Mittwoch, 17. Juli 2019 MEINUNG &DEBATTE
EU-Kommissions-Präsidium
Ursula von der Leyen muss ihren Politikstil ändern
Die Revolte wurde abgesagt. Ganz knapp ist
Ursula von der Leyen zur neuenKommissions-
präsidentin der Europäischen Union gewählt wor-
den. Nach 52Jahren ist derPosten zum zweiten
Mal deutsch besetzt – und erstmals mit einerFrau.
Von der Leyen hatte wenig Zeit, um sich auf die
Wahl vorzubereiten. IhreAuftritte vor denFrak-
tionen überzeugten kaum, und auch in der ent-
scheidendenWahlrede am Dienstag glänzte sie
ehe r rhetorisch und dreisprachig als inhaltlich.
Wer wollte, konnte eine leichte Akzentverschie-
bung nach links feststellen, etwa bei denThemen
Klimaschutz und Mindestlöhne.
Die Rechnung ging auf. Die Christlichdemo-
kratin erhielt in der geheimenWahl auch Stim-
men von links. Dass die Kandidatin der Staats-
und Regierungschefs (EuropäischerRat) gewählt
und die NachfolgeJunckers im ersten Anlauf ge-
regelt wurde, ist grundsätzlich positiv.Allerdings
wäre eine Zurückweisungkeine Katastrophe ge-
wesen. Die Kandidatensuche wäre einfach in die
nächsteRunde ge gangen. Bedenklicher ist, dass
der Kampf um von der Leyen am falschen Objekt
gefü hrt wurde:den Spitzenkandidaten undder an-
geblichen Missachtung desParlaments. Dass der
EuropäischeRat die Spitzenkandidaten derPar-
teienbündnissenichtberücksichtigte, ist nichtAus-
druck eines Demokratiedefizits der EU, wie die
Rebellen imParlament glauben.Das Parlament
ist nicht dieVertretung eines europäischen Staats-
volkes. Es gibt keine transnationale Öffentlichkeit,
welche die Spitzenkandidaten in allenLändern
bekannt gemacht und so die Stimmabgabe be-
einflusst hätte. Die EU ist einVerbund von Staa-
ten,der im Zusammenspiel vonRat,Kommission
und Parlament funktioniert. DieBalance in die-
sem Dreieck kann nicht ad hoc geändert werden,
auch nicht vomParlament.Es braucht dafür eine
Revisionder EuropäischenVerträge.
Es hätte durchaus auch gute Gründe gegeben,
von der Leyen nicht zu wählen.Ihr Leistungsaus-
weis als deutscheVerteidigungsministerin spricht
gegen sie. Die Bundeswehr befindet sichin einem
lam entablen Zustand, und dieRemedur,die von
der Leyen mithilfe einer Armee von Beratern
verschrieb, wuchs sich zum separaten Skandal
aus. Sich noch vor der Wahl vom Amt derVer-
teidigungsministerin zurückzuziehen, ist ihr nicht
schwergefallen.Auch in der Bundeswehr sind
viele erleichtert.
Das Erfolgsrezept, mit dem dieKommissions-
präsidentin politische Karriere machte,prädesti-
niert sie eigentlich auch nicht für den neuenPos-
ten. Ihre BiografenPeter Dausend undElisa-
beth Niejahr beschreiben es so: «Ein Thema su-
chen, dasAufmerksamkeit garantiert, nicht lange
nachfragen, was diePartei davon hält, die gesell-
schaftlicheMehrheitmitgrossenWortenmobilisie-
ren und diePolitik zwingen,sich hinter ihr zu ver-
sammeln.» In Brüssel funktioniertPolitik anders.
Sie gleicht dort dem Bohren harter Bretter, dem
mühs eligen Beschaffen von Mehrheiten und der
Pflege verzweigter Netzwerke. Schliesslich sprach
auch ihre Nationalität nicht für dien Kandida-
tin. Deutschland ist mit seinen 80Millionen Ein-
wohnern in der 500-Millionen-Union das heraus-
ragende Schwergewicht.Das sollte personalpoli-
tisch nichtunbedingt unterstrichen werden.
Allerdingskommen genau an diesem Punkt
die Stärken derKommissionspräsidentin ins Spiel.
Sie ist eine in derWolle gefärbte Europäerin und
wurde wohlwollend auch schon als «postnationale
Deutsche» bezeichnet.Davon zeugen ihre welt-
läufige Biografie, aber auch ihre kulturelle und
gesellschaftliche Gewandtheit, die sie in verschie-
densten Umgebungen mit unterschiedlichen Men-
schen einbringen kann. Sie ist ein grossesTalent,
wenn es darum geht,Politik zu erklären, medial
darzustellen und begreifbar zu machen.Davon
kann Brüssel zweifellos profitieren. Auch wenn
manchen ihr wie «ins Gesicht gemeisseltes Strah-
len » auf die Nerven geht – vielleicht hellt es die
ve rblassten europäischen Sterne etwas auf.
