Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von peter münch

B


ei „Franz & Sophie“, gelegen in ei-
ner Seitenstraße in Sarajevo, treffen
sich die Freunde organischen Tees,

die Künstler und die Intellektuellen der


Stadt. Es ist ein eher buntes Volk, und mit-


tendrin sitzt ganz in Schwarz der Erneue-


rer des bosnischen Liebeslieds. Božo Vrećo


trägt einen schwarzen Hut zu schwarzem


Hemd und schwarzer Hose, schwarz ist der


Bart und das zum Pferdeschwanz gebunde-


ne Haar, schwarz sind die geschminkten


Ränder unter den Augen und die Tattoos,


die von den Händen bis zum Hals den


Körper schmücken. „Es ist das Schwarz


der Frauen vom Balkan“, sagt Vrećo und


schickt ein fröhliches, jugendliches La-


chen hinterher.


Frauenkleider und Vollbart sind schon

immer ein Markenzeichen des 35-jährigen


Sängers mit der gern als samtweich und


glockenklar beschriebenen Stimme gewe-


sen. Oft genug hat man ihn deshalb mit


Conchita Wurst aus Österreich verglichen.


Božo Vrećo betont bei allem Respekt lieber


die Unterschiede, die jenseits der Äußer-


lichkeiten vor allem darin liegen, dass er


sich nicht als Kunstfigur versteht und in-


szeniert, sondern nur „seiner Natur folgt“


und „traditionelle Lieder“ singt.


Er ist ein Freigeist, der sich nicht einord-

nen und nicht einfangen lassen will – nicht


durch ein klar definiertes Geschlecht,


nicht durch eine klar definierte ethnische


Zugehörigkeit. „Ich bin ein Mann und eine


Frau im selben Körper, ein Tenor und ein


Sopran“, sagt er. Obendrein lebt er, was


auch fast 25 Jahre nach Kriegsende bei


Weitem keine Selbstverständlichkeit ist,


als bosnischer Serbe aus Foča heute in der


Hauptstadt Sarajevo. Und dort hat er sich


auf jene folkloristischen Liebeslieder spezi-


alisiert, die vor allem in der dortigen bos-


niakischen, also muslimischen Tradition


gepflegt werden.


Sevdalinka heißt die Gattung, oder auch

Sevdah. Der Name wird abgeleitet vom tür-


kischen Wort für Liebe oder auch aus dem


Arabischen, wo sawda „schwarze Galle“


bedeutet. Beides ist passend, denn Sevdah


steht für Liebeslieder, die todtraurig sind


und furchtbar bitter. Es sind Lieder über


verlorene und unerwiderte Liebe. Die


Wurzeln dieser zumeist mit Akkordeon


vorgetragenen Musik liegen im 15. Jahr-


hundert. Es verschmelzen osmanische


und slawische Traditionen. Sevdalinka ist


für Bosnien, was der Fado für Portugal und


der Blues für die Schwarzen in Amerika ist



  • schwerblütig, schwermütig und überaus


beliebt.


Božo Vrećo kennt die Lieder seit Kinder-

tagen. Seine Mutter, eine Künstlerin, die er


gern als seine „Muse“ nennt, hat sie im Ra-


dio gehört. Bevor er selbst zur Musik kam,


hat er allerdings noch ein Archäologiestudi-


um in Belgrad abgeschossen. Dort, wo er


„Enttäuschungen erlebt und überlebt hat“,


vertiefte er seine Liebe zu den Liebeslie-


dern. „Es gibt eine Ähnlichkeit zwischen


der Archäologie und dieser Musik“, sagt er.


„Es geht um eine Suche in der Vergangen-


heit. Du musst durch die Zeit reisen.“


Der Sevdah zuliebe ist er nicht nur

durch die Zeit gereist, sondern auch von


Belgrad nach Sarajevo gezogen, zur Quelle


der Lieder. Als Autodidakt hat er sich in die


Musik vertieft. „Ich habe von den Größten


gelernt“, verkündet er. Seinen ersten Auf-


tritt hatte er in einem sehr kleinen, sehr


alten Café in der Altstadt von Sarajevo.


