Süddeutsche Zeitung - 20.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1

E


ine Schönheit ist er nicht, der Ok-
Berg. Keine dramatischen Steil-
hänge wie seine Brüder auf der
anderen Seite des Tals, keine
majestätischen Gipfel, und an-

ders als bei ihnen auch kein in der Sonne


glitzernder weißer Mantel mehr. Ver-


schwunden sind die anderswo Wasser


spendenden Gletscherzungen, in denen


mitunter eisig blaue Adern schimmern.


Stattdessen liegt da eine Geröllhalde, sanft


ansteigend. Der Schutt unzähliger Vulkan-


ausbrüche, klein gerieben durch mehrere


Eiszeiten, über den der Trauerzug nun


mühsam hochstapft, nein: Eigentlich ist es


mehr ein hochkonzentriertes Hüpfen, von


Stein zu Stein. Ein wenig so, als überquere


man ein Flussbett, drei Stunden lang, berg-


auf. Den Blick stur auf den Boden, die einzi-


ge Abwechslung im ewigen Braun mal ein


Mooskissen, eine weiße Flechte.


Eine endlose Steinwüste. Es kommt ei-

nem der Gedanke, dass man sich so die Zu-


kunft des Planeten eigentlich nicht vorstel-


len möchte, und dann wieder der Satz von


Oddur Sigurðsson, dem einzigen Isländer


wohl, der dem Berg in den letzten Jahren et-


was Beachtung schenkte: „Sentimentalität


kommt nicht infrage!“ Der Geologe Oddur


Sigurðsson ist einer der Ältesten im Zug,


aber er marschiert ganz vorn.


Ok ist der Berg, ein ehemaliger Vulkan,

und weil Jökull das isländische Wort für


Gletscher ist, ist der Okjökull der Gletscher


vom Ok-Berg. Oder vielmehr: Er war es. Zu


seinen Lebzeiten teilte der Gletscher das


Schicksal seines Berges, die Menschen


konnten ihn sehen von unten, aber sie nah-


men ihn kaum wahr. Doch, in den Landkar-


ten Islands war er verzeichnet, und die


Schulkinder lernten seinen Namen: Ok,


das ist das isländische Wort für Joch, für


die Tragestange, mit der man Wasserkübel


balanciert. Und immerhin: In die isländi-


schen Sagas hat es der Ok geschafft, und


zwar mit genau einem Satz: Der Satz er-


zählt von einem Reiter, der an ihm vorüber-


ritt. Mehr Nebenrolle geht nicht.


Der Okjökull war nie ein Riese wie der

Vatnajökull, dessen Eiskappe an manchen


Stellen tausend Meter dick ist und der sich


über mehr als 8000 Quadratkilometer


erstreckt. Er hat auch die Menschen nie so


fasziniert wie der schneebedeckte


Snæfellsjökull im Westen der Insel, jener


Gletscher, in dessen Eishöhlen Jules Verne


seine „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ be-


ginnen lässt und dessen Leuchten an man-


chen Sonnentagen bis in die Hauptstadt


Reykjavik zu sehen ist. Bemerkenswert,


dass er es ausgerechnet jetzt zu Ruhm


bringt, der Okjökull, wo es ihn nicht mehr


gibt. Weil er nicht mehr lebt. Da oben, im al-


ten Vulkankrater, liegt nurmehr totes Eis,


so nennen das die Geologen, wenn ein Glet-


scher nach Jahren der Schmelze so viel an


Masse verloren hat, dass er sich nicht mehr


bewegen kann. Totes Eis, das seiner voll-


ständigen Auflösung harrt.


So bunt war selten ein Trauerzug wie

der, der am vergangenen Sonntag die Hän-


ge des Ok hochstakste: Alles Neon der


Outdoor-Industrie versammelte sich an


diesem Tag zu Ehren des Okjökull und


machte Gletscherforscher, Künstler, Politi-


ker, Aktivisten, Schüler und Journalisten


zu leuchtend grünen, orangenen, pinken


Tupfern am Berg. Der zitronengelbe


Punkt, das war Oddur Sigurðsson, der Geo-


loge. Unweit von ihm, in leuchtendem Rot,


Andri Snær Magnason, der Schriftsteller.


