walttätigen Auseinandersetzungen zwischen
den Rebellen und der nigrischen Armee hatten
zur Folge, dass sich die Tourismusbranche in
Luft auflöste. Seitdem gilt Agadez bei den Reise
veranstaltern als rote Zone.
In dieses Vakuum stießen der Boss und seine
Konkurrenten in der Flüchtlingsbeförderungs
branche. Aufgrund seiner geografischen Lage
war Agadez – von dem TuaregWort egdez für
„besuchen“ abgeleitet – schon seit Jahrhunder
ten eine Durchgangsstation für Salzkarawanen
und andere nomadische Händler mit ihren
einen Militärflugplatz, und aus diesem Grund
sind USSpezialeinheiten an Antiterroreinsätzen
in Niger beteiligt. Aus diesem Grund beträgt der
Anteil ausländischer Finanzhilfen an Nigers
Budget 40 Prozent. Und aus diesem Grund trägt
der Boss, indem er Westafrikaner über den gan
zen Erdball schickt, auf paradoxe Weise zum
Zusammenhalt einer Region bei, die ganz leicht
aus den Fugen geraten könnte.
Eines Morgens sitzt der Boss in Agadez vor
einem Hotel. Mit Sonnenbrille und Turban, den
obligatorischen Zahnstocher im Mund, fläzt er
sich im Innenhof auf einen Stuhl und hört auf
seinem Smartphone gedankenverloren eine
französische Radiosendung. Schließlich mur
melt er: „Alles hat die EU blockiert. Tourismus,
Migration, die Minen. Was kann man denn noch
tun außer schlafen? Man beißt dich und sagt dir,
du darfst nicht weinen.“
SELBST FÜR EINEN KRISENGESCHÜTTELTEN Kon
tinent ist die Lage in Niger besonders ernst, wie
zwei ernüchternde Zahlen verdeutlichen: ein
BIP von etwa tausend Dollar pro Kopf, eines der
niedrigsten der Welt, und eine Geburtenrate
von sieben Geburten pro Frau, und damit die
höchste der Welt. Aber die Bevölkerungsent
wicklung allein kann die prekäre Situation in
Niger nicht erklären. Als Binnen und Wüsten
staat leidet das Land immer wieder unter
schweren Dürren, und durch den Klimawandel
werden sich diese noch verschärfen. Armut
und ökologische Anfälligkeit vergrößern zu
dem die politische Instabilität.
Seit Erlangung der Unabhängigkeit von
Frankreich 1960 hat Niger vier Militärputsche
erlebt, den letzten im Jahr 2010. Außerdem kam
es in den vergangenen 30 Jahren zu zwei bluti
gen TuaregAufständen. Der letzte, der vor zehn
Jahren zu Ende ging, hat die größte der acht
Regionen, Agadez, schwer gezeichnet. Bis dahin
war die Stadt Agadez das touristische Tor zur
Sahara gewesen, mit jährlich bis zu 20 000 Be
suchern, von denen viele per Direktflug aus Paris
angereist waren. Die drei Jahre dauernden ge
Kamelen. Agadez bot sich als Drehkreuz für
afrikanische Flüchtlinge geradezu an und war
im Übrigen auch gut mit ehemaligen Touristen
führern und Chauffeuren ausgestattet. „Bis
zu 300 000 Flüchtlinge jährlich kamen hier
hindurch“, erinnert sich der Bürgermeister der
Stadt, Rhissa Feltou. „Chauffeure, Hotels, Märk
te, Banken, Telefongesellschaften – die ganze
Stadt profitierte davon.“
Der Flüchtlingsstrom wurde noch mächtiger,
als nach dem Sturz des libyschen Staatschefs
Muammar alGaddafi 2011 Nigers Grenze zu
Libyen unsicher wurde. Auf den Transporten
Richtung Süden waren jetzt auch Waffen, die
man aus den Lagern der libyschen Regierung
abgezweigt hatte. Die immer größer werdende
Zahl von Flüchtlingen stellte auch die Länder in
Europa vor Probleme – und so kam und kommt
es zu humanitären Tragödien in der Wüste und
auf See. Die Durchlässigkeit der afrikanischen
Grenzen verstärkte die Sorge, der Terrorismus
würde sich ungehindert ausbreiten – umso
mehr, als sich nach den Militäreinsätzen der
USA und der Nato gegen alQaida in Afghanistan
und den IS im Irak diese Gruppen gezwungen
sahen, sich nach weiteren Basen umzusehen.
Nachdem die Europäische Union finanzielle
Anreize geboten hatte, verbot Nigers Regierung
2015 die Beförderung von Flüchtlingen. In
Agadez beschlagnahmte die Polizei zahlreiche
PickupLkw. Vermittler und Fahrer wurden ver
haftet, darunter auch der Boss: Er saß drei Jahre
im Gefängnis.
NIGER IST ZWAR EIN LAND MIT VIELEN MISSSTÄNDEN
- ARMUT, TROCKENHEIT, EINEM INSTABILEN POLITISCHEN SYSTEM –,
ABER ES IST KEIN HORT DER GEWALT.
MAN FLIEHT DURCH DIESES LAND, NICHT AUS IHM.
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NIGER 101