Es hätte auch gute Gründe
gegeben, von der Leyen
nicht zu wählen.
Ihr Leistungsausweis als
Ve rteidigungsministerin
spricht gegen sie.
NeueVerfassungder evangelisch-reformiertenKirche
Der einzelne Christenmensch ging vergessen
Gastkommentar
von ULRICH KNELLWOLF
Ein estnischer Historiker erzählte mir die Chris-
tentumsgeschichte seinesVolkes so: «MeineVor-
fahren waren mehr oder weniger glückliche Hei-
den und freieBauern. Da kamen einesTages die
deutschen Ritter und sagten vom hohenRoss
herab: ‹Entweder ihr werdet Christen, oder wir
schlagen euch denKopf ab.› DieBauern wollten
leben;also waren sie ab sofort katholisch und den
Rittern zinspflichtig. Dann wurde im16.Jahrhun-
dert von irgendwelchen hohen Herren irgendwo
in der Ferne beschlossen,Estland sei fortan luthe-
risch,so dass dieBauern einesAbends als Katho-
liken ins Bett gingen und am andern Morgen als
Protestanten erwachten.»
So ähnlichkommt m an sich gegenwärtigals
evangelisch-reformierter Christ in der Schweiz
vor. Irgendwelche Amtsträger fanden,es brauche
eine neueVerfassung für die SchweizerRefor-
mierten, der Zusammenschluss der kantonalen
LandeskirchenineinemVereinnamensSchweize-
risch er Evangelischer Kirchenbund genüge nicht
mehr.Ob die Christinnen und Christen an der
ki rchlichenBasis das auch finden, interessierte
nicht, danach gefragt wurden sie nicht.Und also
kam der Entwurf einer neuenVerfassung in die
Abgeordnetenversammlung des Kirchenbundes,
wurde dort zerzaust,musste überarbeitet werden,
und am 18.Dezember 2018 nahm dieAbgeordne-
tenversammlung die veränderte«Verfassungder
Evangelisch-reformiertenKircheSchweiz»an.Am
- Ja nuar 2020 soll sie in Kraft treten.
Zentralisierungund Hierarchisierung
DieneueVerfassungbringteinebisherimschweize-
rischenProtestantismusunbekanntestarkeZentra-
lisierung und Hierarchisierung. Denn sie sieht vor,
dassdieOrganederEKSkirchenleitendeFunktion
haben und dass künftigSynode, Rat und Präsident
der EKS die schweizerischenReformiertenreprä-
sentieren, insbesondere gegenüber dem Bundes-
staatundinternationalenkirchlichenGremien.Die
Verfassung beschreibt dieseFunktionen als dreifa-
che Leitung (§17), nämlich synodal,kollegial und
personal.Das letzte Stichwort kann nur heissen,
dass dem Präsidium desRates der EKS dieReprä-
sentanz der SchweizerReformierten zukommt.
Man scheint sich dabei am früheren Amt des
Antistes zu orientieren und dieses auf den gesam-
tenschweizerischenProtestantismuszuübertragen.
Es gab dieses Amt seit dem16.und bis ins frühe
20 .Jahrhundert in denreformierten Kirchen von
Zürich,Basel und Schaffhausen.Ein weiteresVor-
bild wird das Bischofsamt sein, wie es viele deut-
sche evangelische Kirchenkennen. Dabei bleibt
offensichtlichdieProblematikdieserbeidenTradi-
tionen unbeachtet. DieAntistites der drei genann-
ten Kirchen waren faktisch nichts anderes als das
RelaiszwischenRätenundKirche,unddasbedeu-
tete weitgehend:die Befehlsempfängerder Regie-
rung. An denRäten vorbeiging in den Kirchen
nichts. DasAmt des Antistes war geradezu Inbe-
griffdesStaatskirchentums.UnddieBischöfeeini-
ger deutscher evangelischer Kirchen «verdanken»
ihre Stellung der Einführung des «Führerprinzips»
in den deutschen Kirchen der Nazizeit als Ersatz
des am Ende des ErstenWeltkriegs untergegange-
nen «Summepiskopats» derFürsten. Beides sind
nicht eben glückliche«Ankn üpfungspunkte».
DieVerfassungredetvondendreiEbenenKirch-
gemeinde,Mitgliedkirche,Kirchengemeinschaft,in
denendieEKSlebe(§4).Vergessenistindergan-
zen Verfassung der einzelneChristenmensch, der
durch dieTaufe immerhin ein biblisch viel gewich-
tigeresAmthatalsalleKirchenleitungen.DieFolge
desVergessensist,dassdereinzelneChristenmensch
nach dieserVerfassung rundumrepräsentiert wird
undselbstgarnichtinErscheinungtritt.DasinKrei-
sen derreformierten Kirche so oft genannte allge-
meinePriestertumverlangtaberdieAnerkennung
der dem einzelnen Christenmenschen in derTaufe
verliehenen, durch niemand anderen zurepräsen-
tierendenWürde und Aufgabe. Sie hat kirchliche
ÖffentlichkeitkonstituierendeFunktion.
