wane rollt mit ihm in die Stadt: vier
Wa gen, mit Hausrat beladen, dann zwei
Kutschen, darin der Meister, dessen
zweite Frau Anna Magdalena, die er
nach dem To d der ersten Gattin gehei
ratet hat, die Schwägerin FriedeJena und
die fünf Kinder. Der Konvoi hält vor
der spätgotischen Thomaskirche, ihrem
plumpen Turm, dem mächtigen Schiff
mit dem Schieferdach und den hohen
Fenstern. Dort nimmt die Sippe die
Wo hnung des Kantors in Beschlag.
Oie drei Stockwerke im Südflügel
der Thomasschule sind frisch renoviert.
Nebenan, gleich hinter der Wand, pro
ben, lernen und essen die Chorschüler.
Vo m Flur führt eine Tü r in die stattliche
Musikbibliothek der Schule mit mehr
als 500 Titeln und 4500 Stimmbüchern,
vom Wo hnzimmer aus schaut Bach auf
den Thomaskirchhof. Und vom Arbeits-
172:1 J Johann Sebastian Bach
zimmer, der "Komponier-Stube", blickt
er über die Stadtmauer Richtung We sten
auf die Parks und Lustgärten der Bürger
mit Gewächshäusern, Orangerien, Pavil
lons und Rabatten im französischen Stil.
Oie Komponier-Stube wird Bach
nun zum Laboratorium. Seine We rk
zeuge - die Papierstöße, Tintenfässer,
Rabenfedern und Messer, die Bleistifte
und Sandschachteln, die Rastrale und
Lineale zum Ziehen der Notenlinien -
werden ihm zu Messinstrumenten.
Hier erkundet er die Molekular
struktur der Musik. Er baut ihr Perioden
systeme, unternimmt ihre Spektralana
lyse, geht in aufwendigen Ve rsuchsreihen
weiter als je ein Musiker vor ihm: pro
biert nicht nur sämtliche Möglichkeiten
durch, die in einem Thema schlummern,
sondern analysiert die Potenziale der
Musik selbst. Und zwar meist allein im
Kopf, da er seine Kompositionen direkt
aufs Papier wirft: Am Klavier testet er
sie erst hinterher.
IN DIESEN VIER WÄNDEN fi ndet Bach
- wieder einmal - einen Ersatz für die
weite We lt. Fast sein ganzes Leben hat
er ja, bis auf zwei Schuljahre in Lüneburg
und ein paar Abstecher nach Hamburg,
Lübeck oder Karlsbad, in der Enge ver
bracht, in einem Radius von etwa 100
Kilometern um die Stadt We imar.
Während sein gleichaltriger, aber
ungleich berühmterer Kollege Georg
Friedrich Händel, Großbürgerkind aus
Halle, ins We ite strebt, in Italien die
neuesten Entwicklungen der Klangkunst
aufsaugt und später in England mit sei
ner "Wassermusik" oder dem "Messias"
zum Nationalhelden wird, bleibt Bach
in der Heimat und wühlt sich in die