Der_Stern_-_29_September_2022

(EriveltonMoraes) #1
REINHOLD: Ab und zu habe ich schon ge-
dacht, jetzt bleibt sie sitzen.
Frau Messner, Ihr Mann hat 35 Jahre mehr
Lebenserfahrung, lässt er Sie das spüren?
DIANE: Nur am Berg.
Herr Messner, Sie schreiben, das Ende
Ihrer zweiten Ehe war eine der schlimms-
ten Enttäuschungen Ihres Lebens.
REINHOLD: Meine zweite Frau war jung,
als wir zusammenkamen, ich habe ihr
eine wirtschaftliche Existenz geschenkt,
bevor sie 30 war. Doch dann, 30 Jahre
später, forderte sie mich auf, ihre Woh-
nung zu verlassen, die ich immer als
Familiensitz verstanden hatte, auch für
Notzeiten. Ich glaube, sie hatte Sorge, ich
könnte krank und dement werden – das
Altern ist ein schwieriger Prozess. Das war
sehr hart.
Sie erwähnen im Buch kein einziges Mal
ihren Namen.
REINHOLD: Nein. Ich habe in einer Täu-
schung gelebt. Mit der Enttäuschung habe
ich meinen Freiraum zurückgewonnen.
Hätten Sie gern mehr Zeit mit Ihren Kin-
dern verbracht, als sie klein waren?
REINHOLD: Nicht unbedingt. Die Mutter
hat die Kinder erzogen, und ich war viel
weg. Wenn ich da war, habe ich mit ihnen
Ausflüge gemacht. Anders hätte ich mein
Leben nicht führen können.
Herr Messner, Sie haben die Welt bereist,
leben in einem Schloss, haben einen
Zweitwohnsitz in München. Verstehen

ten den Massentourismus in die entlege-
nen Ecken der Welt getragen.
REINHOLD: Kann sein, dass ich durch mei-
ne Bücher und Vorträge Menschen bewegt
habe, in die Berge zu gehen. Aber ich habe
niemanden angehalten, sie im Gänse-
marsch anzugehen, sie zu vermüllen. Was
wir am Everest sehen, ist Tourismus. Der
Tourist braucht eine Infrastruktur. Also
wird ein Stück Natur präpariert, auf dass
der Mensch sein Prestige finden kann:
durch Konsum.
Die Todeszone heißt so, weil man stirbt,
wenn man bleibt. Wäre es nicht ein Zei-
chen der Demut gewesen, diesen Ort, an
dem uns die Natur nicht will, zu meiden?
REINHOLD: Die Natur will gar nichts. Die
Tibeter haben eine Legende: Milarepa, der
große Dichter der Tibeter, und ein Mönch
treten in einen Wettstreit. Wer besteigt als
Erster den Kailash im Transhimalaja? Der
Mönch klettert los, Milarepa legt sich
schlafen. Am nächsten Morgen reitet er auf
dem ersten Sonnenstrahl auf den Gipfel,
ohne den Berg zu berühren. Wenn ich dem
Berg keine Wunde zufüge, ihn als Wildnis
respektiere, ist es gut.
Schöne Geschichte, aber Sie weichen aus.
REINHOLD: Wenn mir jemand vorwirft, ich
hätte durch mein Tun meine Existenz, die
Umwelt zerstört, verlangt er von mir rückUmwelt zerstört, verlangt er von mir rückUmwelt zerstört, verlangt er von mir rück--
blickend, ich hätte mein Leben nicht füh-
ren sollen.
Was denken Sie, wenn Sie die Menschen-
schlangen am Everest sehen, die auf
Ihren Spuren gehen?
REINHOLD: Sie gehen nicht auf meinen
Spuren. Ich habe den Everest nicht in einer
Kolonne mit 150 Menschen bestiegen, son-
dern zu zweit oder allein.
Was haben Sie auf den Gipfeln gesucht?
REINHOLD: Wir traditionellen Bergsteiger
gehen in eine archaische Welt. Wir leben
dort nach anarchischen Mustern: keine
Regierung, keine Befehle, kein Gehorsam


  • keine Macht für niemanden. Die Natur
    hat andere Gesetze. Woher sie kommen, in-
    teressiert mich wenig. Ich wollte sie nur
    kennenlernen, respektieren.
    Wie bringt man Menschen zum Verzicht?
    REINHOLD: Versucht man sie zu zwingen,
    gehen sie auf die Straße. Wir müssen es
    selbst wollen: auf Benzin zu verzichten
    oder sich kalt zu duschen. Ich tu es, seit ich
    18 bin. Dazu brauche ich Habeck nicht,
    auch wenn ich ihn mag. Es macht mir gro-
    ße Freude, kalt zu duschen.
    DIANE: Na ja. Es ist jetzt nicht so, dass eis-
    kaltes Wasser läuft und er druntersteht. Es
    ist eher ein Tanz ums kalte Wasser.
    Frau Messner, worauf verzichten Sie?
    DIANE: Auf Bequemlichkeit, Freizeit, auf
    unbewussten Konsum und auf toxische


Sie, wenn Menschen irritiert sind, dass
Sie ein Buch über Verzicht schreiben?
REINHOLD: Ja, aber diese Leute wissen
nicht, dass ich ein Leben lang Verzicht ge-
übt habe. Die Kindheit in den Bergen, mit
acht Geschwistern, war Arbeit und Ver-
zicht. Auch später, am Berg: Verzicht! Der
Mangel ließ mich kreativ werden und
mich meinen eigenen Weg finden. Später
wurde eine Methode daraus: nicht auf im-
mer mehr, sondern auf weniger Kletter-
ausrüstung zu setzen. Auf dem Everest
waren wir die Ersten, die keinen Sauer-
stoff dabeihatten. Verzicht war mein Er-
folgsmodell.
Wie lässt sich dieses Prinzip in den All-
tag übertragen?
REINHOLD: Wenn ich den Verzicht im posi-
tiven Sinne nutze, als Teil des Sinns meines
Tuns, schenkt er Lebensfreude, neue Ideen
und hilft mir, ein gelingendes Leben zu
führen. Und: Verzicht schont die Umwelt.
Wäre es nicht umweltschonender gewe-
sen, erst gar nicht auf den Everest zu stei-
gen? Kritiker werfen Ihnen vor, Sie hät- 4

WENN WIR


AUF EINEN


BERG


STEIGEN,


REDEN WIR


KEIN WORT“


Schloss Juval im Vinschgau. Messner kaufte
die verfallene Burg in den Achtzigern. Heute
lebt er hier mit Diane in einer kleinen Wohnung


Diane Messner


29.9.2022 49

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