Süddeutsche Zeitung - 19.08.2019

(Ron) #1

Zwei Mal wurden Polizeibeamte in der Lud-
wigvorstadtam Freitag angegriffen und
verletzt. Kurz nach Mitternacht wehrte
sich ein 41-Jähriger in der Goethestraße ge-
gen eine Ausweiskontrolle. Drei junge Män-
ner seien ihm zur Seite gesprungen und
hätten versucht, die in Zivil gekleideten
Beamten zu treten und zu schlagen, teilte
das Polizeipräsidium am Sonntag mit. Ei-
ner der Männer habe nach der Waffe eines
Polizisten gegriffen. Erst mit Unterstüt-
zung weiterer Streifen gelang es, die Situa-
tion unter Kontrolle zu bringen. Gegen die
Täter wurden Verfahren wegen gefährli-
cher Körperverletzung, Angriffs auf Voll-
streckungsbeamte und versuchter Gefan-
genenbefreiung eingeleitet. Am nächsten
Abend kurz vor 21 Uhr wehrte sich ein
24-Jähriger am Hauptbahnhof ebenfalls
gegen eine Personenkontrolle, schlug um
sich und trat einen Polizisten vor die Brust.
Ein anderer kam mit einer Verletzung am
Fuß ins Krankenhaus. Auch gegen den
24-Jährigen wird nun ermittelt. anh


von wolfgang görl

E


twa 15 Menschen sitzen auf dem Bo-
den, meist junge Leute, aber auch ei-
nige ältere, die vielleicht schon ge-
gen den Nato-Doppelbeschluss in den
Achtzigerjahren auf die Straße gingen, und
allmählich wird ihr anfangs zaghafter Ge-
sang immer lauter: „Auf die Barrikaden,
wehrt euch, leistet Widerstand.. .“ Sie ha-
ben einen Kreis gebildet, die Knie sind an-
gewinkelt, die Arme untergehakt. Hinter
ihrem Rücken haben Polizisten Stellung be-
zogen, die einen klaren Auftrag haben: die
Sitzblockade auflösen. Es beginnt ein Ge-
rangel. Die Polizisten zerren an den De-
monstranten, sie müssen beträchtliche
Kraft aufwenden, um die Verklammerun-
gen zu lösen. Ist einer der Sitzenden aus
dem Verbund herausgezogen, lässt er sich
widerstandslos wegtragen. Der Gesang
aber verstummt nicht. Es dauert etwa fünf
Minuten, bis die Blockade aufgelöst ist. Da-
nach: Erst einmal fröhliches Gelächter.
Es ist Samstagnachmittag, und hier in
der Mucca-Halle im Kreativquartier an der
Schwere-Reiter-Straße wird der Ernstfall
geprobt. Die Münchner Aktivisten von Ex-
tinction Rebellion (XR) haben zu einem
Training eingeladen, um Interessenten auf
Aktionen des zivilen Ungehorsams vorzu-
bereiten. Extinction Rebellion ist eine inter-
national agierende, zivilgesellschaftliche
Bewegung, die ihre Wurzeln in England
hat. Ihr Ziel ist es, „den nötigen umfassen-
den und tief greifenden Wandel zu errei-
chen, um das Risiko der Auslöschung der
Menschheit und des Kollapses unserer
Ökosysteme zu minimieren“. Dabei setzen
die Aktivisten auf gewaltfreie Aktionen, et-
wa Blockaden von Straßen und Brücken

oder auf „ Die-ins“, bei denen sich Demons-
tranten scheinbar tot auf den Boden legen,
um einen Missstand anzuprangern. Bei al-
len Aktionen ist Gewaltfreiheit oberstes
Prinzip. Am 7. Oktober will Extinction Re-
bellion in Berlin und weltweit in anderen
großen Städten wichtige Straßen und Plät-
ze blockieren, um die Regierungen zu zwin-
gen, wirksam gegen die Klimakatastrophe
und das Artensterben vorzugehen. Das Ak-
tionstraining in der Mucca dient der Vorbe-
reitung auf die Berliner „Rebellion“ und
soll, wie die Münchner XR-Sprecherin So-
fia Ritthammer sagt, „sicherstellen, dass je-
der weiß, worauf er oder sie sich einlässt,
und dass sich jeder wohl fühlt“.
Um dies zu erfahren, ist auch Barbara
Scharl gekommen, die in Landshut lebt
und als Landschaftsarchitektin arbeitet:
„Als mir klar wurde, dass die Menschheit
nur noch wenig Zeit hat, die Klimakatastro-
phe und das Aussterben der Arten zu ver-

