meistertechter Marianne von Ziegler
oder den Steuereintreiber Christian
Friedrich Henrici, der nebenbei schlüpf
rige Gedichte und Schwänke mit Titeln
wie "Der Erz-Säufer" verfasst.
Und wahrhaftig: Bachs "Johan
nespassion", die er am 7. Aprill724 zur
Karfreitagsvesper in der Nikolaikirche
aufführt, ist mit ihrer Dramatik, den frei
gedichteten Rezitativen und Arien von
jenem "Opernhaftigen" nicht weit ent
fe rnt, das seine Vo rgesetzten so fürchten.
Auch die "Matthäuspassion", die in
der Themaskirche zum ersten Mal er
klingt, gerät mit dem Einsatz von gleich
zwei Chören, die im Dialog vom Leiden
und To d Jesu Christi singen, in gefahr
liehe Nähe zur Bühnenkunst.
DABEI SIND BACHS Passionen viel mehr
als die Nummernrevuen der barocken
Oper: Es sind fast dreidimensionale Ar
chitekturen, komplex gefügt und filigran
verstrebt. Text und Musik werden hier
nicht einfach addiert, sondern zu Mus
terbeispielen musikalischer Statik.
Gut 200 Jahre später wird der Mu
siktheoretiker und Philosoph Theodor
W. Adorno Bachs Unternehmen als "äs
thetische Naturbeherrschung" fe iern -
ganz wie die Wissenschaft, die dem
Menschen die Erde untertan macht. Der
führende Bach-Kenner Christoph Wo lff
wird ihm eine nie zuvor gehörte "Ratio
nalisierung des kreativen Akts" beschei
nigen. Und dem Musikwissenschaftler
Martin Geck zufolge werden auf Bachs
Notenblättern "Widersprüche ausgetra
gen und Widerstände bewältigt"- und
schließlich "in Harmonie aufgelöst".
Da ist es kein Wu nder, dass in den
Ohren des Philosophen Adorno nach
dem Bach-Hören selbst der graziöse Mo
zart seltsam mechanisch klingen wird -
und noch der revolutionäre Beethoven
wie eine "Art von dekorativer Unterhal
tungsmusik".
Doch wie jeder Forscher weiß
Bach, dass der Weg der Erkenntnis nie
mals abgeschlossen ist. Während die
IN DER
BAROCKMUSIK
spielen die Cellis
ten meist den
Generalbass und
sollen gemeinsam
mit den höheren
Instrumenten
die Zuhörer zu
Stimmungen wie
Trauer, Freude,
Glück bewegen
Erfolgskomponisten seiner Zeit, etwa
Antonio Vivaldi, ihre Werke als fe rtige
Produkte vermarkten, bleibt für Bach die
Musik ein unendliches work in progress.
Über manchen Studien grübelt er
jahrelang, stellt um, korrigiert, gewichtet
neu, ohne dass je ein Abschluss in Sicht
käme (über seiner "Kunst der Fuge" so
gar so lange, dass er ihre Fertigstellung
nicht mehr erleben wird).
In einer Zeit, die den Musiker als
effizienten Handwerker sieht, ist das ein
unerhörter Anspruch: nicht nach Per
fe ktion zu streben, sondern nach einer
Wahrheit - die zugleich, wie eine Fata
Morgana, stets am Horizont bleibt.
Dabei kann von Laborbedingun
gen in Bachs Kantorenwohnung eigent
lich nicht die Rede sein.
Es geht zu "wie in einem Tauben
hause", so der Sohn Carl Philipp Ema
nuel: ein Gewimmel von Musikern,
Librettisten und Instrumentenbauern,
von Studenten und Schülern. Auswär
tige Kollegen machen ihre Aufwartung,
Gäste bleiben zum Diner. Dazu der
Nachwuchs, dessen Zahl ständig wächst:
Zu den fünf, die mit Bach nach Leipzig
gezogen sind, kommen hier zwölf wei
tere Kinder auf die We lt - von denen
einige freilich früh sterben.
Trotzdem komponiert Bach nicht
nur, sondern entwickelt auch neue Te ch
niken fü r das Orgelspiel, vertieft sich in
die Mechanik, Akustik und Mathema
tik der Instrumente. Und unermüdlich
erforscht er die We chselwirkungen zwi-
sehen Wo rt, To n und Gedanken: ein
akribisches Ausloten dessen, "was in
der Kunst möglich ist", wie Carl Philipp
Emanuel es später nennt.
In seinem "Wohltemperierten Kla
vier" etwa, das er 1744 abschließt, reizt
Bach das emotionale Potenzial sämtli
cher 24 To narten aus, schickt sie durch
Windkanäle aus Präludien und Fugen
- und stellt ganz nebenbei ein Natur
gesetz auf den Prüfstand. Denn bislang
pflegen die Musiker jedes Tasteninstru
ment auf "reine" Töne zu stimmen, de
ren Obertöne, dem intuitiven Gehör
entsprechend, in ganzzahligen Ve rhält
nissen schwingen - um den Preis, dass
ALS MUSIKDIREKTOR in Leipzig
arbeitet Bach wie ein Besessener,
verfasst allein 300 Kantaten