National Geographic Germany - 08.2019

(WallPaper) #1

EXPLORER (^) | E S S AY
UNSERE VORFAHREN SIND GE-
WANDERT, DAS EINE MAL IN
DIESE RICHTUNG, DAS ANDERE
MAL IN JENE, GETRAGEN
DURCH STRÖMUNGEN VON INNEN
UND VON AUSSEN.
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gegen ihre Beziehung zur Zeit. Schreiend leugnet
sie, dass ständige Bewegung das Leben des Menschen
ausmacht. Vielleicht bietet der Gedanke, dass wir
Migranten – Wandernde – sind, einen Ausweg aus
dieser drohenden Dystopie. Wenn wir alle Migranten
sind, besteht vielleicht eine Seelenverwandtschaft
zwischen der leidenden Frau, die nie in einer ande-
ren Stadt gelebt hat und sich doch in ihrer Straße
fremd fühlt, und dem leidenden Mann, der seine
Stadt verlassen hat und sie nie wiedersehen wird.
Vielleicht ist die Vergänglichkeit unser gemeinsamer
Feind, aber nicht in dem Sinn, dass man den Lauf
der Zeit überwinden könnte, sondern dass wir alle
unter den Verlusten leiden, die die Zeit uns zufügt.
Dann wird vielleicht größeres Mitgefühl mit uns
selbst möglich, und daraus erwächst vielleicht grö-
ßeres Mitgefühl für andere. Während wir im Strom
der Zeit schwimmen, könnten wir unseren Mut
zusammennehmen, statt der Angst nachzugeben.
Gemeinsam können wir vielleicht tapfer genug sein
und erkennen, dass unser eigenes Ende nicht das
Ende von allem ist, dass Schönheit und Hoffnung
noch möglich sind, auch wenn wir nicht mehr sind.
Anzuerkennen, dass wir in Wahrheit eine Spezies
von Wanderern sind, wird nicht einfach. Dazu bedarf
es neuer Kunst, neuer Geschichten und neuer Wege
des Daseins. Aber das Potenzial ist groß. Eine andere
Welt ist möglich, eine gerechtere, ganzheitlichere,
eine bessere Welt für uns und unsere Enkel, mit
besserem Essen, besserer Musik und weniger Gewalt.
Ihre Stadt war vor zwei Jahrhunderten fast unvor-
stellbar anders als heute. Und in zwei Jahrhunderten
wird sie wahrscheinlich mindestens ebenso anders
sein. Nur wenige Einwohner würden gerne vor zwei
Jahrhunderten in ihrer Stadt gewohnt haben. Wir
sollten so zuversichtlich sein, es für vorstellbar zu
halten, dass Stadtbewohner in zweihundert Jahren
weltweit das Gleiche denken wie wir jetzt.
Eine Spezies von Migranten zu sein, die damit
leben kann, eine Spezies von Migranten zu sein – das
ist für mich ein Ziel, zu dem zu wandern sich lohnt.
Es ist die größte Herausforderung und Chance, die
jeder Migrant, jede Migrantin uns bietet: in ihm, in
ihr unsere eigene Wirklichkeit zu sehen.
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Der Romanautor Mohsin Hamid („Der Funda­
mentalist, der keiner sein wollte“) lebt nach Jah­
ren in New York und London wieder in Pakistan.
ILLUSTRATION: ANA JUAN

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