Der Geologe und der Schriftsteller, zwei

besonders enge Freunde des Okjökull: Der


eine hatte dem Gletscher den Totenschein


ausgestellt, der andere die Grabinschrift


verfasst. Fünf Zeilen auf einer kupfernen


Gedenktafel, die am Sonntag unterhalb


des Gipfels angebracht werden sollte.


Es liegt der heißeste Juli seit Beginn der
Wetteraufzeichnungen hinter einem Groß-
teil der Erde, dieser Augusttag im isländi-
schen Hochland aber fühlte sich bitterkalt
an. Gleich zu Beginn erinnerte einen der er-
barmungslose Wind an die mal mehr, mal
weniger segensreichen Kräfte der Natur:
Er blies der in dezentes Wanderblau geklei-
deten isländischen Premierministerin Ka-
trín Jakobsdóttir das Redemanuskript aus
den klammen Fingern. Sie begnügte sich
mit einer Handvoll herzerfrischender und
tapferer Sätze über die Klimakrise, die in
die Ahnung mündeten, es sei nun an der
Zeit, „Berge zu versetzen“. Zwei 17-jährige
Reykjaviker Schüler aus der Gruppe flüs-
terten daraufhin, sie solle ihre Kräfte erst
einmal an Angela Merkel versuchen, der
deutschen Bundeskanzlerin, die an die-
sem Dienstag am Gipfel der nordischen
Staatschefs auf Island teilnehmen wird.
„Erklärt den Klimanotstand jetzt!“, stand
auf dem Banner, das sie hochhielten.
Oben, kurz unterhalb des Gipfels, zog
nach einer Schweigeminute der Geologe
und Gletscherforscher Oddur Sigurðsson
tatsächlich einen Totenschein aus der Ta-
sche, den er dem Ok-Gletscher ausgestellt
hatte. „Tod durch Menschenhand“, las er
vor. Keiner kennt die Gletscher Islands so
wie Sigurðsson. Dreißig Jahre lang hat er
sie jedes Jahr besucht, einmal im Frühjahr,
einmal im Herbst, hat sie aus dem Flug-
zeug heraus fotografiert, hat sie als Erster
alle identifiziert und kartografiert und ein
paar Mal jeden einzelnen von ihnen
vermessen. Er hat ihre Massenbilanz er-
rechnet, ob sie nämlich am Ende eines
Gletscherjahres, das sich von Anfang Okto-
ber bis Ende September erstreckt, mehr
Schnee und Eis gewonnen oder aber verlo-
ren hatten. Ob sie also wuchsen oder
schrumpften.
Sigurðsson ist mittlerweile pensioniert,
aber noch immer empfängt er in einem Bü-
ro im isländischen Wetteramt, in dem er
das in all den Jahren angesammelte Materi-
al für neue Veröffentlichungen sortiert. In
manchen Momenten wirkt er noch immer
selbst erstaunt, wenn er die Eigenheiten
seiner Gletscher beschreibt, wenn er etwa
von den galoppierenden Gletschern er-
zählt, den Gletscherwogen, deren spekta-
kulärste sich innerhalb von ein paar Mona-
ten bis zu zehn Kilometer nach vorne
schieben können. „Stellen Sie sich vor, die
würde ganz Reykjavik bedecken, nicht ein-
mal die Kirchturmspitze würde mehr her-
ausschauen.“
Den Glaziologen, also den Gletscherfor-
schern, gilt ein Gletscher als lebend, wenn
er sich bewegt, nach vorne schiebt. Um
aber von seiner eigenen Masse in Bewe-
gung gehalten zu werden, muss er dick ge-
nug sein. Dazu braucht es eine Eisdecke
von mindestens vierzig bis fünfzig Metern.
Im Jahr 2000, sagt Sigurðsson, habe er das
erste Mal den Ok-Gletscher vermessen.
Der maß damals schon nur noch knapp
vier Quadratkilometer, nur ein Viertel sei-
ner ursprünglichen Größe. „Ich sah, wie
der Ok-Gletscher viel schneller schrumpf-
te, als ich mir das hätte vorstellen können“,
sagt Sigurðsson. 2014 kletterte er mit ei-
nem isländischen Fernsehteam hoch, um
ihn noch einmal in Augenschein zu neh-
men – und erklärte ihn zu totem Eis. „Aber
wahrscheinlich war er da schon ein paar
Jahre tot.“ Damals, sagt er, habe kaum ei-
ner die Nachricht vom Tod Okjökulls wahr-
genommen, auch die Isländer interessier-
te es nicht.

