36 SPORT Mittwoch, 17. Juli 2019
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Der gekränkte Trainer
Marcel Koller er lebte in Basel mit einer Pseudoentlassung die schwierigste Zeit der Karriere – ist vo r der Saison wi rklich al les vergeben?
FLURIN CLALÜNA,BASEL
In solchen Momentenkönnte man als
Tr ainer zerbrechen. Aber MarcelKoller,
58, sagt: «Ich lasse nicht zu, dass mich
solche Geschichten kaputtmachen.» Er
habe versucht, sie nicht zu nahe an sich
heranzulassen. Esist eineungewöhn-
licheGeschichte ausBasel, eine Ge-
schichte, wie sie noch kaum ein Schwei-
zerFussballtrainer erlebt hat. Es geht
darin um eine Pseudoentlassung,um
Loyalität und Lügen, umVerratund
Vertrauen; es geht umWerte, dieKoller
wichtig sind. EinFreund von ihm sagt:
«Weil er sichkorrekt verhält,schautje-
mand da oben zumRechten, damit es
gutkommt mit ihm.»Dasklingt wie in
der Kirche. Dabei muss man gar nicht
so weit gehen. Denn eines haltenKoller
die meisten Beobachter zugute: dass er
unverschuldet in eine unmögliche Situa-
tiongeraten ist.
Nicht eitel genug
Erst wenigeWochen ist es her,als
öffentlich wurde,dassKollerbeim FC
Basel trotz gültigemVertragkeine Zu-
kunft mehr haben soll.Wie und mit wel-
chenWorten man ihm das mitgeteilt hat,
ist im Detail nicht bekannt. Es lag noch
keine offizielle,schriftlicheKündigung
vor.Aber die Botschaft verstander:Kol-
lerräumte seinen Spind.Jemand, der in
den Krisenwochen nahe dabei war, sagt:
«Es hing an einem dünnenFaden.»Viel-
leicht kann man sich im übertragenen
Sinn darauf verständigen: Es war ein
aufgesetztes Entlassungsschreiben, das
dann doch nicht abgeschickt wurde.
Erst ganz am Ende schlug sich der
Präsident Bernhard Burgener aufKol-
lers Seite und trat Marco Streller als
Sportchef zurück.Warum das alles so
gekommen ist, ist schwierig zu sagen.
Aus Kollers Umfeld heisst es, Burge-
ner habe erkannt, dass es kaum zu be-
gründen wäre,einen seriös arbeiten-
denTr ainer zu entlassen, der aus dem
FCB immerhin wieder eine sehr stabile
Mannschaft gemacht hat.Vielleicht hat
das tatsächlich denAusschlag gegeben.
Jedenfalls kam der von Streller por-
tierte AarauerTr ainerPatrickRahmen
nicht in den St.-Jakob-Park, undKol-
ler ist immer noch da. Seit Strellerzu-
rückgetreten ist, habensicher undKol-
ler nicht mehr gesprochen. Der erfah-
reneTr ainer und der junge Sportchef: Es
war von Anfang an eineFehlkonstruk-
tion, man spürte es vom ersten Moment
an, als sie gemeinsam auftraten. Zer-
brochen ist in dieser Beziehung in den
letztenWochen nichts, sie war nie be-
sonders gut, und jetzt gibt es sie einfach
nicht mehr.
Aussergewöhnlich gewöhnlich
Wie muss man als Mensch sein, um über
all das hinwegzusehen, was in den letz-
tenWochen geschah? Über denVer-
trauensbruch und darüber, so lange im
Ungewissen gelassen worden zu sein,
was man mit einem vorhat?Vielleicht
muss man genau so sein wieKoller,um
so etwas auszuhalten. Er sitzt an die-
sem Nachmittag in einer Loge im Sta-
dion inBasel und wird gefragt, ob er
sich gekränkt oder desavouiert gefühlt
habe.Ersagt: «Gekränkt?Ja,vielleicht.
Aber desavouiert?Das ist ein zu gros-
sesWort.Dafür bin ich zu normal und
nicht eitel genug.»Koller ist in diesem
Geschäft aussergewöhnlichgewöhnlich,
sein Elternhaus prägt ihn bis heute, der
Vater Gärtner, die Mutter Schneiderin.
EinTr ainerkollegeKollers sagt: «Nicht
jederin dieser Situation hättesogehan-
delt wie er. Er hat sich nicht provozieren
lassen,er bliebruhig und hieltan seinen
Prinzipien fest.Wenn das altmodisch ist,
dann ist es gut, altmodisch zu sein. Und
es hat ihm bestimmt geholfen, dass er
heutzutage nicht mehr so dünnhäutig ist
wie früher.» Der jungeKollerhätte sich
mehr gewehrt, der ältereKoller zog sich
mitteninall dieser Ungewissheitin die
Bündner Berge zurück und liess seine
Vertrauensleute für ihn lobbyieren.
