Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

  1. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


M


it fliegenden Fingern brei­
tet die lehrerin das Tuch
über dem Tisch aus. Gleich
werden die Kinder herein­
wehen, rotwangig und wo­
chenendzerzaust. Das Tuch
ist grün und hat goldene
Sterne, die im licht funkeln. Der erste Schüler
kommt, im Arm einen Koala aus Plüsch, den er auf
den Tisch setzt. Auch die anderen Kinder legen et­
was ab, zum Beispiel eine Ritterfigur und eine Tafel
Schokolade, die »Kisses« heißt.
K wie koala, K wie knight, K wie kisses. »Bringt
einen Gegenstand mit, der mit einem K beginnt und
euch wichtig ist«, lautete die Hausaufgabe. und so
wie sich der Tisch mit Herzensdingen der Kinder
gefüllt hat, füllt sich das kleine Klassenzimmer am
anderen Ende der Welt nun mit Geschichten über
den Buchstaben K.
ich kannte Neuseeland von Reisen, ich war durch
Glühwürmchenwälder gewandert und in türkisblauen
Seen geschwommen und wollte mehr Zeit dort ver­
bringen. Doch als ich mit meiner Familie wirklich für
ein halbes Jahr nach Neuseeland ziehe, in ein Holzhaus
direkt am Meer, habe ich auch etwas Sorge: Werden
sich unsere drei Töchter hier zurechtfinden?
und dann bringe ich meine achtjährige Tochter
das erste Mal zur Schule. Der Direktor begrüßt sie
schon an der Straße; in der Aula hängt eine deut­
sche Flagge für sie bereit, neben 27 anderen Flag­
gen für alle weiteren Nationalitäten.
ich beginne zu ahnen, dass ich in Neuseeland die
Schönheit nicht nur in der Natur finden werde.
Jeden Tag staune ich über die Schule, an der die
Englischlehrerin Zweitklässlern Gedichte des Autors
Ted Hughes vorliest und die Mathelehrerin den
unterricht an den Strand verlegt, um dort einen
Tyrannosaurus rex maßstabsgetreu in den Sand zu
zeichnen. Eine Schule, an der Schüler das Telefon
beantworten, damit die Sekretärin Pause machen
kann, die älteren Kinder ein Altersheim besuchen
und mit den Bewohnern Aerobic machen und der
Direktor mit einem schwierigen Jungen im lehrer­
zimmer tanzt, wenn dieser sich gut benommen hat.
Verwundert beginne ich andere Schulen zu be­
suchen, in reichen und armen Gegenden, sitze im
unterricht für große und kleine Kinder, und mir wird
klar, dass sich in diesem land, das geografisch so iso­
liert liegt, nicht nur eine seltene Pflanzenwelt, sondern
auch ein einzigartiges Bildungssystem entwickelt hat.
Da sind Erstklässler, die über einen Monat hinweg
den Mond vom Himmel abzeichnen, weil ihre Schule

das Thema Weltall durchnimmt. Sechstklässler, die
sich morgens mit ihrem lehrer am Strand treffen, um
den Sonnenaufgang zu beobachten, und Gedichte
über diesen Moment schreiben. Achtklässler, die eine
Tour mit ihren Moun tain bikes machen und danach
die Newtonschen Gesetze durchnehmen. Abiturien­
ten, die Einsamkeit aushalten lernen, indem sie
48 Stunden allein im Wald verbringen. ich gehe über
Schulflure, wo Poster von Menschen wie John lennon
und Bill Gates hängen, die trotz ihrer legasthenie
Erfolg im leben hatten. ich treffe lehrer, die fest
daran glauben, im leben ihrer Schüler etwas bewirken
zu können, und jede Gelegenheit nutzen, um von ein­
an der zu lernen. »Das neuseeländische Bildungssystem
ist beeindruckend«, wird mir John Hattie später sagen,
einer der einflussreichsten Bildungsforscher der Welt.
in den Pisa­Studien lagen Deutschland und Neu­
seeland fast gleichauf, auch die Bildungsausgaben
pro Schüler sind laut einer OECD­Studie annähernd
gleich hoch. im Alltag jedoch unterscheiden sich die
Schulen sehr. Nachdem ich erlebt habe, dass man es
in Neuseeland genauso wichtig findet, Empathie,
Mut und Kreativität zu entwickeln, wie rechnen zu
lernen, werde ich den Eindruck nicht los, dass dem
deutschen System etwas Entscheidendes fehlt.
Nach einigen Monaten in Neuseeland wird auch
meine fünfjährige Tochter eingeschult. Als zurück­
haltende deutsche Mutter will ich mich am ersten Tag
rasch verabschieden, doch die lehrerin stoppt mich.
Ob ich nicht bleiben wolle? Meine Tochter unter­
sucht zuerst einen Kuhschädel und ein Vogelnest, die
mit einer lupe auf einem Ta blett liegen, und zieht
dann immer engere Kreise um den Maltisch, an dem
einige Kinder tuschen. »Willst du?« Eine Mutter
reicht meiner Tochter einen Kittel. »Tschüs, Mama«,
sagt meine Tochter dann zu mir. Die andere Mutter,
höre ich später, ist bis zur Mittagspause geblieben. ihr
Kind brauchte mehr Zeit, um anzukommen.