Der Okjökull ist nicht der erste Glet-
scher Islands, der in den letzten Jahren ver-
schwand. Aber die anderen waren meist
namenlos, und er ist der bislang größte.
„Er ist ein Symbol für das, was passiert“,
sagt Sigurðsson. „Für das, was auf uns zu-
kommt.“ Man darf annehmen, dass Oddur
Sigurðsson Gefühle hat, aber mit Katego-
rien wie Trauer braucht man ihm als Wis-
senschaftler nicht kommen. „Sentimentali-
tät kommt überhaupt nicht infrage!“,
wischt er eine vorsichtige Nachfrage beisei-
te. Stattdessen Fakten, knallhart.

1995, sagt er, sei ein Wendepunkt gewe-
sen. Seither schrumpfen die von ihm beob-
achteten Gletscher. Noch bedecken die
Gletscher Islands ein Zehntel der Fläche
des Landes. Würde man ihr Eis über Island
verteilen, dann bedeckte eine 30 Meter di-
cke Eisschicht das Land. Kaum vorstellbar.
Noch weniger vorstellbar: In weniger als
200 Jahren, sagt Sigurðsson, werden sie al-
le verschwunden sein, ihr Wasser wird Teil
der anschwellenden Weltmeere. „Solche
Wandel gab es immer in der Natur, aber
noch nie in dieser Geschwindigkeit“, sagt
Sigurðsson. „Der Mensch hat all das CO2,
das die Natur in Millionen Jahren in der Er-
de gespeichert hat, innerhalb von 200 Jah-
ren in die Atmosphäre entlassen. Das ist zu
viel, zu schnell.“
Zumal mit den Gletschern Islands eben-
falls in Rekordgeschwindigkeit die in Alas-
ka schmelzen und die in Spitzbergen und
die noch unendlich viel gewaltigeren
Eiskappen Grönlands und der Antarktis.
Ja, er wolle die Menschen aufrütteln, sagt
Sigurðsson. Er höre oft, wir müssten han-
deln, bevor es zu spät ist, da wolle er doch
eines mal klarstellen: „In vielerlei Hinsicht
ist es bereits zu spät. Es werden Katastro-
phen auf uns zukommen, die wir nicht

