Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
von willi winkler

T


homas Bernhard, die alte Natter, hat
ihm die fürchterlichste Schmähung
nachgeschickt. Ein „völlig klein-

bürgerlicher Typus“ sei er gewesen, sagte


er 1979 zu André Müller, „der ganz liebe


Gedichterln geschrieben hat und fürchter-


liche Prosa“. Drei Frauen und von jeder ha-


be er Kinder gehabt, sei dann nach einem


Glas Wein nach Hause gegangen, habe das


„Dirndlgewand seiner Frau angezogen,


sich den Busen ausg‘stopft und sich an der


Tür aufgehängt“, ein Mensch, der, immer


noch Bernhard, „nie eine Spur von Lebens-


überdruss gezeigt hat“.


Gerhard Fritsch starb 1969; dass es

Suizid war, wird heute allgemein bezwei-


felt, vermutlich ein Unfall. Pervers, wie die


Literaturgeschichte sein kann, hat Fritsch


allenfalls im Bannkreis des frühen Tho-


mas Bernhard überlebt. Die beiden waren


schon befreundet, als Bernhard noch


Gedichterln schrieb, die alles andere als


lieb, sondern erst katholisch und dann


Rilke’sch und Trakl’sch, aber immer noch


nicht besser waren. Fritsch, sieben Jahre


älter, studiert, halbwegs arriviert, Wiener,


sollte dem Schulabbrecher aus der Salzbur-


ger Provinz in den Literaturbetrieb helfen:


„Die teuflischen Verse – auf die er sich so


viel einbildet! – werden mich vernichten!“


Fritsch muss ihn unterstützen, ihm Auftrit-


te im Rundfunk verschaffen, für den Ab-


druck seiner Texte sorgen, ihm überhaupt


unter die „literarischen Arme“ greifen. Das


Verhältnis ist eindeutig, nämlich unter-


würfig von Bernhards Seite, wenn auch der


Ehrgeiz lodert hinter der ganzen Beschei-


denheit: „Ich beneide Dich, denn du


kannst Prosa schreiben – ich kann es nicht.


Mir fehlt fast alles dazu.“


Aus der „Dankbarkeit u. Zu-Neigung“

für Fritsch wird aufrichtiger Hass, als Bern-


hard selber den ersehnten Erfolg hat. 1967,


als Fritschs Österreichsbeschimpfungs-


roman „Fasching“, an dem er an die zehn


Jahre gearbeitet hat, endlich erscheint, hat


ihn Bernhard längst überholt. Er kann


nicht nur Prosa schreiben („gute, sehr gute


Prosa“, lobt Fritsch den Freund schon


früh), er wird dafür anders als Fritsch gefei-


ert und hat seine großen Erfolge als Drama-


tiker noch vor sich. Fritsch aber erhängt


sich und verschwindet aus der Literatur-


geschichte.


Oder fast. Robert Menasse hat sich in

der Zwischenzeit für den vergessenen Dich-


ter eingesetzt, bei Suhrkamp gab es des-


halb eine Neuausgabe von „Fasching“. In


Wien brachte Anna Badora vor einigen


Jahren eine dramatisierte Version des


Romans heraus. Jetzt ist eine fast vollstän-


dige Ausgabe der Tagebücher erschienen,


die Fritsch zwischen 1956 und 1964 ver-


fasst hat. Sie sind in vier Heften niederge-


legt, schlichte Aufzeichnungen vom Tage,


unregelmäßig geführt und, nicht wie bei


Autoren üblich, für die Nachwelt bearbei-


tet und stilisiert.


Es geht, worum auch sonst, ums Schrei-

ben oder noch mehr ums Nicht-schreiben-


Können. Ein gewisser, nicht literarischer,


aber doch Bekenntnisehrgeiz ist zu spü-


ren. Wie in der Moderne vorgeschrieben,


ist das Ich ein anderer, das eine will sich


von dem anderen trennen. Einerseits „bin-


dungslose Einsamkeit“, dann wieder ist


Mirli, seine zweite Frau, „das beste, was


ich in meinem Leben erreicht habe“. Die


Frau, das Kind, das Geldverdienenmüssen


sind Hemmnisse, gleichzeitig wirft er sich


Selbstsucht vor und landet bei der kalen-


derspruchreifen Erkenntnis: „Die Überwin-


dung des Egoismus ist aber nicht zuletzt


eine Zeitfrage.“


Auch wenn er den heiligen Cesare Pave-

se anruft, wirken seine Grübeleien zu-


nächst eher pubertär als weltbewegend:


„Ob ein Mensch sich objektiv beurteilen
kann? (...) Die Pseudophilosophen wu-
chern wie Unkraut (...) Ich beichte (viel-
leicht!) dem Papier.“ Und dann die ganze
Tragikomik seiner prekären Schriftsteller-
existenz: „Jetzt ginge das so weiter, halbau-
tomatische Schrift, aber ich muß heim.“
Er haust mit seiner Familie in einer
winzigen Wohnung, er will da raus, aber
auch aus der Ehe, aus seinem Beruf als
Bibliothekar, der nebenher Kurzkritiken
verfasst und das literarische Leben im
Nachkriegs-Wien organisiert. Einen Ro-
man hat er bereits veröffentlicht, „Moos
auf den Steinen“, aber als Autor existiert er
kaum; er ist Vermittler, Funktionär.
Als er die Stelle tatsächlich aufgegeben
hat und Zeit zum Schreiben hätte,
sammelt er zum Lebensunterhalt wieder
Funktionärsposten, sitzt in Jurys, arbeitet
in der Redaktion der ZeitschriftLiteratur
und Kritik, schreibt für Staatsanlässe patri-
otische Gedichte und jammert ständig,

dass er wegen all dieser Verpflichtungen
nicht zum Schreiben komme, „die endlose
Tretmühle, wann soll man da den Roman
schreiben??“
Anderen gelingt es offenbar. Hilflos
muss Fritsch mit ansehen, wie Hans Lebert
mit seinem Roman „Die Wolfshaut“ (1960),
den er noch befürwortet hat, das Thema
der großen Österreich-Abrechnung über-
nimmt, er registriert, wie Bernhard daraus

sein Leib- und Staatsunternehmen macht
und an ihm vorbeizieht. Eben noch erlebte
Fritsch einen verschmockten Angeber,
bald erkennt er in ihm den „echten Dich-
ter“, während er sich selber der „Schwach-
köpfigkeit“ bezichtigen muss. In diesen
Aufzeichnungen zweifelt er mit geradezu

beamtenhaftem Eifer an sich und seinen Fä-
higkeiten. Masochismus, heißt es einmal,
sei eh eine österreichische Erfindung.
Wenn er gelten will über seine Funktio-
närstätigkeit hinaus, muss er endlich ein
neues Buch vorlegen. „Es ist höchste Zeit,
etwas zu leisten“, drängt er sich und er-
laubt sich einen seltenen Moment der
Selbstironie: „Die Hochstimmung ging üb-
rigens direkt in einen überdimensionalen
Nachmittagsschlaf über, der die Absicht,
heute noch mit dem 13. Kapitel zu begin-
nen, zunichte machte.“
Bereits im August 1961 bilanziert er ein
„sich rasch ausbreitendes, alles über-
schwemmendes Bewußtsein, gescheitert
zu sein“. Er ist inzwischen bei seiner
dritten Ehefrau, die offenbar allergrößtes
Verständnis für ihn hat. „Glück“ wallt auf,
wenn er auf der Suche nach einem Negligé
für seine Frau durch die Stadt laufen kann.
Ein früheres Jahrhundert hätte den Selbst-
genuss am Ennui zelebriert, Fritsch aber

leidet, doch gelingen ihm zwischendurch
tödlich genaue Sätze: „Überarbeitet sein
von dem, was man nicht getan hat.“
Es fehlt in diesen Aufzeichnungen natur-
gemäß nicht an Klatsch und Tratsch aus
dem schaurigen österreichischen Förder-
und Neidbetrieb. H. C. Artmann entzieht
sich einer Alimentenforderung durch
Flucht ins Ausland, auch Gerhard Lampers-
berg, als Oger verewigt in Bernhards Diatri-
be „Holzfällen“, hat einen Auftritt. Hochak-
tuell die rasche Solidarisierung der Wiener
mit den Flüchtlingen aus dem Budapester
Aufstand im Herbst 1956, die ebenso rasch
abkühlt. Mitten im Grübeln gönnt sich
Fritsch gelegentlich eine Miniatur aus dem
Wirtschaftswunder, wenn er schildert, mit
welchem Besitzerstolz eine neue Mixma-
schine vorgeführt wird, die den ganzen
Abend Fruchtsäfte und Frappés liefern
muss. „Ich habe mich unendlich fadisiert.“
„Fasching“ erschien schließlich in einer
Auflage von dreitausend, die nicht ver-
kauft wurde; die Rezensionen zu Hause
waren nicht freundlich, die in Deutschland
kaum besser. Der Roman wirkt heute wie
nicht mehr von dieser Welt, eine Erinne-
rung an die Sprachabenteuer Gert Jonkes
oder des frühen Handke, dabei aber auch
ein radikales Österreichabrechnungs-
buch, bösartig und wahr wie von Bernhard,
nur weniger musikalisch, dafür auch weni-
ger rhetorisch.

