Mittwoch, 17. Juli 2019 ∙Nr. 163∙240.Jg. AZ 8021Zürich∙Fr. 4.90 ∙€4.
Gewalt gegenPolizisten: Für manche gehört der Hass gegen die Sicherheitskräfte zum guten Ton Seite 10
Zittersieg für von der Leyen
Die deutsche Verteidigungsmini ster in ist neue EU-Kommiss ions-Präsidentin
NIKLAUS NUSPLIGER,STRASSBURG
Ursula von der Leyen durchlebte am
Dienstagein Wechselbad der Gefühle
- und ging am Ende doch als Siegerin
vom Platz. Mit 383 Stimmen wurde sie
am Abend zurNachfolgerinvon Jean-
ClaudeJuncker an der Spitze der EU-
Kommissiongewählt,womitsiedieerfor-
derlicheabsoluteMehrheitvon374Stim-
men nur knapp übertraf.Als EU-Parla-
ments-Präsident David-Maria Sassoli
das Resultatver las, gab es im Plenarsaal
nur verhaltenenApplaus.Von der Leyen
zeigtesichangesichtsdesknappenResul-
tatssichtlicherleichtert.Späterversprach
sie an einer Medienkonferenz, sie werde
als Kommissionspräsidentin fürein star-
kes und geeintes Europa kämpfen.
Zugeständnisse nach links
Dabei hatte von der Leyen zunächst ein
besseresResultat erhofft. Als sie kurz
nach 9 Uhr vor die Abgeordneten trat,
hielt die CDU-Politikerin eine solide
Rede, die an ihrer proeuropäischen
Grundhaltungkeinerlei Zweifel aufkom-
men liess. Mit einem klaren Bekenntnis
zur Rechtsstaatlichkeit machte sie auch
deutlich, dass sie gegenüber denRechts-
nationalenkeineZugeständnissemachen
will, obwohl sie womöglich auf Stimmen
aus dem EU-skeptischenLager angewie-
sen sein würde, um dieWahl zu schaffen.
Europa habe die dunkelsten Stunden sei-
ner Geschichte erlebt, als die Demokra-
tie und dieRechtsstaatlichkeit missach-
tet worden seien,sagte sie. Darum könne
es bei derVerteidigung der europäischen
Werte keine Kompromisse geben.
Gleichzeitigmachtesiegegenüberden
Sozialdemokraten, den Liberalen, aber
auch den Grünen derart vieleAvancen,
dassmehralsdeutlichwurde,dasssichdie
CDU-Politikerin ihre Mehrheit im pro-
europäischen Zentrum suchen will. In
ihrerRede sprach sie sich für eineVer-
schärfungder Klimaziele und eineVer-
ringerung des CO 2 -Ausstosses bis 2030
um 50 bis 55Prozent aus und gelobte, in
den ersten hundertTagen im Amt einen
«green new deal» vorzulegen. Darüber
hinaus forderte sie eine Digitalsteuer für
Internet-Konzerne, Garantien für Min-
destlöhne oder eineArbeitslosen-Rück-
versicherung. Hatten dieRechtsnationa-
len aus Ungarn, Italien oderPolen die
NominierungjüngstnochalsErfolggefei-
ert , erkannte nun der Brite NigelFarage
in von der LeyensRede eine «neueAus-
prägung desKommunismus».
Die Zugeständnisse hätten dazu die-
nen sollen,nicht nur die liberale Fraktion
Renew Europe, sondern auch das Gros
der Sozialdemokraten auf von der Ley-
ens Seite zu ziehen. Zusammen mit ihrer
eigenen christlichdemokratischen Euro-
päischenVolkspartei (EVP) wäre sie so
auf gut 440 Stimmen gekommen. Die
Sozialdemokraten kündigten an, mehr-
heitlich für die deutscheVerteidigungs-
ministerin zu stimmen – trotz der Blo-
ckadehaltung der deutschen SPD. Zu-
dem gab es positive Signale der natio-
nalkonservativen polnischen PiS-Partei,
und die14 fraktionslosen Abgeordne-
ten der italienischenFünf-Sterne-Bewe-
gung wollen der Deutschen ihre Stimme
gegeben haben. Mit ihrer Ankündi-
gung, die Brexit-Frist zumAustritt beim
Vorliegen guter Gründe zu verlängern,
dürfte sie sich auch einige Stimmen bri-
tischerRemainer geangelt haben.