mehr verhindern können.“ Und weil er
weiß um den doch eher entmutigenden Ef-
fekt dieser Sätze, fügt er noch einen hinzu:
„Wir können sie allerdings abmildern.“
Andri Snær Magnason, der 46-jährige
Dichter und Schriftsteller, vielfach ausge-
zeichnet, Autor international erfolgreicher
Kinderbücher („Die Geschichte vom blau-
en Planeten“), ist da von anderem Gemüt.
Den Satz, es sei zu spät, wolle er nicht in
den Mund nehmen, sagt er. Er hat sein Le-
ben lang für die Umwelt gekämpft, vor drei
Jahren kandidierte er für das isländische
Präsidentenamt. „Wenn ich Krebs hätte
und eine Überlebenswahrscheinlichkeit
von nur einem Prozent – ich würde kämp-
fen“, sagt er. „Vielleicht betrüge ich mich
da selbst, vielleicht aber liegt das auch in
der Natur von uns Isländern.“
Die waren mehr noch als andere Völker
immer den Naturgewalten ausgesetzt, den
Vulkanen und den Gletschern. „Alle paar
Jahrzehnte starb ein Drittel unseres Vol-
kes, und der Rest, der überlebte, sagte
dann: ‚Gut, lasst uns weitermachen!‘“ Be-
sonders organisiert seien die Isländer nie
gewesen, meint Magnason. „All unsere Plä-
ne waren sowieso immer zum Scheitern
verurteilt.“ Dafür aber vielseitig talentiert,
flexibel und anpassungsfähig. Klingt nach
guten Voraussetzungen für die neue Zeit.
Gletscherromantik wird man in den
isländischen Überlieferungen übrigens nir-
gends finden. Gletscher waren etwas
Furchterregendes, Feindseliges. Solange
sie wuchsen, schluckten sie Wiesen und
Farmen, bedeckten fruchtbare Felder mit
Geröll und wenn sie eine ihrer gefürchte-
ten Sturzfluten ausspien, dann konnten
diese Wasserfluten in Masse und Wucht
für ein paar Stunden konkurrieren mit den
größten Flüssen der Erde (das isländische
Wort dafür, jökulhlaup, wurde weltweit
zum Fachwort für Gletschersturzfluten).
Im bekanntesten traditionellen Schlaf-
lied des Landes, „Schlaf, meine junge Lie-
be“, werden die Kinder des Landes in den
Schlaf gewiegt mit Versen, die besingen,
wie draußen die tiefen Spalten des Eises

heulen und wie der Gletscher die grünen
Wiesen unter seinem schwarzen Sand er-
stickt. Das prägt. Die Wertschätzung, die
die Gletscher nun in ihrem Sterben erfah-
ren, ist deshalb auch unter den Generatio-
nen unterschiedlich verteilt.
In Andri Snær Magnasons Familie aller-
dings war die Nähe zu ihnen schon immer
etwas größer als anderswo. Er wuchs als
Kind auf, umgeben von Fotografien und
Erzählungen von Gletschern. Seine Groß-
eltern gehörten in den Fünfzigerjahren des
vergangenen Jahrhunderts zu den
Gründungsmitgliedern der Isländischen
Glaziologischen Gesellschaft. Zum Treffen
im Café des Isländischen Nationalmuse-
ums bringt Magnason das Manuskript
seines neuen Buches mit. Er zieht Schwarz-
Weiß-Fotos hervor: Die Großeltern mit Ski-
ern bei der Gletscherbesteigung, die Groß-
mutter am Steuer eines sehr zerbrechlich
wirkenden Segelfliegers. Einmal, 1955,
nahmen die Großeltern teil an der Vermes-
sung eines Gletschers und lebten tagelang
in einem Zelt auf dem Eis. „War euch nicht
kalt?“, habe er sie gefragt, erzählt Magna-
son. „Wieso kalt?“, sagten sie. „Wir waren
frisch verheiratet.“ Die Gletschererhö-
hung, auf der das Zelt stand, heißt heute
Brúðarbunga, die „Rundung der Braut“.
Organisiert haben die Gedenkveranstal-
tung für den Ok-Gletscher am Sonntag
Cymene Howe und Dominic Boyer, zwei An-
thropologen der texanischen Rice-Univer-
sität. Als sie Andri Snær Magnason frag-
ten, ob er den Text für die Gedenktafel
schreiben könnte, da habe er lange nachge-
dacht, sagt der Autor. Wie um alles in der
Welt schreibt man den Nachruf für einen
Gletscher, wie verabschiedet man sich von
etwas, das der Mensch für ein Symbol der
Ewigkeit hielt? Magnason schreibt auch
Science-Fiction, wahrscheinlich war er
nicht die schlechteste Wahl.
Er hat für sich mehrere Defekte unserer
Zivilisation identifiziert, nicht zuletzt die ei-
gene Widersprüchlichkeit. Er erzählt, wie
er das letzte Mal mit Freunden einen Glet-
scher bestieg: „Oben angekommen dachte
ich: Dass ich hier stehen kann, ist auch eine
Folge der technologischen Entwicklung,
der Superkraft, die das Öl uns gegeben hat.
Sie hat dafür gesorgt, dass es uns gut geht,
dass meine Freunde und ich nicht hungern
müssen und hier auf diesem Gletscher ste-
hen können. Die Kraft, die mir ermöglicht,
dass ich auf dem Gletscher Spaß haben
kann, sorgt gleichzeitig dafür, dass ich ihn
zerstöre.“
Unser größtes Problem aber, glaubt
Magnason, sei die Unfähigkeit, über den
Tellerrand der Gegenwart hinauszubli-
cken: Wir planen nicht ernsthaft für die Zu-
kunft, meint er, wenn wir nicht das Gefühl
haben, sie hätte etwas mit uns persönlich
zu tun. Er hat für sich ein Gedankenspiel
entwickelt, um unsere Vorstellung von Zeit
weit in die Zukunft zu dehnen. Oben, auf
dem Ok-Berg, kurz bevor ein paar Kinder
seine Gedenktafel an einem Stein anbrin-
gen, deutet er auf eine der Schülerinnen:
„Wenn sie einmal 90 Jahre ist, dann wird
sie eine Enkelin haben, die vielleicht wie-
der 90 Jahre alt wird. Und diese von ihr so
geliebte Enkelin wird das Jahr 2160 erle-
ben.“ So fern ist es also gar nicht von uns
und unseren Leben heute, das Jahr, in dem
Island sich endgültig von seinen Glet-
schern verabschieden wird.
Als er die Inschrift dann schrieb, sagte
Magnason, sei er nicht mehr nervös gewe-
sen: „Ich dachte, wir spazieren da zu zehnt

