Er ist dem Gesetz auf der Spur. Den For
meln, Regeln und Wirkkräften, den Kon
stanten und Planetenbahnen - jenes Pa
ralleluniversums, das sich Musik nennt.
Musik ist ja zu ernst, um sie den
Ohrenschmeichlern und Schöntönern
zu überlassen. Das Wo rt "Musicant",
das den musikalischen Praktiker be
zeichnet, klingt ihm wie eine Beleidi
gung. Für ihn ist Musik ein Stück Welt
weisheit: eine geradezu "mathematische
Wissenschaft", wie einer seiner Schüler
es fo rmulieren wird. Eine Physik der
"Ursachen, Eigenschaften und Unter-
schiede des Klanges". Und eine Chemie
der Substanzen, die den Menschen "zur
Andacht, zur Tugend, zur Freude und
zur Traurigkeit bewegen".
Das ist das Credo des Johann Se
bastian Bach.
Es ist eine wissbegierige Zeit. Die
Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert
ist eine Epoche der Weltformeln, der
großen wissenschaftlichen Entwürfe.
Der Engländer John Ray ordnet das
Pflanzenreich in einer Systematik, der
Niederländer Christiaan Huygens be
schreibt erstmals den Wellencharakter
des Lichts. Sein Landsmann Antoni van
Leeuwenhoek begründet mit seinem
Mikroskop die Mikrobiologie. Und der
Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz
legt die theoretischen Grundlagen für
das, was einmal Computer heißen wird.
Über allen aber glänzt der Stern des
Isaac Newton. Der Brite hat nicht nur
die Kraft dingfest gemacht, die den
Mond um die Erde und die Erde um die
Sonne kreisen lässt, die Ebbe und Flut
erzeugt. Er hat auch die Gesetze der Me
chanik und Optik bestimmt, die Ent
wicklung des Spiegelteleskops vorange
bracht und fast gleichzeitig mit Leibniz
die Infinitesimalrechnung entwickelt, mit
der sich etwa Kurven berechnen lassen.
Wo hl nirgendwo in Deutschland
ist die Ve rehrung für diesen Mann so
gewaltig wie in der Universitätsstadt
Leipzig. Doch bei allem Wissenschafts
glauben sind die Leipziger, mit sechs
Kirchen gesegnet, auch äußerst gottes
fürchtig. Und jetzt, im Jahr des Herrn
1723, hat der Rat einen nicht mehr ganz
unbekannten Mann zum Kantor der