Das Nachkriegsösterreich, das sich er-
folgreich als erstes Opfer Hitlers inszenier-
te, wird in diesem Roman zu einer einzigen
Verdrängungs- und Bewahrungshölle, der
Fasching natürlich eine Metapher für die
durchsichtige Verkleidung, unter der
weitergemacht und -gelacht wurde wie vor


  1. Der Fasching ist aber auch die Meta-
    pher für das unmögliche Sehnen des
    Autors, der sich hier als Deserteur insze-
    niert, der in Frauenkleidern überlebt, den
    Russen ausgeliefert wird, nach zwölf Jah-
    ren Sibirien zurückkommt und aus Rache
    von den begeisterten Kriegsteilnehmern
    zur Faschingsprinzessin gewählt wird. Der
    Roman endet in einem verzweifelten
    Gestotter: „Ich bin desertiert – von den
    Männern – zu den Mädchen.“
    Das war ein Coming-out, von dem
    niemand erfahren sollte, aber wie sollte es
    ihm die Literaturkritik, erst recht die
    Literaturgeschichte danken? Mit dem
    höchsten Lob bedachte ihn ein Außen-
    seiter in der österreichischen Literatur,
    Elias Canetti, der den Funktionär Fritsch
    schätzte und durch das aus seinen eigenen
    Aufzeichnungen geborgte Motto char-
    miert war. Sein schmeichlerischer Impera-
    tiv „Ich erwarte von Ihnen viel“ in einem
    Schreiben an Fritsch ist zum Titel der
    Ausgabe von Canettis Briefen (2018 bei
    Hanser erschienen) gewählt worden.
    „Das Buch hat Härte, Komik, Entschlos-
    senheit, drei sehr wichtige Qualitäten“,
    lobte Canetti „Fasching“ und fand es sogar
    „amüsant“. Wie sollte dieser sonst so stren-
    ge Hohepriester auch wissen, dass das
    Amüsante das Lebensproblem Fritschs
    war? Wo Bernhard sich konsequent zum
    Beschimpfungsweltmeister fortbildet,
    macht sich Fritsch selber nieder, nennt
    sich „eine sentimentale Lehrerin, die zufäl-
    lig mit Hoden auf die Welt gekommen ist“.
    Da sitzt er dann, betrachtet sich im Spiegel
    und schwärmt wie ein dandyesker Huys-
    mans von der „betörenden Wehmut des
    duftenden Höschens“ seiner Frau, das ihn
    beim Schreiben entzündet. „Ich müßte –
    und werde hoffentlich einmal – so schrei-
    ben wie Thomas Bernhard“, und zweifelt
    im nächsten Moment wieder daran, ob das
    mit seiner „Lehrerinnenpsyche“ über-
    haupt möglich ist. Es bleibt die „Loyalität
    gegen die österr. Literatur und das Vater-
    land“, dem er aber in „Fasching“ gnaden-
    los einschenkt.