hinauf, mehr Leute bekommen das eh
nicht zu sehen.“ Von wegen. Plötzlich wa-
ren der Ok-Gletscher und sein Dahinschei-
den weltweit in aller Munde. Zeitungen in
China, Korea, Saudi-Arabien berichteten.
Die Organisatoren hatten – zu ihrer eige-
nen Überraschung – einen Nerv getroffen.
Dass nur zwei Tage nach der Gedenkver-
anstaltung auf dem Berg am Dienstag in
Reykjavik die Staatschefs der nordischen
Länder einen Gipfel abhalten und dass die
deutsche Bundeskanzlerin dazu anreisen
wird, das ist ein Zufall. Aber einer, den sie
nutzen wollen. In der Arktis steigen die
Temperaturen zwei- bis dreimal so schnell
wie im Rest der Welt. Sie werden nun ge-
nau hinschauen, ob Islands Premierminis-
terin ihr Versprechen hält, das sie am Fuß
des Ok-Berges am Sonntag gab, nämlich
die Klimakrise zum Topthema des Gipfels
zu machen. Schriftsteller Magnason mag
der ewige Optimist und Kämpfer sein, nö-
tig aber, sagt er, sei wohl nicht weniger als
eine „gemeinsame Anstrengung wie im
Kriegsfall“. Nein, sagt er, im Normalfall mö-
ge er Endzeitrhetorik gar nicht: „Aber das
ist die Sprache der UN-Berichte. Lesen Sie
die. Mit einem Mal wird Wissenschaft fast
biblisch.“
Und die Weltführer seien sich dessen
zwar nicht bewusst, sagt Magnason dann
noch, aber sie seien gerade dabei, sich in
Gestalten wie aus der Mythologie zu ver-
wandeln: „Denken Sie einmal darüber
nach: Wann in der Geschichte haben Köni-
ge sich je getroffen und darüber diskutiert,
wie warm die Ozeane sein sollen? Das ist
verrückt, das gab es noch nie. Da sind diese
Staatsführer, die in den Spiegel schauen
müssen, um dann zu sagen: Ich bin als
ganz normaler Mensch groß geworden –
und jetzt bin ich ein Wettergott. Verstehen
sie das überhaupt? Können sie damit
umgehen?“

