Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


WISSEN 27


E


r schrieb: »Jeder Mann hat die Pflicht,
in seinem leben den Platz zu suchen,
von dem aus er seiner Generation am
besten dienen kann.« Da war er noch
nicht über den Atlantik gesegelt, hatte
noch keine unbekannten Flüsse durch-
quert und noch keine Gipfel bezwun-
gen, die niemals jemand zuvor bestiegen hatte.
Alexander von Humboldt wollte Großes tun und
anderen dienen. Er träumte von der Weite, und er
träumte von der Welt. Doch zunächst steckte er in Berlin
fest. Er wollte Abenteurer sein – und wurde Beamter. Er
sah sich in Südamerika – und wurde nach Franken
entsandt. Ein unstillbarer Durst nach Wissen und
Ruhm, ein Drängen brodelte in ihm, dass er beinahe
den Verstand verlor. So schilderte er es selbst.
Erst aber muss er warten, seine Mutter will, dass er in
den Staatsdienst eintritt. Als er 27 ist, stirbt sie. Zur Be-
erdigung der ungeliebten, kalten Frau erscheint er nicht,
doch ihr Erbe macht ihn reich. Sofort kehrt er dem preu-
ßischen Staatsdienst den Rücken und beginnt die Erfüllung
seines lebenstraums vorzubereiten. Es gibt kein Skript für
das, was er vorhat: Die nächsten Jahre verbringt er mit der
lektüre von Reiseberichten, lernt mit den modernsten
Messinstrumenten umzugehen und nimmt Kontakt zu
führenden Botanikern, Geologen und Physikern auf. Er
reist nach Paris, schließt Bekanntschaften und findet seinen
wichtigsten Reisegefährten, Aimé Bonpland. umschmei-
chelt den spanischen König, um in Südamerika forschen
zu dürfen. Dann endlich ist er bereit.
Für Humboldt stand nichts still. Nicht die Gesell-
schaft, nicht die eigenen Gedanken und schon gar nicht
die Natur. Man muss ihn sich als Getriebenen vorstellen,
der alles selbst sehen, fühlen, schmecken, fragen, messen,
jagen und in sich aufsaugen musste. Vor 250 Jahren
wurde er geboren, doch so lebendig und aktuell wie jetzt
war er lange nicht mehr. Der Bundespräsident reiste auf
Humboldts Spuren durch Südamerika, die Kanzlerin
zitierte ihn, der Außenminister nannte ihn ein Vorbild,
und gerade wird mitten in Berlin mit Getöse das

Humboldt Forum gebaut – ein Museum im Stadt-
schloss, auf dem gewaltige Erwartungen ruhen. Es rührt
an viele wunde Punkte der deutschen Geschichte: preu-
ßische Vergangenheit, DDR-Zeit und den heftigen
Streit darum, ob Deutschland sich seiner kolonialen
Vergangenheit angemessen stelle.
Alle Welt redet von Humboldt. Obwohl er schon seit
160 Jahren tot ist, passen seine Gedanken so exakt
in die Gegenwart, als hätte er gewusst, mit welchen
Problemen sich die Menschheit dereinst herum-
schlagen würde: Nationalismus, Naturzerstörung, Hybris –
eine Ahnung davon ist schon in seinen Schriften zu lesen.
Er sah selbst, wie Menschen ganze Täler entwässerten, um
eine Stadt aus dem Boden zu stampfen. Erforschte, wie der
Spiegel eines Sees sank, als Wälder gerodet wurden. Schrieb
an gegen die Überheblichkeit, mit der die westlichen
Eroberer den unterworfenen in den Kolonien begegneten.
Er taugte schon damals zum Schirmherrn für globale
Perspektiven, und er tut es bis heute. Er warb dafür, die
Welt – einerseits – genau zu studieren und sie zu vermessen,
um sie zu verstehen, andererseits aber auch empfänglich
zu bleiben für ihren Zauber, ihre Magie.
Humboldt war ein Output-Monster, allein das Werk
über seine Reise durch Südamerika bestand aus 29 Bänden.
Er mischte sich ein in die Geopolitik und in die Diplo-
matie, förderte die landschaftsmalerei, betrieb Feldstudien
in Zoologie, Chemie, Physik, Vulkanologie, Botanik und
Ozeanografie, trug wesentlich zur Ethnologie und zur Wirt-
schaftsgeografie bei. Er unterstützte die südamerikanische
unabhängigkeitsbewegung und war ein glühender An-
hänger der ideale der Französischen Revolution. Humboldt
war mutig – im Denken und im Handeln.
und die Menschen erkannten sein Genie: Am


  1. September 1869 feierten sie in Buenos Aires und
    Mexico City, in Moskau und Melbourne, in Alexandria
    und Adelaide seinen hundertsten Geburtstag – da war
    er schon seit zehn Jahren tot. in New York kamen
    25.000 Bewunderer im Central Park zusammen, um die
    Enthüllung der Bronzebüste jenes Mannes zu erleben,
    »dessen Ruhm keine Nation für sich beanspruchen