DieVerfassungschweigtdazu,waszeigt,dasssie
an einem theologisch defizientenVerständnis von
Öffentlichkeitleidet.DadurchwerdenpositiveEle-
mentederEntwicklung,dieseinerzeitzurAbschaf-
fung desAntistesamtesführte,rückgängiggemacht.
Für eine ernsthafteRede von evangelisch-refor-
mierterKircheinderGegenwartistdasunannehm-
bar. Insofern stellt dieVerabschiedung derVerfas-
sung der EKS der innerkirchlichen Demokratie
ein miserables Zeugnis aus. Das ist nicht derFeh-
ler des «Kirchenvolks», sondern der seinerReprä-
sentanten,dienichttun,wasihresAmteswäre.Ein
Element der abnehmendenAkzeptanz der Kirche
ist das fehlende Ernstnehmen der Mündigkeit des
einzelnenChristenmenschendurchStrukturen,lei-
tende Leute undTheologie.
Monarchische Struktur
Liest man die nun verabschiedeteVerfassung, be-
kommt man den Eindruck,stärksterAntrieb dazu
sei das Bedürfnis einiger «Kirchenleiter» gewesen,
dass dieschweizerischenreformiertenKirchenmit
einerStimmereden. Um das zu erreichen, gipfelt
die Verfassung in einer etwasrelativierten perso-
nalenKirchenleitung,verpasstdemschweizerischen
Protestantismus also eine gemässigt monarchische
Struktur. Diese ist dieFolge eines monarchischen
Verständnisses des Evangeliums, das voraussetzt,
derGlaubekönneeinfüralleMalundfürallegül-
tiginBegriffegefasstwerden.Dasistein Rückschritt
hinter theologische Erkenntnisse schon derRefor-
mationundinsbesonderederNeuzeit.Dieerzählen-
den Texte, die dasRückgrat der Bibel bilden, sind
nicht monarchisch auf den Begriff zu bringen; sie
sind mehrstimmig,wir können sagen:gemeindlich.
Die Bibel spielt aber eben in dieserVerfassung
keine Rolle, obwohl sie in der Präambel formel-
haft als Zeugnis der göttlichen Offenbarung be-
zeichnet wird.Dass das Schriftprinzip–re forma-
torisches Stichwort: sola scriptura – kirchenkriti-
sche Funktion hat, wird nirgends spürbar. Das
ist charakteristisch. Hierarchisches Denken hatte
immerAngstvor d er Bibel – und gab sieals Sorge
um die Bibel aus. Der römischePapst, Inbegriff
aller kirchlichen Hierarchie, hielt die Bibel jahr-
hundertelang unterVerschluss.Basisbewegungen
in der Kirche hingegen beriefen und berufen sich
auf die Bibel. So dieReformation, die Täufer der
Reformationszeit, soauch die südamerikanische
Befreiungstheologie – bezeichnenderweise alles
Bibellesebewegungen.
Die Angst der Hierarchen ist berechtigt. Die
Bibelistantimonarchischundantiaristokratisch;sie
ist b asisorientiert allein schon durch dieTatsache,
dass Geschichten dieBasis der Bibel sind.Die las-
sen sich nicht auf monarchische Begriffereduzie-
ren.KeinWunder,dassJesus,derGleichnisseerzäh-
ler, hierarchiekritisch war und das Opfer von Hier-
archen wurde.
HierarchisierungistdieVerschiebungderAuto-
ritätvonderSachezudemdieSacheverwaltenden
Amt.DasAmt erhebt denAnspruch, die Sache zu
repräsentieren.Dahinter steckt wiederum Angst,
nämlich die, die Sache sei selbst nicht präsent oder
habenichtgenugeigeneAutoritätundmüssedurch
die Autorität einer Institution gestützt werden. So
werden dieVerhältnisse verkehrt. Nicht mehr be-
kommt die KircheihreAutorität durch denInhalt
derBibel,wieesseinmüsste,sonderndieBibelbe-
kommt ihreAutorität durch das kirchliche Amt.
Die Tendenz zu dieserVerkehrung ist in derVer-
fassung auf Schritt undTritt zu spüren.
Fazit:DieseVerfassung ist nicht evangelisch-re-
formiert.Und:WirSchweizerReformiertensollten
unsnichtzuestnischenBauerndesMittelaltersma-
chen lassen.
Ulrich Knellwolfist Pfarrer und Schriftsteller.
Die neueVe rfassung bringt
eine bisher unbekannte
Hierarchisierung zum Aus-
druck. Hierarchisierung
bedeutet dieVe rschiebung
der Autorität von der Sache
zu dem die Sache verwalten-
den Amt.
Die Bibel ist
antimonarchisch und
antiaristokratisch;
sie ist basisorientiert allein
schon durch dieTatsache,
dass Geschichten
die Basis der Bibel sind.