Island heißt Eisland. Was passiert also
mit Island, wenn das Eis fort ist? Nennt es
sich dann nur noch „Land“, wie Andri Snær
Magnason vorschlägt? Sie pflanzen nun,
kein Witz, Palmen in Reykjavik. Fünf
Stück haben die Stadtgärtner im Viertel
Laugardalur in diesem Monat versuchswei-
se eingesetzt, eine Himalaja-Spezies, muss
man gerechterweise hinzufügen, wider-
standsfähig und nicht allzu teuer.
Die Bürger horchten trotzdem auf, fühl-
ten sich an die Kontroverse im Januar erin-
nert. Damals stellte die Stadtregierung
schon einmal einen Plan vor, ein Neubau-
viertel im Osten für umgerechnet eine Mil-
lion Euro mit zwei Palmen zu verschönern,
die in eigens gebauten Glasröhren überle-
ben sollten – ein Projekt der deutschen
Künstlerin Karin Sander, die der lokalen
Presse zufolge die Isländer „zum Träu-
men“ bringen möchte: „Anstatt einen
Baum aus Norwegen zu nehmen, nehmen
wir einen, der an Sommerferien, Strände
und Freizeit erinnert“, wurde sie damals zi-
tiert. „Wir bringen nicht bloß die Bäume,
wir bringen das Klima nach Island.“
Und jetzt kommt das Klima ganz von al-
lein. Friedlich liegen sie da im Krater, die
Überreste des Okjökull, weiß und kreis-
rund, an manchen Stellen etwas ange-
schmutzt, zu Fuß in zwanzig Minuten zu
umrunden, auch im Tod noch der schönste
Fleck des Berges. Nur ein paar Schritte ent-
fernt findet man seit Sonntag eine kupfer-
ne Gedenktafel, die auch das poröse Vul-
kangestein noch überleben wird, in das sie
eingelassen ist.
„Ein Brief an die Zukunft“ hat Andri
Snær Magnason seine Zeilen auf der Tafel
überschrieben. „Dieses Monument ist
Zeugnis dafür, dass wir wissen, was
geschieht und was getan werden muss“,
steht da. „Ihr allein wisst, ob wir es getan
haben.“

Der Verflossene


In einerGeröllhalde auf Island beerdigte die Menschheit vergangenen Sonntag den Okjökull.


Es gab sogar eine Schweigeminute und einen Totenschein für den Gletscher. War es das?


von kai strittmatter


Von Sentimentalitäten hält der


Glaziologe wenig. Aber der Berg


zeigt, was auf uns zukommt


DEFGH Nr. 191, Dienstag, 20. August 2019 (^) DIE SEITE DREI HF2 3
Was passiert eigentlich mit Island,
wenn das Eis fort ist? Heißt
das Eisland dann nur noch Land?
„Tod durch Menschenhand“, steht auf dem Totenschein für den Okjökull. Hier liegt schon lange nur mehr totes Eis. So nennen das die Geologen, wenn ein Gletscher so viel an Masse verloren hat, dass er sich nicht mehr bewegt. FOTO: RAGNAR ANTONIUSSEN
Gletscher hatten immer etwas
Furchterregendes, weil sie
wuchsen. Das ist jetzt anders
Der Glaziologe Oddur Sigurðsson (l.) hat den Okjökull vermessen und erforscht,
jetzt hat er ihn mit dem Schriftsteller Andri Snær Magnason beerdigt. FOTOS: TTT / AFP

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