Heute arbeitet er an seinem sechsten Al-


bum und tourt auf der ganzen Welt. Durch


die USA im vorigen Jahr, durch Australien
in diesem Frühjahr, im September wird er
auch im Münchner Gasteig auftreten. „Die
Leute verstehen zwar die Texte nicht“, sagt
er, „aber sie verstehen die Emotion – und
bei der Musik geht es ja nicht darum, sie zu
übersetzen, sondern sie zu fühlen.“
Den Sevdah-Traditionalisten zum Trotz
ist Božo Vrećo stets auf der Suche nach
dem eigenen Stil. „Ich will ein Original sein
und keine Kopie“, sagt er, „und ich will die
traditionelle Musik aus einer Box be-

freien.“ Was ihm vorschwebt, ist eine „Sev-
dah-Renaissance“. Dabei darf die tief-
traurige Folklore auch mal tanzbar sein.
„Die Lyrik bleibt immer tragisch, aber die
Musik soll Hoffnung geben“, meint er.
Auch wenn die Konzerte stets ausver-
kauft sind, ist Božo Vrećo für die konserva-
tive Gesellschaft in Bosnien immer noch
eine Herausforderung – mit seinem Auftre-
ten, mit seinem Lebensstil. Von der Politik,
die auf dem Balkan das Zusammenleben
zerklüftet, hält er sich fern: „Mit diesem

Müll will ich mich nicht mehr beschäfti-
gen. Wir haben den Krieg überlebt, und ich
möchte mich aufs Gute konzentrieren.“
Das Gute ist seine Musik, und vor über-
frachteten Botschaften hütet er sich: „Ich
will nur mein Leben leben“, sagt er, „aber
wenn ich für mich selber kämpfe, kämpfe
ich auch für alle anderen mit.“ Dass er da-
für nicht von allen geliebt wird, nimmt er
gelassen in Kauf: „Die bösen Leute mögen
mich nicht, und das ist in Ordnung so.
Mein Publikum, das sind die guten Leute.“

Das Atomium mag fotogener sein – das be-


eindruckendste Bauwerk Brüssels hat sich


aber sowieso schon lange nicht mehr bli-


cken lassen. Seit bald vier Jahrzehnten ist


der Justizpalast eingerüstet, jüngere Brüs-


seler kennen das Gebäude gar nicht ohne


seinen stählernen Mantel. Erst im Früh-


sommer befasste sich ein Comicband mit


der Dauerbaustelle: In „Der letzte Pharao“,


der jüngsten Folge der Reihe „Blake & Mor-


timer“, bildet das Metallgerüst eine Art Fa-
raday’schen Käfig, um Brüssel vor geheim-


nisvollen Strahlen zu schützen, die aus


dem Inneren des Justizpalasts dringen.


Die Wahrheit ist leider viel profaner:
Der Justizpalast, mit einer Grundfläche
von 26 000 Quadratmetern größer als der
Petersdom in Rom, ist marode. Die Gerüs-
te sollen die Fassade vorm Wegbröckeln
und Passanten vor herabfallenden Steinen
schützen. Schon seit 2016 ist der Problem-
bau auf der Liste der gefährdeten Monu-
mente eingetragen. Im vergangenen Sep-
tember krachte in einem der 245 Säle ein
Teil der Decke herunter; zum Glück in der
Nacht, niemand wurde verletzt. Justizbe-
dienstete beklagen außerdem Schimmel
und Wassereinbrüche in die Verhandlungs-

säle. Gut die Hälfte der Räume steht leer.
2016 kündigten Innen- und Justizministe-
rium an, eine umfassende Instandsetzung
des Gebäudes zu prüfen, aber das Vor-
haben kam bislang auch deswegen nur
langsam voran, weil die ursprünglichen
Baupläne von Architekt Joseph Poelaert
verschollen waren – bis jetzt: Wie die belgi-
sche TageszeitungLe Soirberichtet, haben
Studenten der Freien Universität Brüssel
die Pläne bei Recherchen für ihre Masterar-
beit wiedergefunden. 30 Kisten mit von
Poelaert unterzeichneten Grundrissen,
Zeichnungen und Notizen hätten die Stu-

