„Bis vor Kurzem gab es in Agadez keine
Diebe“, sagt Scheich Salahadine Madani, Imam
an der streng islamischen Schule Daroul Kouran
in Agadez. „Die Leute haben im Tourismus oder
für die Flüchtlinge gearbeitet, oder sie gingen in
den Minen auf Goldsuche. Wenn ich jetzt das
Gefängnis besuche, dann sehe ich Leute, die ich
dort nie erwartet hätte. Es sind ehrliche Men-
schen, die aus Verzweiflung gestohlen haben.“
Unter einem Sonnenschirm im Innenhof
eines Hotels nippt er an einer Cola. Seine Stim-
me klingt tieftraurig. Dennoch reagiert er ge-
allem, weil dort Menschen aus dem Tschad, dem
Sudan und Libyen schürften. Jetzt sind hier
viele nigrische Bergarbeiter, die mit anderen
Männern aus Agadez verzweifelt versuchen,
ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
„Ob ich Hoffnung habe?“, sagt ein 46-jähriger
Mann namens Jamal und zieht seinen Schal ab,
um mir sein sandverkrustetes Gesicht zu zeigen.
„Schauen Sie sich mal meinen Bart an. Vor lau-
ter Hoffen ist der weiß geworden.“
Jamal steht auf einem mit tiefen Löchern
übersäten Hügel. „Wir haben bis in 53 Meter
reizt, als er auf die historischen Verbindungen
zwischen der orthodoxen islamischen Izala-
Bewegung, der er angehört, und dem Gründer
der Terrororganisation Boko Haram angespro-
chen wird. „Im Koran steht nichts davon, dass
man Unschuldige im Namen des Islams töten
soll“, erklärt er. Er gibt jedoch zu, dass der Weg
von der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit zum
gewalttätigen Extremismus durchaus üblich ist.
„Ja, das erlebe ich hin und wieder“, sagt er.
IM SÜDOSTEN VON NIGER sind islamistische Ter-
roristen der Boko Haram bereits aktiv. Seit 2015
greifen sie dort die Stadt Diffa und die Flücht-
lingsdörfer in der Region Diffa an. Nigers
Armee tötete nach eigenen Angaben bereits
viele Dutzend Kämpfer Boko Harams. Doch die
Organisation ist noch immer stark genug, um
im Februar und März dieses Jahres nigrische
Militärbasen anzugreifen.
Terror als letzte Chance? Den meisten West-
afrikanern scheint diese Möglichkeit – die ent-
setzlich asozial, blasphemisch, letztlich selbst-
zerstörerisch ist – zu widerstreben, so dass sie
alles Erdenkliche tun, um sie zu vermeiden. Was
man auch vom Boss und seinen Klienten halten
mag, ihre schiere Hartnäckigkeit ist bewun-
dernswert.
In einem Heim in Agadez, das Flüchtlinge bei
der Rückkehr in ihre Herkunftsländer unter-
stützt, sitzt Mohamed, ein 19-jähriger Ivorer, der
um den Hals eine lange Kette mit einer Rasier-
klinge trägt.
Tiefe gegraben, aber dann sind wir auf Wasser
gestoßen“, sagt er. „Das müssen wir absaugen.
Wir haben eine Pumpe, aber die ist kaputt ge-
gangen.“ Er zeigt ein paar Meter weiter auf einen
schlaksigen Bergarbeiter im blauen Overall, der
fast ganz mit einer feinen Staubschicht über-
zogen ist. Gemeinsam mit seinen elf Söhnen
(von zwölf bis 30 Jahren) war es dem Mann ge-
lungen, ein 60 Meter tiefes Loch zu bohren, wo
sie auf Spuren des wertvollen Minerals gestoßen
waren. „Das Gold ist da und wartet“, erklärt
Jamal. „Wir müssen bloß irgendwo Geld auftrei-
ben, um die Pumpe reparieren zu lassen.“
Seit drei Jahren ist Amzeguer Jamals Arbeits-
platz. Vorher arbeitete er von Agadez aus als
Wüstenführer für Flüchtlinge, mit sechs Fah-
rern unter seiner Aufsicht. Nach Inkrafttreten
des Migrationsstopps hat die Polizei zwei von
seinen Pick-ups beschlagnahmt. Jetzt ist er
ein mittelloser, selbstständiger Goldgräber.
Mehrere seiner neuen Kollegen kamen in den
Schächten schon ums Leben, weil eine Mine
eingebrochen war oder jemand ein Werkzeug
auf sie fallen ließ.
„Beide Jobs sind riskant“, meint er. „Aber
wenn jemand aus der Stadt anruft und sagt ‚Ich
habe hier 50 Flüchtlinge. Kannst du mir helfen,
sie zu fahren?‘, dann tue ich das natürlich.“ Ja-
mals Stimme klingt nüchtern. „Wenn ich kein
Gold finde, gehe ich wieder zurück in meinen
alten Beruf “, sagt er. „Wenn nicht in einem
Pick-up, dann mache ich es eben mit einer Ka-
melkarawane, wie früher.“
MIT DEM VERBOT DES MENSCHENSCHMUGGELS
VERSIEGTE DIE WICHTIGSTE EINKOMMENSQUELLE DER STADT.
AUF DEM SCHWARZMARKT BLÜHT
DAS GESCHÄFT SEITDEM ABER WEITER.
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NIGER 107