kann«, wie die New York
Times damals schrieb. Das
Rathaus war in Fahnen gehüllt, ganze
Häuser verschwanden hinter Plakaten mit
Humboldts Konterfei.
Dann verblasste der Ruhm des großen Entdeckers. in
Deutschland erinnerte man sich vor allem an seinen Bru-
der Wilhelm, den preußischen Reformer und Diplomaten.
Erst mit Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der
Welt von 2005, in dem Alexander von Humboldt als ver-
schrobener instrumenten-Nerd um den Globus turnt, der
durch manisches Messen dem Kern der Dinge näher zu
kommen hofft, kehrte er in die öffentliche Wahrnehmung
zurück – wenn auch auf wenig schmeichelhafte Weise.
Ganz anders der Blick der Historikerin Andrea Wulf.
ihr Buch Alexander von Humboldt und die Erfindung der
Natur prägt heute das image des Wissenschaftlers. Sie
sieht in Humboldt einen Vorreiter der umweltbewe-
gung, einen Wegbereiter der Ökologie, einen Propheten
des Klimawandels. Wulfs Humboldt ist Visionär und
Abenteurer. Wer sich mit Humboldt beschäftigt, kann
zwischen diesen beiden Sichtweisen wählen, zwischen
dem Bild vom Daten-Freak und dem vom Öko-Pionier,
oder den direkten Weg zu ihm suchen.
Am besten beginnt man in Berlin, und zwar am
Gendarmenmarkt. Da steht die Berlin-Brandenburgische
Akademie der Wissenschaften. Genau hier erhob sich
einst das Stadthaus der Familie Humboldt, und viel-
leicht wurde Alexander hier geboren. Die Akademie
versucht, das Werk Humboldts bis ins letzte Detail zu
erforschen und digital zu erschließen. An einem heißen
Sommertag sitzt Tobias Kraft in einem klimatisierten
Saal. in ein paar Stunden wird eine internationale
Humboldt-Konferenz eröffnet, mit Gästen aus Brasi-
lien, Südkorea, den uSA, Kuba; Kraft, leiter der Hum-
boldt-Arbeitsstelle, wird über Humboldts Mehrsprachig-
keit, seine Verbindungen nach Ägypten und seine
Sprachmacht diskutieren. Doch noch hat Kraft Zeit.
»Die Humboldt-Rezeption war schon immer mehr
Spiegel der Gegenwart als der Vergangenheit«, sagt er.

Generationen von Gelehrten hätten sich dem Forscher
mit ihren je eigenen Fragestellungen genähert. lange sei
Humboldt auf den Naturforscher reduziert worden.
Kraft sagt: »Mich interessiert er auch als literat.«
Als Humboldt Mitte des 19. Jahrhunderts starb, war
er ein Greis von beinahe 90. Damals lag die durch-
schnittliche lebenserwartung bei 35 Jahren. Alexander
hatte also viel Zeit, um zu publizieren. und das tat er
wie ein Berserker: Er korrespondierte mit Gelehrten,
Diplomaten, unternehmern und Herrschern auf dem
ganzen Globus. Er schrieb so viele Briefe, dass ihm der
preußische Postminister einen großen Gefallen tat, als er
ihn von der Portopflicht befreite. Mindestens 30.000
Briefe hat er insgesamt verfasst.
Das Verrückte nach über 200 Jahren Rezeptions-
geschichte: Bis heute kennt niemand Humboldts kom-
plettes Werk. Nicht nur weil er schwer verständlich sein
kann (das auch), sondern weil viele seiner Briefe bis heute
nicht entziffert, übertragen und veröffentlicht sind. Das
wollen sie an der Berliner Akademie ändern. Deshalb
kommt auch ingo Schwarz noch regelmäßig her, obwohl
er schon pensioniert ist. Seit Jahrzehnten forscht der Ame-
rikanist zu Humboldt. Mit einer kleinen Übersetzung An-
fang der 1980er fing es an – um Schwarz herum war damals
noch DDR –, jetzt kommt er nicht mehr von ihm los.
in der Akademie gibt es eine kleine Bibliothek, hier
steht außer Hunderten von Humboldt-Büchern in ver-
schiedenen Sprachen der Schreibtisch von Herrn Schwarz.
Dahinter: ein Tresor. Darin die Originaldrucke von Hum-
boldts Werken, daneben: nach Jahren geordnete Kopien
der Humboldt-Briefe. Viele davon sind keine Briefe im
klassischen Sinn, eher Notizen, Gedanken, Memos.
unzählige dieser Briefe haben Schwarz und seine
Kollegen überhaupt erst zugänglich gemacht, in end-
losen Stunden ermüdender Fleißarbeit. Trotzdem bleibt
vieles für immer verschollen, schon weil Humboldt die
meisten der an ihn adressierten Briefe irgendwann weg-
warf. »Wir bewegen uns bei der Editionsarbeit auf

Humboldts Welt


Sein Denken war revolutionär – und ist es heute


wieder. Vor 250 Jahren wurde Alexander von


Humboldt geboren. Sein Werk erinnert daran, dass es


zweierlei braucht, um die Welt zu verstehen:


Akribisches Forschen und ein Gespür für


den Zauber der Natur VON FRITZ HABEKUSS


TITELTHEMA


o


»Alexander von Humboldt« – das HANDBuCH,
herausgegeben von Ottmar Ette, geschrieben von zahlreichen
Experten. umfassender Einblick in leben und Wirken

GESPRÄCHE mit Humboldt-Kennern:
Tobias Kraft, Jürgen Trabant, Ottmar Ette,
ursula Klein, ulrich Päßler, ingo Schwarz, Andrea Wulf

KONFERENZ »Die ganze Welt, der ganze Mensch«,
Berlin, globale Perspektive auf sein Werk und Schaffen
https://bit.ly/2O5moKz

unsere Quellen


Die Darstellungen von Pflanzen und Tieren
auf diesen Seiten stammen aus
Humboldts Werken, sie wurden nach seinen
Aufzeichnungen angefertigt. Zwei kleine
Originale verstecken sich weiter hinten:
Die Skizzen eines Affen und eines Kaimans

Abb. [M]: Pierre Jean François Turpin (Foto: Staatsbibliothek zu Berlin/bpk) Fortsetzung auf S. 28
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