denten in den Kellern der königlichen
Archive aufgestöbert. Bis dahin hatte man
geglaubt, die Pläne seien im Jahr 1944
verbrannt, als die Nazis die Kuppel des Jus-
tizpalastes in Brand steckten. Jetzt sollen
die wiedergefundenen Dokumente bei der
Sanierung des Gebäudes helfen.
Schon bei der ersten Sichtung des Mate-
rials wurde aber klar: So, wie der Palast
heute aussieht, hatte sich Poelaert ihn
Mitte des 19. Jahrhunderts gar nicht vor-
gestellt. „Es ist interessant zu sehen, dass
Poelaert eine viel kleinere Kuppel ent-
worfen hatte als die, die heute existiert“,
sagte Michaël Amara, Mitarbeiter der
Königlichen Archive, dem Fernsehsender
RTBF. „Das zeigt, wie stark sich das Projekt
verändert hat, bis es zu dem gigantischen
Bau wurde, den wir heute kennen.“
Poelaert starb 1879 mit 62 Jahren an ei-
nem Hirnschlag, als die Bauarbeiten noch
in vollem Gange waren. Man wusste zwar,
dass Poelaerts Nachfolger seine Entwürfe
für die Kuppel – inspiriert von mesopota-
mischen Tempeltürmen, auf zwei oder
drei sich verjüngenden Plattformen ru-
hend – zu exzentrisch fanden. Darum setz-
ten sie dem Gebäude nach Poelaerts Tod
eine klassischere, monumentale Kuppel
auf, wie sie damals Mode war. Was genau
Poelaert vorgeschwebt war, wusste man
aber nicht – bis heute.
Architekten erhoffen sich von den Plä-
nen aber noch weitere Erkenntnisse: „Wir
wissen nicht sehr viel über den Justizpa-
last. Der erste Schritt, um ihn restaurieren
zu können, ist, das Gebäude von Grund auf
richtig kennenzulernen“, sagt etwa Francis
Metzger, der die Studenten betreut hat.
Auch wenn die Renovierungsarbeiten
wohl noch deutlich länger dauern werden:
Zumindest die Fassade soll bis 2030 vollen-
det sein. Dann können auch endlich die Ge-
rüste verschwinden – und die Brüsseler ih-
ren Justizpalast von einer ganz neuen Seite
kennenlernen. karoline meta beisel

Der Film „Maternal“ über zwei Teenager-
Mütterin einem kirchlichen Heim in Ar-
gentinien hat den Preis der ökumenischen
Jury auf dem Filmfestival im schweizeri-
schen Locarno erhalten. Eine besondere
Ehrung gab es zudem für „Vitalina Varela“
des portugiesischen Regisseurs Pedro Cos-
ta. Das Porträt einer von den Kapverdi-
schen Inseln stammenden Frau, die in ei-
nem Armenviertel von Lissabon ums Über-
leben kämpft, zählte zu den großen Gewin-
nern des am Wochenende zu Ende gegan-
genen Festivals. Die Produktion erhielt
den Hauptpreis, einen weiteren „Goldenen
Leoparden“ gab es für die Hauptdarstelle-
rin Vitalina Varela. Den Preis für den bes-
ten Darsteller erhielt der Brasilianer Regis
Myrupu für seine Rolle eines indigenen Ha-
fenarbeiters in „A Febre“, denjenigen für
die beste Regie Damien Manivel mit dem
Tanzfilm „Les enfants d’Isadora“. kna