Da es am Ende nur für einenZitter-
sieg reichte, müssen etliche ihre Zusa-
gen nicht eingehalten haben.Wer von
der Leyen die Gefolgschaft verweigerte,
wird man wohlnie g enau wissen, da die
Wahl geheim erfolgte und im EU-Parla-
mentkeinrigiderFraktionszwangdurch-
setzbar ist. Offenbar aber hat von der
Leyen mit ihrem Schmusekurs gegen-
über links auch aus Sicht von Exponen-
tenihrereigenenFraktionzuvielTerrain
preisgegeben. Im Gegenzug belohnten
die Grünen und Sozialdemokraten von
der Leyen nicht oder nur bedingt, weil
sie ihre Zugeständnisse zu Klimaschutz,
Sozialpolitik undRechtsstaatlichkeit als
zu wolkig empfanden. Zudem galt von
der Leyen als Kandidatin derRegie-
rungschefs, die sich über das vom Euro-
paparlament initiierte Spitzenkandida-
ten-System hinweggesetzt hatten.
Nächste Kraftprobe steht bevor
AlsersteFrauanderSpitzederEU-Kom-
missionsprachsichvonderLeyenfüreine
paritätisch ausFrauen und Männern zu-
sammengesetzteKommissionaus.Siewill
die Regierungen der 28 EU-Staaten bit-
ten, ihr eine entsprechendeAuswahl vor-
zuschlagen.Nach der Sommerpause wird
sie ihreKommission zusammenstellen,
dieihrAmtam1. Novemberantretensoll.
ZuvorabermussdasParlamentdieneuen
Kommissare en bloc wählen, was sich als
nächsteKraftprobeerweisenkönnte.Von
der Leyen zeigte sich zwar zuversichtlich,
sowohl mit den Mitgliedstaaten wie auch
mitdemParlamentzueinergutenKoope-
ration zu finden. Doch ihreWahl hat ge-
zeigt,dasssieüberkeinstarkesparlamen-
tarischesMandatverfügtundsichimfrag-
mentierten Parlament nicht auf eine sta-
bile Mehrheit verlassen kann.
«Ich fühle michsogeehrt und bin überwältigt» –die neueKommissionspräsident in zeigt sic hnachder Wahl gerührt.J.-F. BADIAS / AP PHOTO
Flughafen Zürich spürt
keinen Greta-Effekt
Steigende Passagierzahlen im Juni trotz Klimaprotesten
NIKOLAI THELITZ
Fast sah es nach einerTrendwende aus:
Im April und Mai diesesJahres lag die
Zahl der Lokalpassagiere am Flug-
hafen Zürich leicht unter denVorjah-
reswerten,der«Tages-Anzeiger» schrieb
bereits über einenTrend zu «Greta statt
Kreta». Doch die neusten Zahlen des
Flughafens zeigen: Einen Sinneswandel
der Schweizer gibt es vorerst nicht. Im
Juni gab es einenPassagierzuwachs
von 4,3 Prozent, total waren es letzten
Monat 2,05 Millionen Lokalpassagiere –
das sind alle, derenReise in Zürich be-
ginnt oderendet.
Im ersten Halbjahr 2019 verzeichnete
der Flughafen Zürich ein Plus von 1,
Prozent gegenüber demVorjahr bei den
Lokalpassagieren. Die Zahl der Um-
steigepassagiere stieg im ersten Halb-
jahr mit 5,7 Prozentgar noch stärker, die
Zahl der Flugbewegungen vonPassa-
giermaschinen stieg um 2,2 Prozent.Ins-
gesamt zählte der Flughafen bis Ende
Juni fast15 MillionenPassagiere.
Der FlughafenBasel-Mülhausen ver-
zeichnet derzeit ein Plus von 10 Prozent
bei denPassagierzahlengegenüberdem
Vorjahr, bis Ende Mai waren es knapp
3,4 Millionen Fluggäste.Auch am Flug-
hafen Genf gab es diesesJahr mit rund
9,1 MillionenPassagieren im ersten
Halbjahr einen Zuwachs von 1,3Pro-
zent gegenüber derVorjahresperiode.
