen Kun-
den durch die Tür, die keine Ahnung hat-
ten, wo sie hinfahren wollten. „Da hatte ei-
ner eine Vorstellung von Italien und ist
dann doch nach Griechenland gefahren.“
Heute kommen die Menschen mit festen
Bildern im Kopf. Aber sie kommen noch.
Ein Reisebüro wie das von Lind mit zwei
bis drei Mitarbeitern macht in Deutsch-
land im Schnitt etwa 1,6 Millionen Euro
Umsatz im Jahr. Das Reisebüro Galaxis an
der Haltestelle Holzapfelkreuth macht
mehr als 2,5 Millionen Euro Umsatz.
In den Telefonbüchern stehen viele
Nummern älterer Stammkunden, mit ab-
bezahlten Häusern und geerbten Grund-
stücken, und auch deren Enkel buchen wie-
der im Reisebüro. Blättert man sich durch
die Schlagzeilen der vergangenen Jahre,
dann liest man: „Reisebüros dürfen wieder
hoffen“ – „Die Renaissance des Reisebü-
ros“ – oder „Reisebüros sterben nicht aus“.
Das trifft zumindest auf die zu, die übrig ge-
blieben sind. Wenn Gerhard Lind früher
vor seinem Geschäft stand, sah er auf der
anderen Straßenseite ein zweites Reisebü-
ro. Das hat mittlerweile geschlossen. Ein
Drittel der Reisebüros in München hat in
den vergangenen zehn Jahren zugemacht,
acht Büros verkaufen ausschließlich im In-
ternet.
Lind lehnt sich zurück an seinem
Schreibtisch, links das Bild aus New York.
Er ist das erste Mal in einem Alter geflo-
gen, in dem Teenager heute auf drei Konti-
nenten unterwegs waren. Von Hamburg
nach Stockholm, das war eine Strecke, die
er bezahlen konnte. Eine Strecke, die er
nicht bezahlen konnte, war New York. Kurz
vor Ende seiner Lehre zum Reisebürokauf-
mann, trampte er bis nach Göteborg und
schlich sich im Hafen auf eines der Fracht-
schiffe. Auf den Bermudas griff ihn die Poli-
zei auf, die deutsche Botschaft musste das
Geld für die Rückfahrt vorstrecken. Lind
weiß, wie viel Reisen kosten, wie viel Rei-
sen auch kosten müssen. „Ich verabscheue
die Billigflieger.“ Er betreut schon lange
nur noch ein paar Stammkunden, aber er-
innert sich, wie viele plötzlich nicht mehr
kamen, weil sie erst im Internet buchten –
und sich irgendwann doch wieder ins Rei-
sebüro setzten. „Mit dem Tablet auf den
Knien.“ Die Menschen waren es leid, sich
durch hunderte Angebote zu graben: „Nur
noch ein Zimmer!“ – „Leider schon weg!“–
„Jetzt sofort buchen!“ – „Bester Preis!!!“
Lind sagt: „Wenn Sie von München nach
Stockholm fliegen wollen, ist es natürlich
am einfachsten im Internet zu buchen.
Wenn Sie aber über Köln fliegen möchten,
wird es schon kompliziert.“ Wenn seine
Kunden bei ihm aus der Tür gehen, haben
sie im Schnitt 1500 Euro für eine Reise aus-
gegeben. Manchmal sind es auch 30 000
Euro. Eine Kundin fliegt jedes Jahr nach
Norwegen, nach Bergen, von dort fährt sie
mit dem Schiff weiter, die Küste entlang.
In diesem Jahr fragte sie zum ersten Mal,
ob sie die Reise nicht ohne Flugzeug ma-
chen könne. Das hätte 22 Stunden gedau-
ert, hätte deutlich mehr gekostet. Sie flog
dann doch. Lind wünscht sich seit Jahren
eine Kerosinsteuer.
In seinem kleinen Reisebüro an der Hal-
testelle Holzapfelkreuth erfährt man, wie
sich in den vergangenen Monaten, zumin-
dest für einen kleinen Teil der Gesell-
schaft, der Blick aufs Reisen verändert hat
- aber auch, wie Menschen daran schei-
tern, die Ansprüche an sich selbst zu erfül-
len. Vielleicht würde ein Ökoberater hel-
fen. Der dunkle Schreibtisch, an dem Lind
im ersten Stock sitzt, würde jedenfalls gut
in eine Unternehmensberatung mit hohen
Decken passen, nicht aber in die enge Woh-
nung in Sendling, der man ansieht, wann
sie bezogen wurde. Anfang der 1980er Jah-
re hat sich Lind in das Büro eingekauft, ei-
ne gute Zeit fürs Reisen. Die Menschen hat-
ten mehr Geld und mehr Urlaubstage. Ihre
Radien wurden größer, wie Kreise im Was-
ser, wenn man einen Stein hineinwirft.