Der österreichische Dirigent Helmuth Fro-
schauer, Chor-Spezialist und ehemals
Chefdirigent des WDR-Rundfunkorches-
ters, ist am Sonntag im Alter von 85 Jahren
gestorben. Das bestätigte das Pressebüro
der Wiener Philharmoniker. Froschauer
begann seine Karriere in den Fünfziger-
jahren als Kapellmeister der Wiener Sän-
gerknaben. In seiner weiteren Laufbahn
arbeitete er unter anderem als Chorleiter
der Wiener Staatsoper, der Bregenzer so-
wie der Salzburger Festspiele als enger
Mitarbeiter von Herbert von Karajan. Im
Jahr 1992 wurde Froschauer Direktor des
Kölner Rundfunkchors. Fünf Jahre später
übernahm er auch als Chefdirigent das
WDR Rundfunkorchester, das er bis 2003
leitete und dem er danach als Ehrendiri-
gent verbunden blieb. Sein Sohn Daniel
Froschauer ist Violinist und Vorstand der
Wiener Philharmoniker. dpa

„Die Leute verstehen zwar


die Texte nicht“, sagt er,


„aber sie verstehen die Emotion.“


Monumental und marode


Der Justizpalast, das imposanteste Gebäude von Brüssel, schimmelt und bröckelt gewaltig


Gefahren unter der Kuppel – in einem Gerichtssaal fiel nachts die Decke herunter. FOTO: IMAGO IMAGES / VIENNASLIDE


In dem Science-Fiction-Roman „Die drei
Sonnen“ von Cixin Liu bedroht die hoch
entwickelte außerirdische Zivilisation der
„Trisolarier“ die Erde. Sie kennen alle unse-
re Aufzeichnungen und alle unsere Kom-
munikationen. Damit sind sie uns immer
einen Schritt voraus. Heute und in der
Wirklichkeit unserer Erde sind wir selber
unsere eigene Bedrohung. Denn Facebook
hat gerade ein Forschungsergebnis be-
kannt gemacht, das Wissenschaftler in der
ZeitschriftNature Communicationspubli-
ziert haben. Demnach ist es den von Face-
book unterstützten Forschern das erste
Mal gelungen, in Echtzeit Wörter aus einer
Beobachtung der Gehirnaktivität abzulei-
ten. Ein Gehirn denkt Begriffe, ein überwa-
chender Computer schreibt diese Wörter
auf. Es scheint also: Das Logo unserer Tri-
solarier ist blau und trägt ein weißes „F“.
Die Frage lautet: Werden wir mit dieser
Entwicklung zurechtkommen?
Die Trisolarier im Roman sind dazu in
der Lage, jede Kommunikation und alle
Information der Menschheit abzuhören
und in Echtzeit in ihre Welt zu übertragen.
Alles, was je aufgezeichnet wurde und was
gesprochen wird, ist sofort für die Feinde
offenbar. Zusätzlich stören sie die natur-
wissenschaftliche Grundlagenforschung,
damit die Menschheit nicht zu den Trisola-
riern aufschließt. Durch die technische
Überlegenheit sind die Menschen den Au-
ßerirdischen hilflos ausgeliefert.
Allerdings gibt es einen fundamentalen
Unterschied zwischen Trisolariern und
Menschen: Trisolarier sind füreinander
völlig transparent, Subjektivität ist ihnen
unbekannt. Dies macht ihre grenzenlose
Kooperation möglich – sie ist der Schlüssel
für die technische Überlegenheit der
Aliens. Privatheit ist als Konzept nicht
bekannt, jeder Gedanke ist öffentlich.
Wahrhaftigkeit ist gar keine Kategorie,
weil es das Gegenteil, Manipulation, Lüge
und Halbwahrheit, gar nicht geben kann.
Für die Menschen dagegen ist die in-
transparente subjektive Perspektive, mit
der wir andere und die Welt erfahren, eine
Grundlage unserer Zivilisation. Wie ich
einen Sonnenuntergang erlebe, ist für
andere nicht vollständig nachvollziehbar.
Wir sind voneinander isolierte Gehirne mit
eigenen Bewusstseinen und subjektiven
Erlebnissen. Wir können unsere Gedanken
verbergen, auch das macht Menschen aus.

