DIE ERSTEN EUROPÄER 59
der Archäologe David Anthony. „Im Gegensatz
zu allem, was Studenten in Anthropologiekursen
über Gemeinschaften lernen, hatten diese Men-
schen keinen Sex miteinander.“ Die Furcht vor
dem Fremden hat eine lange Tradition.
D
och dann, vor 5 400 Jahren, ging es
plötzlich nicht mehr um die Angst
vor dem anderen. In ganz Europa
schrumpften die einst blühenden
jungsteinzeitlichen Siedlungen
oder verschwanden weitgehend. „Wir finden aus
dieser Zeit von allem weniger: weniger Materia-
lien, weniger Menschen, weniger Grabstätten“,
sagt der DNA-Spezialist Krause. „Ohne ein grö-
ßeres Ereignis ist das schwer zu erklären.“ Aber
es gibt keine Hinweise auf Konflikte.
Es folgten 500 Jahre des Niedergangs. Dann,
so scheint es, wuchs die Bevölkerung wieder an.
Vieles hatte sich in der Zwischenzeit ver-
ändert. In Südosteuropa gab es nun imposante
Grabhügel, unter denen einzelne Erwachsene
bestattet wurden. Weiter nördlich, von Russland
bis zum Rhein, entstand eine neue Kultur, die
man nach ihren Töpferwaren, die durch Ein-
drücken von Schnüren in nassen Ton verziert
wurden, die Schnurkeramik-Kultur nennt.
Das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle
an der Saale hat Dutzende von Grabstätten aus
jener Epoche; viele wurden von Archäologen vor
anstehenden Bauarbeiten gerettet. Um Zeit zu
sparen und empfindliche Überreste zu schützen,
wurden auch diese Gräber mitsamt der umgeben-
den Erde ausgehoben und dann in einem Lager-
haus für die spätere Analyse aufbewahrt. Die bis
zur Decke reichenden Stahlre gale voller Behält-
nisse sind eine ergiebige Quelle für Genforscher.
Die Gräber der Schnurkeramik-Kultur sind so
unverkennbar, dass die Archäologen sich selten
mit naturwissenschaftlicher Datierung abmü-
hen müssen. Fast immer sind die Männer auf
der rechten und die Frauen auf der linken Seite
liegend begraben, mit angezogenen Beinen, das
Gesicht nach Süden zeigend. In einigen der
Grabstätten halten Frauen Beutel mit Reiß-
zähnen von Hunden fest. Die Männer bekamen
Stein äxte mit in die Ewigkeit.
Bis die Forscher die DNA aus einigen dieser
Gräber untersuchten, waren sie der Ansicht, die
Menschen der Schnurkeramik-Zeit wären mit
den jungsteinzeitlichen Bauern verwandt gewe-
sen. Die Analyse erbrachte jedoch Gene, die bis
zu dieser Kultur in Europa unbekannt waren,
die es aber heute in fast jeder Bevölkerungsgrup-
pe des Kontinents gibt. Woher stammen sie?
Eine Antwort auf diese Frage fand sich, als der
polnische Archäologe Piotr Włodarczak und sein
Team einen auffälligen Hügel in der Nähe der
serbischen Stadt Žabalj untersuchten. Er war vor
4 700 Jahren aufgeschüttet worden und zusam-
men mit anderen Hügeln links und rechts der
Donau die einzige nennenswerte Erhebung. Alle
Hügel sind bis zu drei Meter hoch und haben
einen Durchmesser von bis zu 30 Metern. Die
prähistorischen Menschen müssen Monate oder
Jahre darauf verwendet haben, sie aufzuschüt-
ten. Selbst mit Bagger und Schaufeln brauchte
Włodarczaks Team Wochen, um den oberen Teil
des Grabhügels abzutragen. Dabei fanden die
Archäologen eine rechteckige Kammer mit dem
Skelett einer wohl hochstehenden Persönlich-
keit, die mit angezogenen Beinen auf dem
Rücken lag. Die dunkle, kompakte Erde zeigte
noch Abdrücke der Schilfmatten und Holzbal-
ken, die einst das Grabdach bildeten.
„Um 2800 v. Chr. änderten sich die Bestat-
tungsbräuche“, erklärt Włodarczak. „Die Men-
schen errichteten gewaltige Grabhügel, um die
Individualität des Einzelnen zu unterstreichen:
die Rolle dieser Menschen, ihre Waffen.“
Das war neu in dieser Gegend – nicht aber
1300 Kilometer weiter östlich in den Steppen des
südlichen Russlands und der östlichen Ukraine.
Dort nutzte eines der ersten Reitervölker der
Welt, die nomadische Jamnaja-Kultur, nicht nur
bereits das Rad. Ihre Mitglieder bauten Wagen
und folgten damit den Rinderherden über das
Weideland.
Bauern, Jäger und Sammler lebten Seite an Seite, mieden aber
Kontakt. Selbst Kulturtechniken schauten sie sich nicht ab.
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