Koller ist jemand, der in seinen 15
Jahren in Deutschland und Österreich
schonsovieles erlebt und weggesteckt
hat, eine zweijährige Arbeitslosigkeit
zum Beispiel; oderKölnerFans, die sein
Auto mit Stahlwolle zerkratzten; Bochu-
mer Zuschauer, dieKarton-Masken mit
seinem Gesicht darauf verbrannten; den
früheren österreichischen Nationalspie-
le r undFernsehexperten Herbert Pro-
haska, derKoller kritisierte, ohne ihn
überhaupt zukennen. Aber diese letz-
ten Monate undWochen inBasel waren
diekompliziertesten inKollersTrainer-
leben. 22Jahre dauert dieses schon.
VieleWochen gab eskein Bekennt-
nis zu ihm, auch nach dem Cup-Sieg im
Mai nicht. Dabei hatKoller mit seiner
Mannschaft seit Mitte Dezember bis
heute inklusive allerTestspiele bloss
zweiPartien verloren, die letzte am ver-
gangenenWochenende gegen Stuttgart.
Im offiziellen Klubheft «Rotblau» steht
dennoch: «Nach dieser Saison und an-
gesichts derAuslegeordnung war es
nicht nur legitim, sondern die Pflicht
der Klubleitung, in alle Überlegungen
auch dieTr ainerfrage einzubeziehen.»
AlsKoller gefragt wird, ob er diese Sicht
nachvollziehenkönne,zögert er zuerst.
Dann sagt er: «Ich bin Angestellter des
Vereins.» Und schliesslich: «Ja,es ist
legitim. Als Klub muss man alles hinter-
fragen.»Vielleicht hätte es einfach ein
bisschen schneller gehenkönnen.
DasBeispiel Christian Gross
Vor knapp einemJahr wurdeKoller ver-
pflichtet. Aber wirklich zu ihm gestan-
den ist man erst jetzt richtig, im aller-
letzten Moment.Das Kennenlernen hat
lange gedauert. Der FCB engagierte mit
MarcelKoller einen bekannten Namen,
wusste aber offenbar nicht genau, was
da für einMenschkommt. UndKol-
ler seinerseits war all dieJahre nicht
in der Schweiz, als aus dem FCBasel
der mächtigste Klub desLandes wurde.
Er sagt: «Ich musste auch erst lernen,
dass es inBasel nicht genügt, hinter YB
Zweiter zu werden.»
Basel hat sich nur langsam anKol-
ler gewöhnt, und umgekehrt ist es wohl
auch so. Das ist gar nicht so selten bei
Fussballern oderTr ainern, die nach ei-
nigenJahren aus demAusland zurück-
kehren.Aus der Distanz wirken sie oft
viel grösser.Aber wenn sie erst einmal
zurück sind,schrumpfen sie oft wie-
der auf Normalgrösse. Christian Gross
ist es zum Beispiel so ergangen, als er
von Stuttgart zu denYoung Boys ging
und dort scheiterte.Es gibt vieleParalle-
len zwischen Gross undKoller, die Zeit
bei GC, die ersteTr ainerstelle inWil.
UndKoller muss nun hoffen, dass der
Karriere-Herbst nicht auch gleich ver-
läuft und seineRückkehr in die Schweiz
glücklicher wird als jene von Gross. Die-
ser hatte sich nach YB entschieden, nie
mehr alsTr ainer in der Schweiz zu arbei-
ten. Denn in der Schweiz kann Gross in
diesemJob fast nur verlieren.
Für Koller gilt das in gewisserWeise
auch. Er war mit St. Gallen und den
Grasshoppers schon Schweizer Meis-
ter undkönnte im Erfolgsfall einfach
bestätigen, was von ihm erwartet wird.
Anders als Gross hat er den Höhepunkt
seinerTr ainerkarriere imAusland er-
lebt, als Nationalcoach in Österreich,
wo er in sechsJahren zeitweise fast ver-
ehrt wurde wie NikiLauda.Damals, als
er auch hätte Schweizer Nationaltrai-
ner werdenkönnen,standen ihm prak-
tisch dieWelt und mehrere ausländische
Klubs offen.Koller war lustig und auf-
geschlossen wie nie, er ist in Österreichs
Hauptstadt gewissermassen «verwie-
nert» worden. SeinAnsehen im euro-
päischenFussball war nie grösser.