Galt nach dem Krieg als wagemutig, wer
den Brenner überquerte, verkaufte Ger-
hard Lind in den 1980ern Tickets auf die Ca-
naren. Lanzarote, Teneriffa, Gran Canaria,
Fuerteventura. Die Veranstalter luden ihn
zu langen Touren ein, um ihr Programm an-
zupreisen, Lind flog im Jumbo nach Austra-
lien, rauchte Pfeife an Board. Auf der Höhe
des Irans war das Bier in der Maschine aus,
aber selbst das konnte die Stimmung nicht
trüben. Die Fluggesellschaften zeichneten
immer neue Linien in die Karten ein. „Das
war die Hochzeit“, sagt Lind.
Damals hatte er draußen im Garten, wo
heute der Anhänger steht, einen Wohnwa-
gen geparkt, weil im Haus kein Platz mehr
war für seine 16 Leute. Heute gibt es im ers-
ten Stock einen Besprechungsraum. Im
zweiten Stock einen Ruheraum. Ein Mitar-
beiter hat sich noch ein Trainingszimmer
eingerichtet, mit Hanteln. Die drei Schreib-
tische im Erdgeschoss, hinter der Ein-
gangstür, gehören dem Mitarbeiter, einer
Auszubildenden, einer Geschäftsleiterin.
Gerhard Lind will nächstes Jahr in den Ru-
hestand gehen.
Er will nächstes Jahr nach Polen fahren,
an die Grenze zu Litauen. Nur er und die
Seen, vielleicht ein Kanu, ziemlich sicher ei-
ne Angel. Er wird kein Hotel buchen. Er
mag keine Rezeptionen, keine Frühstück-
buffets, die vielen Augen, die einen beob-
achten, wenn man den Teller zurück zum
Tisch bringt. „Ein Reisebüro würde an mir
nichts verdienen“, sagt Lind.
Er will auch im Ruhestand noch arbei-
ten, dann ehrenamtlich. Er liebt es, mit
dem Auto durch die Stadt zu kurven, will äl-
tere Menschen durch die Gegend fahren.
Zum Arzt, zum Bäcker. Zum See.
Er wird nicht mehr an seinem Schreib-
tisch sitzen, im Reisebüro Galaxis, im ers-
ten Stock. Haltestelle Holzapfelkreuth. Er
wird nicht mehr die 500 600 01 wählen
und erst nicht die 2101 500. Aber Gerhard
Lind wird noch immer Menschen von ei-
nem Ort zum nächsten bringen. Nur die
Strecken werden kürzere sein.
24 °/16°
EinDrittel der Reisebüros in
München hat in den vergangenen
zehn Jahren zugemacht
Verbaut
Heiner Müller-Ermann
hat Jahrzehnte gegen
die Isentaltrasse gekämpft
Bayern, Seite R13
Von Holzapfelkreuth in die weite Welt
GerhardLind verkauft in seinem Reisebüro seit Jahrzehnten Urlaubsträume und trotzt der Konkurrenz im Internet.
Die Auswüchse des Massentourismus sieht er inzwischen kritisch: „Ich verabscheue die Billigflieger.“
Er will nächstes Jahr nach
Polen fahren, an die Grenze
zu Litauen. Nur er und die Seen
Verzockt
Das Las Vegas City an
der Bayerstraße war
Europas größte Spielhalle
München, Seite R2
Gleich nach München
und Oberbayern kommt
bei ihm New York
München– Mehrere Minuten lang konnte
ein Mann am Freitagmittag auf dem Vik-
tualienmarkt ungestört antisemitische Pa-
rolen rufen, bis schließlich ein Passant die
Polizei verständigte. Er hatte den Rufer fo-
tografiert, und weil dieser Fankleidung
trug, leiteten die Polizisten die Bilder an
die Kollegen beim Fußballspiel zwischen
Herta BSC und dem FC Bayern weiter. Dort
erkannten Einsatzkräfte den Mann wieder
und nahmen seine Personalien auf. Es han-
delte sich um einen 29-Jährigen aus Ber-
lin. Das für rechtsextremistisch motivierte
Straftaten zuständige Kommissariat 44 er-
mittelt nun gegen ihn wegen Volksverhet-
zung und Beleidigung. anh
von dominik hutter
W
as genau wohl ein Büroverse-
hen sein mag? Ist da vielleicht
ein Blatt Papier in den Spalt zwi-
schen Schreibtisch und Wand geraten, an
dessen Existenz man sich erst nach zufäl-
liger Wiederentdeckung durch einen Ma-
lertrupp erinnerte? Hat jemand wichtige
Verwaltungsdokumente verbotenerwei-
se mit nach Hause genommen, die letzte
Woche bei einer Anti-Messie-Aktion in ei-
ner heillos zugemüllten Wohnung wieder-
gefunden wurden? Oder hat einfach ein
Sachbearbeiter etwas vergessen, was
ihm zehn Jahre später siedendheiß wie-
der eingefallen ist?
