In den 60 Jahren seit seiner Flucht ist der
Dalai Lama in über 60 Länder gereist, um für die
Bewahrung der tibetischen Kultur, Religion und
Identität zu werben. Die Leichtigkeit, mit der er
auf andere zugeht, ist ein Grund für die tiefe
Bewunderung, die ihm in vielen Teilen der Welt
entgegengebracht wird. Sie ist jedoch kein Ver-
gleich zu der, die ihm einst in seinem Reich auf
dem Dach der Welt zukam, wo sich Tibeter bei
seinem bloßen Anblick auf den Boden warfen.
Für sie ist er die Reinkarnation des Bodhisattva
- eines Erleuchteten, der freiwillig aus dem Nir-
wana zurückgekehrt ist, um das Leid aller füh-
lenden Wesen auf der Erde zu mindern. Die
Ahnenfolge des jetzigen 14. Dalai Lamas reicht
bis ins 15. Jahrhundert zurück.
IMMER WENN ER VOR SEINER FLUCHT den Potala-
Palast in Lhasa verließ, seine „Winterresidenz
mit 1000 Zimmern“, begleitete den Dalai Lama
eine Prozession von „Hunderten von Men-
schen“, darunter Reiter „in ihren typischen
bunten Kostümen und mit Fahnen in der
Hand“ und Mönche, die jeder ein Banner „mit
heiligen Texten“ hochhielten – so beschreibt er
es selbst in seiner Autobiografie.
Der Dalai Lama war gerade einmal zwei Jahre
alt, als ein Suchtrupp aus hochrangigen Mön-
chen 1937 den Omen zu seinem Elternhaus in
einer winzigen Bauernsiedlung folgte. Sie prüf-
ten den kleinen Jungen, der damals noch Lhamo
Thondup hieß. Sie präsentierten ihm verschie-
dene Gegenstände, und der Kleine zeigte genau
auf die, die dem vorherigen Dalai Lama gehört
hatten: unter anderem ein Gehstock und eine
Gebetskette. Der Junge schien die Mönche sogar
zu kennen und nannte einen beim Namen. Nach
weiteren Prüfungen nahm man ihn mit auf eine
dreimonatige Reise durch die „von weiten Ebe-
nen gesäumten gigantischen Berge“ bis in die
tibetische Hauptstadt Lhasa, wo ihn „endlose
Menschenmengen“ willkommen hießen. Später
wurde er formell als geistliches Oberhaupt von
Tibet auf den enormen, „reich mit Juwelen ge-
schmückten“ Löwenthron gesetzt.
Damals war er vier Jahre alt.
Das Schicksal des jungen Dalai Lama nahm
eine Wendung, als Mao Zedongs Truppen 1950
1940 Am 22. Februar,
dem Tag seiner Einset
zung als geistiges
Oberhaupt Tibets, reist
der 14. Dalai Lama auf
einer goldenen Sänfte.
1935 in einer tibeti
schen Bauernfamilie
geboren, wurde der
Junge Lhamo Thondup
im Alter von nicht ein
mal drei Jahren als die
neueste Inkarnation
des Dalai Lama ausfin
dig gemacht.
1954 Nach dem Ein
marsch der chinesi
schen Armee in Tibet
1950 wurde der Dalai
Lama mit 15 erneut
inthronisiert, diesmal
als politisches Ober
haupt. Vier Jahre spä
ter trifft er in Peking
mit Mao Zedong
zusammen. Sie begeg
nen sich mindestens
ein Dutzend Mal, kom
men jedoch zu keiner
Übereinkunft.
1959 Nach dem erfolg
losen Aufstand der
Tibeter gegen die chi
nesische Besatzung
und aus Sorge um den
Dalai Lama (dritter von
rechts, auf einem wei
ßen Pferd), fliehen tibe
tische Freiheitskämpfer
vor der chinesischen
Armee über den Hima
laja nach Indien. Ihre
Mission: sein Leben
schützen.
Aufstieg und Exil
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