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ch denke an Einschulungen in Deutschland,
wo es fast zum initiationsritus gehört, dass
Kinder bisweilen unter Tränen vom lehrer
aus der Aula ins Klassenzimmer geführt wer­
den. Das wäre hier unvorstellbar. Auch einen
fixen Einschulungstermin gibt es nicht. in Neusee­
land können Kinder ab dem fünften Geburtstag
in die Schule gehen. Wann genau, entscheiden die
Eltern in einem Zeitraum von zwölf Monaten; viele
Schulen nehmen die Kinder jederzeit im Jahr auf.
Meine Töchter lieben den unterricht in Neusee­
land. Als sie die Antarktis durchnehmen, übernachtet
meine achtjährige Tochter mit ihrer Klasse im Aqua­

rium, und meine fünfjährige Tochter macht den
ersten wissenschaftlichen Versuch ihres lebens mit
Schokolade. Radierer werden aus den Federmäpp­
chen verbannt. Fehler, sagen die lehrer, seien nichts,
was man voller Scham entfernen müsse.
ist das nicht alles ein bisschen zu schön, um
wahr zu sein?
Genau das habe ich anfangs gedacht, doch dann
habe ich begriffen, dass die Neuseeländer in der Bil­
dung nichts dem Zufall überlassen. Mit großer
Akribie haben sie ein System geschaffen, das das Beste
in lehrern und Schülern hervorbringt.
Grundlage ist ein Curriculum, dessen erste Fas­
sung von mehr als 15.000 Schülern, lehrern, Eltern
und Forschern gemeinsam verfasst wurde. Das kos­
tete Zeit und Mühe, doch der breite Konsens zahlte
sich später aus. Das Curriculum setzt auf Kohärenz
statt Gleichmacherei. Die lernziele binden alle
Schulen im land, Beamte überprüfen regelmäßig,
ob sie erreicht werden. Wie eine Schule jedoch da­
bei vorgeht, bleibt ihr überlassen. Weil Neuseelän­
der davon überzeugt sind, dass Entscheider nie zu
weit weg von den Folgen ihrer Entscheidungen sein
sollten, verwaltet sich jede Schule selbst, wichtigstes
Gremium ist ein board of trustees, das aus Direktor,
Eltern und lehrern besteht.
Als ich eine Schule in einer ärmeren Gegend be­
suche, erlebe ich die Vorzüge dieser Regelung. in der
ersten Klasse findet gerade die »News­Runde« statt.
Jedes Kind erzählt, was sich am Vortag ereignet hat,
egal ob gut oder schlecht. »Wir haben gestern einen
neuen Fernseher bekommen«, sagt ein Junge. »und
ich habe gestern ferngesehen«, sagt ein Mädchen. Drei
Jungen zappeln herum, ein Mädchen weiß gar nichts
zu erzählen. Später sagt mir die lehrerin, dass das
Mädchen sowieso kaum spricht und die drei Zappler
weder still sitzen noch Stift und Schere halten kön­
nen. Deshalb ging die lehrerin gleich zu Beginn des
Schuljahrs schnell zur Direktorin. Sieben Tage später
hatte sie Verstärkung durch eine logopädin und eine
Ergotherapeutin; beide kommen viermal die Woche,
um mit diesen Kindern zu arbeiten. Würde die
Schule ihr Geld nicht selbst verwalten, wäre das wo­
möglich anders ausgegangen.
Natürlich ist auch Neuseeland keine insel der
Seligen. Gerade streikten dort 50.000 lehrer für
eine bessere Bezahlung. Doch wenigstens waren sie
mit dieser Forderung nicht allein: Etliche Eltern
und Schüler gingen ebenfalls auf die Straße.
in Deutschland wird viel über Schulfragen ge­
stritten – jahrgangsübergreifender unterricht oder
nicht, 12 oder 13 Jahre bis zum Abitur, Gymnasium

oder Gemeinschaftsschule. Was mir dabei immer
wieder auffällt, ist die weitgehende Abwesenheit von
empirischer Evidenz. Stattdessen hört man gefühlte
Wahrheiten. Oft sind schulpolitische Entscheidun­
gen wahltaktisch motiviert, was zu einem Schlinger­
kurs führt, sobald sich die Mehrheiten ändern. Selbst
bei großen Reformen verzichtet man darauf, ihre
Wirksamkeit zu evaluieren. »leider nutzen wir in
Deutschland daten­ und forschungsbasierte Erkennt­
nisse noch zu wenig für die schulische Praxis«, kriti­
siert der Berliner Bildungsforscher Hans Anand Pant,
leiter der Deutschen Schulakademie.