Jedenfalls war ein Büroversehen
schuld daran, dass der 2009 von Johann
Altmann gestellte Antrag zur Verkehrssi-
cherheit im (damals nagelneuen) Richard-
Strauss-Tunnel erst jetzt beantwortet
werden konnte. Immerhin: Altmann ist
noch immer im Stadtrat, wenn auch nicht
mehr für die Freien Wähler, sondern für
die Bayernpartei. Der Oberbürgermeis-
ter hieß damals noch Christian Ude, Ba-
rack Obama wurde erstmals zum US-Prä-
sidenten und Frank-Walter Steinmeier
nicht zum Bundeskanzler gewählt. In
eben diesem denkwürdigen Jahr hatte
Altmann eine knifflige Verkehrssituation
zwischen Richard-Strauss-Tunnel und
Effnerplatz ausgemacht. Dort überfuh-
ren immer wieder Autos verbotenerwei-
se eine durchgezogene Linie.
Was durchaus Folgen hatte in der
Stadtverwaltung, wie Altmann nun nach
schlappen zehn Jahren erfahren durfte.
Es gab gleich mehrere Ortstermine an je-
nem Brennpunkt der Münchner Ver-
kehrs-Anarchie, die allerdings – so be-
richtet nun das Kreisverwaltungsreferat
- „alle ergebnislos endeten“. Zwar wurde
überlegt, sogenannte Bischofsmützen zu
montieren, also Leiteinrichtungen mit
hochstehenden überfahr-, weil klappba-
ren Begrenzungen. Das hätte allerdings
Schwierigkeiten mit dem Winterdienst
gegeben, weshalb diese Lösung (wie of-
fensichtlich auch die Rückmeldung an
den Antragsteller) „nicht weiter forciert
wurde“.
Was übrigens ein Segen für den Steuer-
zahler war. Denn im Nachhinein hat sich
herausgestellt: Die Stelle ist „unauffäl-
lig“, also kein Unfallschwerpunkt. Passt
also alles, auch ohne die Bischofsmützen.
Wer trotzdem die durchgezogene Linie
überfährt, muss halt mit Polizeikontakt
rechnen – falls er denn erwischt wird. We-
der Polizei noch Kreisverwaltungsreferat
sehen jedenfalls irgendeinen akuten
Handlungsbedarf in puncto Verkehrssi-
cherheit. Nach zehn Jahren weiß man so
etwas. Und ist erst einmal das Büroverse-
hen überwunden, dann wissen es auch al-
le anderen.
So sieht die analoge Welt des Reisebüros aus. Viele Kunden schätzen persönliche Beratung wieder, weil sie im Durcheinander des Internets zu viel Zeit verplempern.
Er weiß, wo es hingeht: Gerhard Lind vor seinem Reisebüro in Sendling. Nächstes
Jahrwill er in den Ruhestand gehen. FOTOS: ALESSANDRA SCHELLNEGGER
Heute mit
vier Seiten
Beilage
Fußballfan ruft
antisemitische Parolen
MÜNCHNER MOMENTE
Antwort aus
der Vergangenheit
NR. 190,MONTAG, 19. AUGUST 2019 PGS
Zwischen den Wolken findet die Sonne nur
wenige Lücken. Zeitweise gibt es Schauer,
vereinzelt auch Gewitter. Seite R14
Sport lokal
FOTOS: S. BECK, F. PELJAK
Vergessen
Das Emerenz-Meier-Haus in Schiefweg
erinnert andie Zeit, als die Waldler
nach Amerika flüchten mussten
Kultur, Seite R16
DAS WETTER
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