hindern, habe ich mich entschieden, mich
dem Thema zu widmen und etwas zu bewe-
gen.“ Barbara Scharl ist schon auf vielen De-
monstrationen gewesen, aber sie hat das
Gefühl, dass die Proteste bei der Politik
nicht wirklich Gehör finden. Ihre 19-jähri-
ge Tochter Clara, die ebenfalls beim Akti-
onstraining dabei ist, sieht das ähnlich:
Zwar habe es einige Fortschritte in puncto
Klima- und Umweltpolitik gegeben, aber
„es passiert viel zu langsam“. Den beiden
Frauen leuchtet die XR-Strategie ein: extre-
me Aufmerksamkeit erzeugen, aber ohne
Gewalt. Clara Scharl würde es durchaus in
Kauf nehmen, von der Polizei festgenom-
men zu werden: „Wenn ich etwas Verbote-
nes gemacht habe, dann stelle ich mich
auch den Konsequenzen.“
Das Training dauert rund sieben Stun-
den, dabei geht es unter anderem um Fra-
gen zur Gewaltfreiheit und des zivilen Un-
gehorsams, um rechtliche Probleme und
um Tipps, was beispielsweise zu tun ist,
wenn man in Polizeigewahrsam genom-
men wird, und es gibt praktische Übun-
gen, etwa das Rollenspiel, bei dem eine Sitz-
blockade simuliert wird. Nach dem ersten
Durchgang ziehen die Akteure Bilanz, die
durchaus unterschiedlich ausfällt. Wer ei-
nen Polizisten mimte, hat naturgemäß
ganz andere Erfahrungen gemacht als ein
Demonstrant oder ein Passant. Die Polizis-
ten, sagt eine Frau, die in der Reihe der Blo-
ckierer gesessen hatte, „sind die Bösen, es
entsteht so eine Gegnerschaft“. Eine ande-
re Teilnehmerin hegte keinen Groll gegen-
über den „Polizisten“, für sie waren das nur
Leute, die ihren Job tun. Eine Polizistendar-
stellerin fand den Gesang „extrem nervig“,
den die Demonstranten wiederum als Mit-
tel erfahren haben, die Angst zu mindern.

David Böttcher, Trainer im Bereich Per-
sönlichkeitsentwicklung aus München,
hat eigentlich keine Lust, sich politisch zu
engagieren. Andererseits: Der Klimawan-
del, die vielfältigen globalen Bedrohungen


  • vielleicht sei es doch nötig, etwas zu tun.
    Böttcher möchte sich erst einmal informie-
    ren, deshalb ist er gekommen. Aktionen,
    wie sie Extinction Rebellion unternimmt,
    seien dann okay, wenn der Zweck die Mit-
    tel heilige. „Aber der Zweck muss stark
    sein. Und ich bin noch nicht so weit, dass
    ich dies einschätzen kann.“ Bioinformatik-
    Student Yannick Kiefl hingegen, der auch
    bei Fridays for Future aktiv ist, hat seinen
    Weg bereits gefunden: „Wir müssen die Po-
    litik unter Druck setzen. Und der Druck
    muss noch viel größer werden.“


Mittlerweile ist die Analyse des ersten
Rollenspiels abgeschlossen. Weitgehend ei-
nig ist man über den Befund, dass die Sze-
ne einen ziemlich gewalttätigen Eindruck
gemacht hat. Der Grund ist auch klar:
Wenn sich die Demonstranten mit unterge-
hakten Armen verklammern, ist Gewalt nö-
tig, die Verklammerung zu lösen. Tatsäch-
lich aber sollen XR-Aktionen friedlich ver-
laufen, davon, so das Credo, hängt ihr Er-
folg ab. „Bei uns kommt es auf die Perspek-
tive der Passanten an“, sagt Daniel Hei-
merl, der das Rollenspiel leitet. „Das Aller-
wichtigste ist, dass es nach außen gewalt-
frei wirkt.“ Was dahinter steckt, kann man
einem XR-Flugblatt entnehmen: Wer den
zivilen Ungehorsam strikt gewaltfrei be-

treibe, habe größere Chancen, andere Men-
schen dazu zu bringen, sich der Bewegung
anzuschließen. Und weiter: „Was die Öf-
fentlichkeit als gewaltvoll wahrnimmt, ist
Gewalt. Die eigene Interpretation ist nicht
alleine entscheidend.“
Heimerl ruft zu einem zweiten Rollen-
spiel auf. Diesmal sitzen die Demonstran-
ten unverklammert auf dem Boden, die Ar-
me unter den angewinkelten Knien ver-
schränkt. „Päckchen“ nennt Heimerl diese
Haltung. Immerhin, die Päckchen können
auch singen, doch diesmal verklingt das
Lied in sehr kurzer Zeit. Die „Polizisten“ ha-
ben wenig Mühe, die Päckchen eines nach
dem anderen davonzutragen. Wäre dies
ein Ernstfall, müsste man feststellen, dass
die Blockade nicht lange Bestand hatte.
Doch geht es auch nicht darum, irgendeine
Stellung zu halten, etwa ein Gleis zu beset-
zen, um einen Castor-Transport stoppen.
Was hier geprobt wird, sind symbolische
Blockaden, die die Öffentlichkeit aufrüt-
teln sollen.
Eine Teilnehmerin, die in die Rolle einer
Polizistin geschlüpft ist, sagt hinterher:
„Ich hatte das Gefühl, als ob ich Möbelstü-
cke wegtragen würde.“ Tatsächlich sah die
Szene nicht ansatzweise nach wildem Stra-
ßenkampf aus. So soll es nach der Vorstel-
lung der XR-Aktivisten auch sein. „Wir ra-
ten vom Unterhaken ab“, sagt Heimerl. Zu-
dem könnten die Rangeleien leicht außer
Kontrolle geraten und eskalieren – genau
das, was man vermeiden möchte. Und zu-
dem ist hier weitgehend Konsens, was eine
der Aktivistinnen unter Beifall formuliert:
„Ich gehe nicht in Aktionen gegen die Poli-
zei. Ich hab’ durchaus Wertschätzung und
Anerkennung für den Job, den sie macht.
Mit dieser inneren Haltung geh’ ich rein.“