Flugscham greift noch nicht
Diese Zahlen stehen imWiderspruch
zur gegenwärtigenKlimadebatte:Von
Schwedenaus greift in ganz Europa
die Flugscham um sich. Selbst die Flug-
gesellschaft KLM fordert ihreKunden
zum verantwortungsbewussten Flie-
gen auf und fragt in einemWerbeclip:
«Könnten Sie nicht stattdessen mit dem
Zug fahren?»Am Samstag demonstrier-
ten ausserdem rund 70 Klimaaktivisten
direkt am Flughafen Zürich gegen den
Flugverkehr und seine negativenAus-
wirkungen aufs Klima. Sie forderten die
Fluggäste auf, nächstesJahr doch aufs
Fliegen zu verzichten.
Dass die Klimaaktivisten gerade jetzt
den Flughafen insVisier nehmen,dürfte
kein Zufall sein:Die Sommerferien sind
üblicherweise die Zeit mit den höchs-
ten Passagierzahlen – Publikum für die
Protestaktion ist garantiert. Der Spit-
zenwert fiel letztesJahr mit fast 11 5000
Passagieren auf den 29.Juli, auch dieses
Jahr erwartet der Flughafen EndeJuli
den verkehrsreichstenTag desJahres.
Manrechnet mit 120000 Passagieren.
Auch künftigrechnet der Flughafen
Zürich mit einemWachstum, dieses
soll 2,5 bis 3 Prozent betragen – über
die nächsten 20Jahre. Ob die derzei-
tige Klimadebatte eine bremsende
Wirkung habe, werde sich zeigen,sagt
Sonja Zöchling, Sprecherin des Flug-
hafens Zürich. «Im Moment ist es noch
zu früh, einen Zusammenhang zwischen
den Klimadiskussionen und denPassa-
gierzahlen herzustellen.»
Kompensationen stärkergefragt
Die Auswirkungen der Klimadebatte
werden aber bei der Stiftung Mycli-
mate deutlich, auf derenWebsite Nut-
zer den CO 2 -Ausstoss ihrer Flugreisen
kompensierenkönnen. Laut dem Spre-
cher KaiLandwehr wurden über den
Kompensationsrechner diesesJahr bis
jetzt fünfmal so vieleTonnen CO 2 kom-
pensiert wie im gleichenVorjahreszeit-
raum. «Wir spüren einrasantsteigendes
Interesse schon seit Mitte vergangenen
Jahres», sagt Landwehr. Der Trend habe
sich seit März nocheinm al deutlichver-
schärft, was er sich aber auch mit dem
steigenden Buchungsvolumen erkläre.
Trotzdem sei es noch derAusnahme-
fall, dassPassagiere ihre Flugemissio-
nen kompensierten. «Selbst mit diesem
rasantenWachstum gehen wir davon
aus, dass die Zahl derkompensieren-
den Passagiere momentan immer noch
im unteren einstelligen Prozentbereich
liegt», sagt Landwehr.
Der Umweltverband WWF schreibt
zudem warnend: Wirklich umwelt-
freundlich sei nur, gar nicht in ein Flug-
zeug zu steigen.Kompensationenkönn-
ten zwar bei nicht vermeidbaren Flü-
gen sinnvoll sein, doch es brauche ins-
gesamt eineReduktion der Emissionen.
Der deutscheKompensationsanbieter
Atmosfair warnt in seinem Leitfaden
für eine sinnvolleKompensation zu-
dem vor einem «Rebound-Effekt»: Es
bestehe die Gefahr, dass Passagiere auf-
grund einerKompensationszahlung un-
gen ierter ins Flugzeug stiegen und am
Ende noch mehr flögen.
QUELLE: MYCLIMATE NZZ Visuals/nth., cke.
Schon jetzthaben die Schweizer mehrkompensiert als in denVorjahren
Von Privatpersonen auf myclimate.ch kompensierteTonnen CO 2 imFlugverkehr
0
5000
10000
15000
20000
25000
30000
35000
2014 15 16 17 18 19*
*Kompensationen 2019 bis 14. Juli berücksichtigt, bei denVorjah ren jeweils das ganze Jahr.
Wahl EU-Kommission
Porträt:Ursula von der Leyen ist eine
glühende Europäerin Seite 3
Nachfolge:CDU-Chefin wirddeutsche
Verteidigungsministerin Seite 3
Kommentar:Als Präsidentin muss sie
ihrenPolitikstil ändern Seite 9
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