Im Kaffeehaus blättert er gierig in Illus-
trierten und studiert Kleider und Robe.
„Ich bin süchtig nach ...“ setzt er an und
belässt es bei bedeutungsvollen Pünkt-
chen. Lang sah er sich als „Obergefreiter in
allen Lebenslagen“. Fritsch war bei der
Luftwaffe gewesen; ein erster Gedicht-
band hieß weltkriegstouristisch „Zwi-
schen Kirkenes und Bari“. Aus dem Krieg
hatte er sich ein musterhaftes Thewe-
leit’sches Männererscheinungsbild geret-
tet, aus dem er auch als Mädchen nicht
mehr herausfand. So blieb er Soldat sein
Leben lang. Das Jahr 1938, als Österreich
angeschlossen wurde, verband sich für ihn
aufs Sinnreichste: „Großdeutschland und
erste Onanie“.
Im Tagebuch, das um Gottes Willen
niemand sehen soll, wird ihm vorüberge-
hend leichter. Hier ringt er sich ein halbes
Geständnis ab. „Ich will zuerst einmal mir
selber bekennen.“ Viel zu bekennen ist da
gar nicht, jedenfalls für heutige Begriffe.
Heute verliert David Beckham nichts von
seinem Nimbus als männlicher Sportler,
wenn er irgendwo erzählt, er verirre sich
gelegentlich in den Kleiderschrank seiner
Frau, um sich da Sachen zum Anziehen aus-
zuwählen. Für Fritsch war das ein lebens-
und schreibentscheidendes Problem.
„Enthemmt“, wie der Bekenner gesteht,
geht er in der Stadt an den Auslagen vor-
bei, kauft sich ein Kleid, einen Petticoat,
einen BH, beschreibt seinen Zustand nicht
wie eine zweite oder gar erste Natur, son-
dern als Geistererscheinung, denn dann ist
„der Helmut unterwegs“. Der Helmut ist er
und auch wieder nicht, eine Spielfigur, der
er sich in vielen, nie veröffentlichten „TV-
Geschichten“ widmet (TV für Transvestitis-
mus). „Er liegt im Innern auf der Lauer“,
wie der Autor dieses Doppelleben be-
schreibt, „er wartet auf seine kleine, lächer-
liche Chance, auf ein paar Viertelstunden
hinter den Vorhängen“, nämlich wenn die
Frau aus dem Haus ist, wenn er sich umzie-
hen und verkleiden kann. „Ich bin eigent-
lich wirklich eine Zwitter-Ziege, was mei-
nen psychischen Habitus betrifft.“ (Aber
jetzt mal ehrlich: Sind Schillers angefaulte
Äpfel ein so viel edleres Stimulans als die
Unterwäsche der eigenen Frau?)
Der gerade verstorbene Kritiker Peter
Hamm hat einmal dekretiert, wie Literatur
sein müsse, wenn sie den Namen verdie-
nen will, „nämlich rücksichtslose Selbst-
entblößung eines Autors (und damit Ent-
blößung der bestehenden Verhältnisse)“.
Bei Fritsch, in diesem Tagebuch, gelingt es
gelegentlich, allerdings hat er auch den
höchsten Preis dafür bezahlt: Ein Leben als
einzige Verklemmtheit und dazu noch
ohne den ersehnten Ruhm.
Canetti, der Feind des Todes, hielt
Fritsch für einen Selbstmörder, behauptete
sogar, „ein besonderes Ohr“ für „Regungen
dieser Art“ entwickelt zu haben, faselte von
der „Verantwortung, die ich für solche
Dinge fühle“, und verstand ihn doch nicht.
Ob ihm auf Erden oder jedenfalls in der Lite-
ratur zu helfen war, ist eine andere Frage.
Dass er Schriftsteller geworden war, mach-
te Fritsch nicht einmal stolz: „Es hat sich
eben kein passenderer Beruf gefunden.“
Sein Kollege Hermann Peter Piwitt, der
Fritsch 1969 in derZeitnachrief, hatte sich
von ihm einmal durch Wien führen lassen:
„Mir wurde klar, dass man dortzulande
kaum anders denn als Anarchist, Hochstap-
ler oder Parasit leben kann. Wie Karajan;
oder Ossi Wiener.“ Ein Karajan war Fritsch
nicht, wie sein Tagebuch beweist, aber ein
echter Wiener.

Der Helmut ist er


und auch wieder nicht,


eine Spielfigur


Ein „sich rasch ausbreitendes,


alles überschwemmendes
Bewußtsein, gescheitert zu sein“

Gerhard Fritsch:Man
darf nichtleben, wie
man will. Tagebücher.
Herausgegeben und
mit einem Nachwort
von Klaus Kastberger.
Salzburg, Residenz 2019.
264 Seiten, 24 Euro.

„Überarbeitet sein von dem, was man nicht getan hat“


In einemfrüheren Jahrhundert hätte Gerhard Fritsch den Genuss am Ennui zelebrieren können, in einem späteren wäre seine Freude an Frauenkleidern kein


Skandal gewesen: Eine Ausgabe seiner Tagebücher zeigt das von Selbstzweifeln zerfurchte Leben des österreichischen Schriftstellers


Wie in der Moderne


vorgeschrieben, ist das


Ich ein anderer


12 HF2 (^) LITERATUR Dienstag,20. August 2019, Nr. 191 DEFGH
Als „eine sentimentale Lehrerin, die zufällig mit Hoden auf die Welt gekommen ist“, beschrieb sich Gerhard Fritsch. Am



  1. März 1924 ist er in Wien geboren und dort am 22. März 1969 auch ums Leben gekommen.FOTO: RENATE USCHAN/RESIDENZ VERLAG


Heute auf Kaufdown.de


Weinpakete von Senti Vini – Weine aus Italien


Verschiedene Probierpakete mit beliebten italienischen Weinen direkt vom Münchner Importeur. In der Vinothek & Lagerverkauf von


Senti Vini im Münchner Osten können Sie sich von Montag bis Samstag persönlich beraten lassen und einige Weine & Olivenöle probieren.


Mit über 70 Kellereien, 600 Produkten und über 80.000 lagernden Flaschen finden Sie sicherlich immer den passenden Wein.


Die Auktion für alle,


die weniger bieten wollen.


Woanders steigen die Preise – hier sinken sie im


Minutentakt. Bei Kaufdown.de von der Süddeutschen


Zeitung können Sie sich täglich neue und exklusive


Angebote zu genau Ihrem Wunschpreis sichern.


Bis zu

50%

Rabatt!
Free download pdf