warten. Vier Jungen, 15 bis 18 Jahre alt, aus
Burkina Faso, Mali und der Elfenbeinküste, die
mit glasigen Augen auf einen kleinen Fernseher
starren. Ein drahtiger 59-jähriger Kameruner,
der hofft, seiner Frau nach Deutschland nach-
folgen zu können. Zwei Brüder aus einem Dorf
in Burkina Faso, mager und unendlich un-
schuldig: Sie haben keine Schule besucht,
wissen nicht, wie alt sie sind, haben nur für ein
oder zwei Tage Wechselsachen dabei und hof-
fen, irgendwie an einen Ort namens Europa zu
gelangen.
Der Boss geht hinter eine Mauer in einen mit
rostigen Autoteilen übersäten Hof. Am nächsten
Tag fährt wieder ein Konvoi. Ein paar Dutzend
junge Afrikaner – die meisten, aber nicht alle,
aus Niger – liegen im Schatten und schlafen oder
rauchen. Der 18-jährige Mohammed aus Agadez
schraubt am Motor seines Pick-ups herum. Er
ist vor gerade mal zwei Stunden mit dem Konvoi
aus Libyen zurückgekehrt und sichtlich er-
schöpft. Am nächsten Tag soll er wieder Rich-
tung Norden fahren. Er fährt diese Strecke seit
er 15 ist. Der Beifahrersitz und die linke hintere
Stoßstange an seinem zerbeulten Pick-up sind
voller Einschusslöcher. Viermal wurde er in der
Wüste schon überfallen. Früher war er Auto-
mechaniker. Auch heute repariert er noch ab
und zu ein Fahrzeug. Aber: „Hierbei verdient
man besser“, sagt er über seine neue Arbeit.
Der Pick-up-Fahrer im Teenageralter, seine
rastlosen Passagiere, selbst der Boss: Ihre Ge-
schichten laufen letztlich auf dasselbe hinaus.
Unruhe ist in Westafrika das vorherrschende
Charakteristikum. Es ist eine Region, die von
wirtschaftlicher Not, einer boomenden und sich
drastisch verändernden Bevölkerung, Umwelt-
verschmutzung, politischer Instabilität und
zunehmender Gewalt geplagt wird.
Und Niger, umringt von fünf der größten
Brutstätten extremistischer islamischer Grup-
pen – Algerien und Libyen im Norden, Mali im
Westen, dem Tschad im Osten und Nigeria
im Süden –, ist ärmer als sie alle und doch, bis
jetzt, von allen das friedlichste Land. Wie es der
US-Botschafter Eric Whitaker vorsichtig aus-
drückt: „Niger ist ein gutes Land in einer rauen
Nachbarschaft.“
Es scheint unter einigen Westmächten eine
stillschweigende Übereinkunft zu geben: Wenn
man Niger verliert, dann kann alles Mögliche
passieren. Aus diesem Grund baute die ameri-
kanische Luftwaffe am Stadtrand von Agadez
Und der ist – der Boss. Geld wechselt die Hände.
Papiere werden unterzeichnet. Es wird weg-
gesehen. Die Reise kann beginnen.
„Überall kennt man mich“, erklärt er. „Selbst
im Internet findet man Bilder vom Boss mit
Flüchtlingen.“ Er organisiert die Transsahara-
fahrt von Agadez in die zentrallibysche Stadt
Sabha. Von dort bringt jemand die Flüchtlinge
weiter nach Tripolis, bevor ein dritter Mittler sie
über das Mittelmeer in den Westen übersetzt.
Wo sie am Ende landen – in Italien, in den USA,
in Abschiebehaft, zum Sterben in der Wüste oder
zum Ertrinken im Meer –, liegt außerhalb der
Zuständigkeit des Bosses.
Manche sehen in ihm nur einen Kriminellen.
Der Boss, der wegen seiner zwielichtigen Ope-
ration seinen Namen nicht nennen will, sieht
sich selbst als umtriebigen Unternehmer im
Dienste der Öffentlichkeit.
VOR ALLEM ABER IST DER BOSS in Stabilisator in
einer Region, in der es nur wenige solche Fak-
toren gibt. Was auf Außenstehende wie ein wil-
des Durcheinander wirkt, ist in Wahrheit ein
System, das alle verstehen und von dem viele
profitieren.
Da es illegal ist, ist es nicht das beste System.
Aber es ist eine kreative Lösung angesichts der
unumstößlichen Tatsache, dass um Niger herum
das Chaos regiert. Es ist zwar ein Land mit un-
endlich vielen Missständen – bitterer Armut,
einem Mangel an fruchtbaren Böden, der durch
die Desertifikation noch verschlimmert wird,
und einem instabilen politischen System –, aber
anders als seine Nachbarn ist es kein Hort der
Gewalt. Es ist ein Land, durch das man flieht.
Keines, aus dem man flieht. Nigers Schicksal
hängt davon ab, ob es das Chaos abwenden und
eine gewisse Ordnung aufrechterhalten kann
oder ob es ihm ganz verfällt.
Welche Rolle der Boss in Nigers besonderer
Situation spielt, wird vor allem deutlich, wenn
er wie an diesem Sonntagvormittag stundenlang
durch die Flüchtlings-„Ghettos“ von Agadez
fährt. Agadez ist eine alte Stadt mit flachen Häu-
sern, einem Sultanspalast, einer 500 Jahre alten
Moschee im historischen Zentrum und etwas
außerhalb mit Stadtvierteln aus Lehm und Stroh.
Sie hat mehr als 130 000 Einwohner – ohne die
vielen Klienten des Bosses auf der Durchreise.
Einige davon sitzen hinter Lehmziegelwän-
den, wo sie in Hinterzimmern still die Zeit tot-
schlagen und auf den Montagmorgenkonvoi
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