Koller trug ein Béret, als sich seine
Mannschaft für die EM inFrankreich
2016 qualifizierte, biss in eineBaguette
und tanztePolonaise.Es war ein ganz
anderer MarcelKoller, als man ihn in
der Schweiz gekannt hatte, viel weniger
verkrampft.Koller war auf dem Zenit,
persönlich und sportlich,man lobte
seine Menschlichkeit und dass er den
österreichischenFussball modernisiert
und aus der Steinzeit geführt habe.
Aber in den letztenWochen inBasel
konnteman nun eine ArtRückver-
wandlung miterleben:Koller wurde
wieder zurückhaltender.Das war vor
allem denUmständen geschuldet, weil
er sich schützen musste. Man sieht es
ihm an, wenn man ihmnicht zu nahe
kommen soll. Kaum war er inBasel,
verkehrte sich vieles, wofür er in Öster-
reich stand, ins Gegenteil. SeinFussball?
Wenig unterhaltsam. Sein Umgang mit
den Spielern? Schwierig. Diekompli-
zierte Beziehung zwischen Mannschaft
undTr ainer führte Ende letztenJahres
zum Protestmarsch von zehn Spielern
ins Büro des Präsidenten Burgener.
Quasi zum Gegenbeweis und zur
Demonstration, dass imVerhältnis mit
den Spielern alles gut ist, posteteKol-
lers Berater DinoLamberti ein Bild des
Tr ainers mit dem FCB-Spieler Aldo Ka-
lulu mit der Unterschrift: «Die Spieler
lieben ihrenTr ainer.»Koller sagt: «Es
kann ja sein, dass mich nicht alle Spie-
ler gern haben. Ich hatte auch nicht alle
Tr ainer gern. Aber es kam inBasel noch
nie ein Spieler zu mir und sagte, er möge
mich nicht. Es geht ja auch nicht ums
Kuscheln. Es gehtumeinenJobund um
Leistung. Das vergisst man manchmal.»
Und was auch immer über fehlende
Harmonie im Innenleben des FCBasel
gesagt wird: Die Mannschaft hat in der
Rückrunde funktioniert. Und inzwi-
schen weiss sie auch:Aufbegehren nützt
wenig. Koller ist und bleibt ihr Chef.
Seit StrellersRücktritt als Sportchef ist
dies unbestrittener denn je. Streller sitzt
zwarnoch imVerwaltungsrat. Aberden
Machtkampf mitKoller hat er verloren.
BurgenersVertrauen
Und damit ist jetzt alles geklärt, verges-
sen und vorbei?Koller sagt, er sei nicht
nachtragend, und er glaube auch nicht,
dass er aufgrund dieserVorkommnisse
angeschlagen in die neue Saison gehe.
«Das Einzige, das angeschlagen ist, ist
mein Knie», sagt er und lacht.Wenn er in
seinem Sportlerleben etwas gelernt hat,
dann ist es, zäh zu sein. DreiJahre war
er während der Spielerkarriere verletzt,
acht Operationen musste er überstehen,
aufgegeben hat er nie, und es wäreihm
auch jetzt nicht in den Sinn gekommen.
Sein Berater DinoLamberti sagt: «Ge-
schwächt?Weshalb sollte MarcelKol-
ler geschwächtsein?Er ist ein erfahre-
nerFeldherr, der gut einschätzen kann,
was wesentlich ist und was nicht.» Und
wesentlich ist: Er geniesst dasVertrauen
des Präsidenten Burgener. Ganz selbst-
verständlich ist das nicht.Jünger und
baslerischer sollte die Mannschaft des
FCB unter Burgener werden. Am An-
fang galt das auch für dieFührung mit
dem jungenTr ainerRaphaelWicky und
Streller. Inzwischen ist die sportliche
Leitung grauhaarig geworden, mitKol-
ler, seiteiniger Zeit Grossvater, und dem
neuen SportchefRuedi Zbinden, 60.
DerBasler CEORoland Heri sagt
über die letztenWochen: «Für uns ist
alles ausgeräumt. Es gibtkeine offenen
Fragen.Wirwerden einen starken Mar-
celKoller erleben.»Koller wird es gern
hören, dass wieder einmal jemand etwas
Nettes über ihn sagt.
DerFCB-CoachMarcelKoller sagt: «Das Einzige,was angeschlagen ist, ist mein Knie.» NATHALIETAIANA / NZZ
SuperLeague,1. Runde
Freitag, 20 Uhr: Sitten -Basel
Samstag,19 Uhr: St. Gallen - Luzern
Samstag,19 Uhr:Thun - Xamax
Sonntag,16 Uhr: YB - Servette
Sonntag,16 Uhr: Zürich - Lugano
Wie muss man sein,
um über all das hinweg
zusehen?Vielleicht
muss man genau so sein
wie Marcel Koller.
Etwas halten Koller
die meisten zugute:
dass er unverschuldet
in eine unmögliche
Situation geraten ist.