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In weiteren tausend Jahren breitete sich diese
neolithische Revolution, wie die Erfindung der
Landwirtschaft genannt wird, von Anatolien bis
Südosteuropa aus. Schon vor etwa 6 000 Jahren
gab es überall in Europa Bauern und Viehzüchter.
U
nklar war allerdings, ob sich ledig-
lich die Innovationen – Ackerbau,
keramische Tonwaren, polierte
Steinäxte, Siedlungsformen – aus-
breiteten oder ob dies mit einer
Wanderungsbewegung einherging. Um das zu
klären, übergab Baird diversen DNA-Laboren
Proben aus Schädelfragmenten und Zähnen aus
gut einem Dutzend Grabstätten in Boncuklu.
Nach Jahrtausenden in der Hitze der Kon ya-
Ebene waren die Knochen eigentlich in einem zu
schlechten Zustand, um genügend DNA herzu-
geben. Doch dann untersuchten Johannes Krau-
se und sein Forscherteam am Max-Planck- Institut
für Menschheitsgeschichte in Jena besondere
Proben. Sie stammen aus den Innen ohren der
Bestatteten: vom Felsenbein, einem der härtesten
Knochen im menschlichen Körper. Er birgt auch
dann noch genetische Informa tionen, wenn die
DNA des restlichen Skeletts längst verloren ge-
gangen ist. Der Zugang zu Felsenbein wie auch
bessere Sequenziergeräte führten zum explo-
sionsartigen Anstieg von DNA-Untersuchungen.
Das Ergebnis: Die DNA der Bewohner von Bon-
cuklu stimmte mit der von Bauern überein, die
Jahrhunderte später und Hunderte Kilometer
weiter nordwestlich lebten und starben. Es waren
also anatolische Bauern abgewandert. Sie ver-
breiteten ihre Lebensweise und ihre Gene.
Im Laufe der Jahrhunderte drangen ihre
Nachkommen entlang der Donau über Lepen ski
Vir hinaus ins Herz des Kontinents vor. Andere
fuhren mit Booten an der Mittelmeerküste ent-
lang und besiedelten die Küsten und Inseln Süd-
europas. Bis hoch nach Britannien findet sich
die anatolische Gensignatur – überall dort, wo
erstmals der Ackerbau in Erscheinung tritt.
Diese jungsteinzeitlichen Bauern hatten meist
helle Haut und dunkle Augen – im Gegensatz
zu vielen Jägern und Sammlern, deren Nach-
barn sie wurden. „Sie sahen anders aus, spra-
chen andere Sprachen, ernährten sich unter-
schiedlich“, sagt der Archäologe David Anthony
vom amerikanischen Hartwick College. „Zum
größten Teil lebten sie getrennt voneinander.“
Einige Belege dafür stammen aus einer Aus-
grabungsstätte im Nordosten Deutschlands,
etwa 50 Kilometer von Berlin entfernt: aus Groß
Fredenwalde, einem vorzeitlichen Friedhof auf
einem 100 Meter hohen Hügel in der Uckermark.
Vor vier Jahren fanden Archäologen dort das
Grab eines sechs Monate alten Babys, das vor
mehr als 8 400 Jahren bestattet worden war. Die
Knochen des Kindes waren fast vollständig
erhalten; es hatte die winzigen Arme über der
Brust gekreuzt.
Solche Babyskelette sind selten – den For-
schern zufolge ist der Fund aus Groß Freden-
walde einer der ältesten in ganz Europa. Die
Archäologen bargen die empfindlichen Über-
reste in einem einzigen, 300 Kilo schweren Erd-
block, um sie unter Laborbedingungen vorsich-
tig freizulegen.
Der Hügel hatte für die umherziehenden
Gruppen von Jägern und Sammlern offenbar
eine besondere Bedeutung. Fast tausend Jahre
lang bestatteten sie hier ihre Toten. Nach den
Worten von Thomas Terberger, einem Archäo-
logen am Niedersächsischen Landesamt für
Denkmalpflege und Grabungsleiter in Groß Fre-
denwalde, handelt es sich um einen der ältesten
bekannten Begräbnisorte Nordeuropas.
G
roß Fredenwalde gibt den For-
schern aber auch Hinweise, wie
die Jäger und Sammler auf die
Ankunft der Bauern reagierten.
Die Bestattungen überlappen sich
zeitlich mit ersten jungsteinzeitlichen Sied-
lungsgründungen der Region, eine davon ist nur
zehn Kilometer entfernt. „Die späten Jäger und
Sammler und die frühen Bauern lebten Seite an
Seite“, sagt Terberger. Doch die Gräber und die
Siedlungen geben keine Hinweise darauf, dass
eine Gruppe die Werkzeuge der anderen über-
nahm oder Zugezogene von ihren nach alter Art
lebenden Nachbarn das Jagen lernten. „Offenbar
haben sie sich zwar in die Augen gesehen, aber
nichts ausgetauscht – weder Güter noch Gene“,
ergänzt Erik Brinch-Petersen, ein Archäologe an
der Universität Kopenhagen.
2019 fanden Terberger und sein Team weitere
Gräber auf dem Hügel. Die Forscher am Max-
Planck-Institut in Jena hoffen, DNA in gutem
Zustand aus den freigelegten Gräbern zu erhal-
ten. Sie könnte den Nachweis liefern, ob sich die
beiden Gemeinschaften später doch noch misch-
ten – oder nicht. „Zweifellos hielten die Bauern
und Jäger hier Kontakt, aber sie tauschten offen-
bar keine Frauen oder Männer aus“, sagt auch