sehen Hofcomposireur". Es ist ein Titel
ohne praktische Bedeutung, der ihm
aber immerhin gegen die zunehmenden
Schikanen des Leipziger Sradrrars den
Rücken stärkt.
Doch kaum har er an dieser Fronr
Ruhe, erwächst dem Mann der "musika
lischen Wissenschaft" ein neuer Gegner:
der Zeitgeist. Denn während Bach sich
in seiner Forschungsarbeit verschanzt
und sie gegen die Winkelzüge der Kom
munalpolitik verteidigt, huldigt die
jüngere Generation einer Mode, mir der
Bach, wie er bald fe stsreUen muss, nichts
mehr anfangen kann.
Gerade die Aufklärer, die Ritter
von Ve rnunft und Fortschritt, haben
jetzt genug vom Inrellekruellen in der
Musik, stellen Anmut und Empfindung
über Wa hrheit und ausgefeilte Kon
struktion. Gegen den barocken Willen
zum Künstlichen setzen sie das Dogma
einer neuen "Natürlichkeit" - das nun
auch die Kunst beherrschen soll.
Modern ist jetzt, was gefällig ist. Der
"galante Sril", den die Millennials des
- Jahrhunderts goutieren, setzt starr
aufKonrrapunkr und Komplexität auf
"edle Einfalt", auf Originalität, Esprit
und jenes gewisse Etwas, das sich "Ge
schmack" nennr.
Nicht Bachs raffiniert verschlun
gene To n-Girlanden sind mehr gefragt,
die einander gleichberechtigt durchdrin
gen, sondern die schlichte, gesangliche
Melodie, die klar über den Begleitstim
men schwebt. Schön ist, was gefällt -
und was das ist, bestimmen statt der
Wissenschaft die bürgerlichen "Lieb-
172:1 J Johann Sebastian Bach
haber", die sich Angenehmes für den
Hausmusikabend wünschen.
Es ist paradox: Je weiter Bach sich
vorwagt in den unerforschten We ltraum
der Musik, desto rückständiger wirkt er
in den Augen seiner Zeitgenossen.
1737 trifft den 52-Jährigen der An
griff eines kaum 30 Jahre alten Theore
tikers und Komponistennamens Johann
Adolph Scheibe ins Mark seiner Berufs
ehre: Bach könnte "die Bewunderung
ganzer Nationen sein, wenn er mehr
Annehmlichkeit hätte", ätzt Scheibe in
seiner einflussreichen Zeitschrift "Cri
tischer Musicus", "wenn er nicht seinen
Stücken durch ein schwülstiges und ver
worrenes We sen das Natürliche entzöge,
und ihre Schönheit durch allzu große
Kunst verdunkelte".
Denn die "beschwerliche Arbeit"
und "ausnehmende Mühe", die darin
stecke, sei "wider die Natur".
Bach will die Kritik nicht auf sich
sitzen lassen. Er macht den Leipziger
UniversitätsdozenrenJohann Abraham
Birnbaum, eigendich eher ein Experte
fü r Recht, Philosophie und Rhetorik,
zum Anwalt seiner Sache, pumpt offen
bar auch noch Geld in die Abwehr
schlacht: Mindestens eine von Birn
baums Vereidigungsschriften gibt Bach
auf eigene Kosten in Druck.
Die neue Natürlichkeit, lässt er sei
nen Sekundanren plädieren - gut und
schön. Das Problem mit der Natur sei
aber, dass sie noch nicht fe rtig sei. Vieles
habe sie nur "höchst ungestallt geliefert",
und die "ermangelnde Schönheit" könne
ihr erst die Kunst verleihen.
Deren Aufgabe sei nicht weniger
als die "Ausbesserung der Natur": eine
Optimierung der We lt, wie sie ja auch
den Forschern und Erfindern dieser
Jahrhundertwende vorschwebt.
ZweiJahre lang fliegen die Polemi
ken hin und her- doch gegen den Zeit
geschmack kommt selbst ein Rhetorik
As wie Birnbaum nicht an. 1739 platziert
auch noch der Hamburger Musikpapst
Johann Marrheson in seinem "Vollkorn-
menen Kapellmeister" einen Seitenhieb
gegen Bachs "lehrreiche Sachen". Und
sogar Carl Philipp Emanuel, der eigene
Sohn, ist bereits auf den eingängigen Stil
seiner Alterskohorte eingeschwenkt.
BACH ZIEHT SICH ins Schweigen zu
rück. Sieben Jahre lang, von 1740 bis
1747, führt er kaum neue Kompositio
nen auf. Macht Dienst nach Vo rschrift,
erfüllt leidenschaftslos seinen Vertrag,
überprüft nebenbei Kirchenorgeln, holt
sich schnellen Applaus bei Konzerten.
Doch die Stille trügt: In seiner
Kompanier-Stube planr er bereits eine
große Ta uchfahrt zum Meeresgrund der
Musik. Als Ve hikel dienr ihm die Fuge
- jene jahrhundertealte Form, die ein
Thema zeitversetzt und in unterschied
lichen To nhöhen durch miteinander
verschränkte Stimmen führt. Die streng
geregelte Kompositionstechnik des Kon
trapunkts, die Ve rknüpfung mehrerer
selbstständiger Melodielinien, reizt er
hier bis zum Äußersten aus.
Bachs "Kunst der Fuge" ist ein Ex
empel musikalischer Mechanik, das zu
gleich auf subtile Art die Seele der Hörer
ergreift. Eine praktische Leistungsschau
kompositorischen Handwerks, die zu
gleich theoretische Maßstäbe setzt: Erst
drei Jahre nach Bachs To d wird zum
ersten Mal eine wissenschaftliche Ab
handlung zum Thema Fugenkompo
sition erscheinen - und sich fast aus
schließlich an diesem We rk orientieren.
1747, als der jetzt über 60 Jahre alte
Bach aufEinladungdes Preußenkönigs,
des fast 30 Jahre jüngeren Friedrich II.,
nach Potsdam reist, empfängt er dort
die entscheidende Zutat für sein letztes
großes Experiment. Und es muss dem
gekränkten Komponisten eine Genug
tuung sein, dass fast die gesamte deut
sche Presse darüber berichtet.
Am späten Nachmirrag des 7. Mai
hält Bachs Kutsche vor dem Potsdamer
Schloss. Bach und sein Sohn Wilhelm
Friedemann, inzwischen Organist an
der Liebfrauenkirche zu Halle, betreten,