Thomas Nagel hat in seinem Aufsatz aus
dem Jahr 1974 „Wie fühlt es sich an, eine
Fledermaus zu sein?“ gezeigt, dass man
selbst dann, wenn man alle naturwissen-
schaftlichen Parameter einer Wahrneh-
mung kennt (im Beispiel: das Fliegen mit
Echoortung), nie wissen kann, wie es sich
anfühlt, eine Fledermaus zu sein.
Die Diskussion um die subjektiven Er-
lebnisgehalte eines mentalen Zustandes,
die sogenannte Qualiadebatte in der Philo-
sophie des Geistes, ist differenziert. Nicht
alle sind der Meinung, dass Geist mehr ist
als ein Effekt, den man naturwissenschaft-
lich nur aus seiner Materie heraus erklären
kann. Doch spielt die Kritik an diesem
Reduktionismus, der den Menschen auf
physiologische Prozesse reduziert, eine
Rolle in der Debatte um künstliche Intelli-
genz: Selbst wenn der Computer ein
Bewusstsein perfekt simulieren kann, hat
er doch keine eigenen mentalen Zustände.
Eine bewusstseinsfähige Maschine kann
es also gar nicht geben.
Im erwähnten Science-Fiction-Roman
ist dieser Unterschied zwischen Menschen
und Außerirdischen sogar der Schlüssel da-
zu, wie die Menschen sich gegen die Trisola-
rier wehren. Diese verstehen ja das Konzept
nicht, Gedanken vor anderen zu verbergen
und im Verborgenen planen zu können.
Das rettet im Roman die Menschheit.
Mittlerweile nehmen Forschungen an
Gehirn-Maschine-Interfaces wie in der
oben genannten Studie Fahrt auf, invasive
wie nicht-invasive Methoden ohne Chipim-
plantate werden getestet.
Bei Facebook, aber auch andernorts
wird diese Forschung betrieben, um Steue-
rungssysteme für digitale Geräte zu entwi-
ckeln: Durch bloßes Denken sollen wir
dann kleine und große Geräte steuern kön-
nen. Die Technologie, an der auch Elon
Musks Firma Neuralink arbeitet, soll Wun-
der im positiven Sinne bewirken können:
Menschen, die nicht sprechen können,

sollen damit wieder Kontakt zu ihrer
Umwelt aufnehmen – fantastisch!
An der TU München arbeiten Forscher
im Bereich „Neuroengineering“ an der
Möglichkeit, Roboter durch die Beobach-
tung von Gehirnwellen menschlicher Inter-
aktionspartner erkennen zu lassen, ob sie
selber gerade Fehler machen. Menschen
sind verstört, wenn in der Mensch-Maschi-
ne-Interaktion der Roboter fehlerhaft
agiert. Diese Irritation des Menschen mani-
festiert sich in spezifischen Hirnwellen,
die Roboter scannen können, um so zu mer-
ken, dass sie etwas falsch machen.