Ältere Menschen und Kleinkinder leiden
besondersunter der ungewöhnlichen Som-
merhitze durch den Klimawandel. Ein Ehe-
paar aus Obergiesing wollte sein Kind vor
den unerträglichen Temperaturen schüt-
zen und installierte deshalb auf der Terras-
se vor seiner Wohnung im Erdgeschoss ei-
ner Wohnungseigentümeranlage eine Kli-
maaußenanlage. Doch die muss nun wie-
der entfernt werden, wie jetzt das Amtsge-
richt München in einem Zivilverfahren
(Az: 484 C 17510/18WEG) entschieden hat.
Geklagt gegen das Paar hatte die Woh-
nungseigentümergesellschaft (WEG). Sie
argumentierte, dass die Klimaanlage eine
bauliche Veränderung darstelle und ohne
Genehmigung im Mai vergangenen Jahres
errichtet worden sei. Überdies, so die
WEG, fühle man sich durch das „optische
Erscheinungsbild“ der mit weißen Holzlat-
ten verkleideten Anlage gestört und durch
die Leitungen, die von dem Gerät aus in
den Keller des Hauses führten. Nicht zu-
letzt missfiel den Klägern der erhebliche
Lärm, den die Klimaanlage bei Betrieb ver-
ursachte. Die beklagten Eheleute indes er-
klärten, ihr Kind leide sehr stark unter der


Sommerhitze. Diese werde in den kom-
menden Jahren wohl noch zunehmen. In
den heißesten Wochen des Jahres verrei-
sen könne das Paar mit dem Kind nicht. Au-
ßerdem werde das gemeinschaftliche Ei-
gentum durch den Einbau nicht tangiert.
Und eine Zustimmung für die Aufstellung
der Klimaanlage bräuchte es nur von den
unmittelbar betroffenen Nachbarn.
Nach Überzeugung der zuständigen
Richterin jedoch wurde die Klimaanlage in
„unberechtigter Weise ohne Genehmi-
gung der Wohnungseigentümergesell-
schaft“ errichtet. Eine „erhebliche Beein-
trächtigung der Wohnungseigentümer“ lie-
ge bereits darin, dass für die Versorgungs-
leitungen ein Loch in den Rahmen eines
Kellerfensters gebohrt wurde, der Gemein-
schaftseigentum sei. Darüber hinaus, so
heißt es im Urteil des Amtsgerichts, müsse
die Klimaaußenanlage schon allein des-
halb wieder entfernt werden, weil die Be-
klagten diese aufgestellt haben, ohne zu-
vor eine Genehmigung auf der Eigentümer-
versammlung einzuholen. Um ihr Klein-
kind vor der Sommerhitze zu schützen,
könnten die Beklagten auch eine Innenkli-
maanlage installieren, stellte die zuständi-
ge Richterin fest.
Die Berufung der Eheleute gegen diese
Entscheidung wurde vom Landgericht
München verworfen. Somit ist das Urteil
des Amtsgericht rechtskräftig. sal


„Das Allerwichtigste ist,
dass esnach außen hin
gewaltfrei wirkt.“

Blockade ja, aber friedlich: Aktivisten von Extinction Rebellion üben per Rollenspiel, wie es ist, von der Polizei weggetragen zu werden. Dabei geht es darum, den Eindruck von Gewalt zu vermeiden.FOTOS: FLORIAN PELJAK

Junge Männer verletzen


Polizisten bei Kontrolle


Widerstand üben für den Wandel


Die Münchner Aktivisten von Extinction Rebellion bereiten sich bei einem Training auf Aktionen des zivilen Ungehorsams vor.
Bei Rollenspielen proben Teilnehmer, wie sich eine Blockade friedlich gestalten lässt. Dabei entwickeln sie auch Verständnis für die Polizei

XR-Aktivistin Sofia Ritthamer zeigt, wie
man Passanten die Blockade einer Stra-
ße nachvollziehbar erklärt.

Die Installation sollte Schutz vor


der Sommerhitze bieten


Keine Klimaanlage


für Kleinkind


Auf Klage der Hausgemeinschaft
müssen Eltern das Gerät entfernen

DEFGH Nr. 190, Montag, 19. August 2019 (^) MÜNCHEN R3
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München, 07. September 2019
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