Einen anderen Ansatz wählt eine Grup-
pe junger Forscher am MIT Media Lab:
Arnav Kapur hat dort ein Interface erfun-
den, das über die Beobachtung von winzi-
gen neuromuskulären Impulsen an den
Sprachapparat Wörter entschlüsselt, die
wir bloß denkend sprechen. Unsere inter-
nen Selbstgespräche können also von die-
sem System aufgezeichnet und bei Bedarf
wieder abgerufen werden. Auch hier erge-
ben sich bahnbrechende Anwendungen
für beispielsweise Schlaganfallpatienten,
da die Mikroimpulse auch bei diesen Perso-
nen noch unverändert funktionieren kön-
nen. Interessant ist dann auch, dass man
per Selbstgespräch in Konferenzen Noti-
zen machen kann oder ungestört und
unsichtbar, ohne echte Stimme und ohne
einen Finger zu bewegen, Kurznachrich-
ten umherschicken oder mit dem Partner
chatten kann. Dieses System heißt „Al-
ter Ego“ und wird von seinem Erfinder an-
gepriesen als „eine intelligentere Version
unseres Selbst in uns selbst“.
Während also Ingenieure versuchen,
das Gehirn von außen den Computern
zugänglich zu machen, kommen ihnen die
Chiphersteller quasi von der anderen Seite
entgegen: Intel arbeitet an Prozessoren,
die wie das Gehirn funktionieren. Damit
können Maschinen einfacher mit und wie
Menschen agieren. Diese Prozessoren wer-
den lernende und autonom agierende Com-
putersysteme leistungsfähiger machen.
Die ethischen Probleme dieser Gehirn-
Computer-Schnittstellen sind dramatisch:
Sie betreffen unser Wesen als bewusst-
seinsfähige Individuen, die miteinander
sprachlich und symbolisch kommunizie-
ren müssen, um zu kooperieren. Wo Ma-
schinen unsere Gedanken wirklich lesen
können, liegen diese offen – und lassen
sich etwa für Kaufanreize oder politische
Beeinflussung nutzen. Die Facebook-For-
scher betonen, dass ihnen die Privatheit
am Herzen liege. Aber erstens hat Face-
book wirklich jede Glaubwürdigkeit in
Sachen Privatsphäre schon lange verloren,
und zweitens geht es um mehr: Es geht um
die Abschaffung der Privatheit in ihrem
ureigensten Revier. Es geht um unsere
mentale, bislang als unantastbar geltende
Privatsphäre. Es geht um das Recht, wie es
Sigal Samuel auf vox.com formulierte, zu
bestimmen, wo unser Selbst endet und wo
die Maschine anfängt. Die Gefahr besteht,
dass wir mit Gehirn-Computer-Interfaces
die Grenze zwischen unserem Bewusst-
sein und den Maschinen öffnen.
Steht also eine Kultur transparenter
Gedanken bevor? Angesichts der Erfolge
der großen Daten- und KI-Firmen, uns
anhand unserer Lebensäußerungen zu
verstehen und zu lenken, scheint diese Ent-
wicklung nur folgerichtig. Unsere Gehirne
mit unseren privaten Gedanken sind die
allerletzte Bastion. Unsere Gehirne sind
noch der Heilige Gral für Unternehmen im
Zeitalter des Überwachungskapitalismus.
Wer schafft es zuerst, unsere Gehirnaktivi-
täten wirtschaftlich nutzbar zu machen?
Noch ist die Technik rudimentär entwi-
ckelt. Wir haben noch etwas Zeit, uns die
Folgen zu veranschaulichen und eine recht-
liche Regulierung auf den Weg zu bringen.
Wir müssen aber jetzt damit anfangen.
Nicht weil die Trisolarier vor der Tür ste-
hen, sondern weil Firmen aus bloßem Pro-
fitinteresse begonnen haben, sich für unse-
re Subjektivität und unser Innenleben zu
interessieren. alexander filipović

Der Autor ist Professor für Medienethik an der
Hochschule für Philosophie München und sachver-
ständigesMitglied der Enquete-Kommission des
Deutschen Bundestages zu Fragen der künstlichen
Intelligenz.

Durch bloßes Denken


sollen wirbald Geräte steuern
können – sagt Facebook

Filmfestival Locarno


verteiltPreise


Helmuth Froschauer


gestorben


Dahin, wo es wehtut


Der Musiker Božo Vrećo wird oft als bosnische Conchita Wurst bezeichnet.


Dabei ist er vor allem ein begnadeter Retter alter Liebesliedtraditionen


Und zum Schluss


die Gehirne


Wie sich Datensysteme an unser Inneres herantasten


Die ethischen Probleme der


Gehirn-Computer-Schnittstellen


sind dramatisch


Božo Vrećo kennt die Lieder der Sevdah-Tradition seit Kindertagen. FOTO: BEZDAN PHOTOGRAPHY

DEFGH Nr. 191, Dienstag, 20. August 2019 (^) FEUILLETON HF2 11

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