I


n Neuseeland betreibt man die Bildungspoli­
tik dagegen mit Ausdauer und Weitblick.
Auf schnelle Experimente lässt man sich
nicht ein. Als ich mit einem Schulleiter in
Neuseeland spreche, sagt er einen Satz, den
ich in Deutschland gern häufiger hören würde:
»Die Wirksamkeit einer Methode muss immer
wissenschaftlich nachgewiesen sein. Auf keinen Fall
darf man in der Bildung Moden hinterherlaufen.«
Genau aus diesem Grund hat der Bildungsfor­
scher John Hattie die wohl umfangreichste Schul­
untersuchung aller Zeiten durchgeführt. Mehr als
815 Metaanalysen, 50.000 Einzelstudien, 250 Mil­
lionen Schüler und eine zentrale Frage: Was macht
guten unterricht aus? Über 20 Jahre habe es gedauert,
bis er das ganze Material ausgewertet habe, sagt mir
John Hattie. Woher ein Mensch kommt, der so viel
Wert auf Empirie legt? Natürlich aus Neuseeland,
auch wenn John Hattie schon lange nicht mehr dort
lebt. Eigentlich, schreibt er in seinem Buch, gebe es
so viel Wissen darüber, was in Klassenzimmern funk­
tioniere, es werde nur zu wenig genutzt. Hattie hat
alles, was wir in unseren Schulen so wichtig nehmen,
untersucht und festgestellt: Wir verschwenden unse­
re Zeit. »Eine der faszinierendsten Entdeckungen ist,
dass viele der am intensivsten diskutierten Probleme
diejenigen sind, welche die geringsten Effekte auf­
weisen.« Hausaufgaben landeten nur auf Platz 88 von
138 Einflussfaktoren, die Klassengröße auf Platz 106


  • selbst wenn unzählige Eltern und lehrer glauben,
    dass man in kleinen Klassen viel besser lernen kann.
    Wovon hängt es also ab, ob lernen gelingt? »Es
    kommt auf den einzelnen lehrer an«, sagt John
    Hattie. in Neuseeland halten die lehrer die Fäden
    des unterrichts fest in der Hand. Sie lassen sich die
    Kontrolle keinesfalls nehmen und formulieren klare
    Erwartungen an die Schüler.
    Der lehrer ist das Wichtigste – das klingt banal,
    ist aber radikal; die deutschen Bildungsbehörden


scheinen sich darüber nicht im Klaren zu sein. »Zwar
besteht in allen Bundesländern eine Fortbildungs­
pflicht, aber ob lehrer ihr auch wirklich nachkom­
men, wird kaum überprüft«, sagt der frühere Ham­
burger landesschulrat Peter Daschner, der jahrelang
zu diesem Thema geforscht hat. im Gegensatz dazu
müssen neuseeländische lehrer alle drei Jahre ihre
lehr erlaub nis erneuern – und das dürfen sie nur, wenn
sie nachweisen können, dass sie an beruflichen Weiter­
bildungen teilgenommen haben. Gute lehrer zu noch
besseren lehrern zu machen – das ist das erklärte Ziel.
Deshalb schwärmen regelmäßig sogenannte facilitators
in alle Schulen des landes aus. Diese »Vermittler«
wurden vom Bildungsministerium geprüft und sollen
den lehrern die neuesten Ergebnisse der empirischen
Forschung nahebringen. Wie groß sollten Klein­
gruppen in Mathe sein, wie lernen Kinder aus bil­
dungsschwachen Familien am besten, wie motiviert
man Jungen zum Schreiben? Trotz der Freiräume jeder
einzelnen Schule wird dadurch Einheitlichkeit im
land erzeugt. Was mir besonders gut gefällt: Die Ver­
mittler werden nicht erst gerufen, wenn es ernst wird.
Sie gehen zu allen lehrern, rein vorsorglich.
An der Schule meiner Töchter erlebe ich eine Ver­
mittlerin in Mathe. Binnen einiger Monate kommt
sie dreimal. Das erste Mal berät sie die lehrer bei der
Planung ihrer Stunden, das zweite Mal gibt sie
Modell stunden, das dritte Mal hilft sie den lehrern
in deren eigenem unterricht. So ein System würde
der Schulforscher Frank lipowsky von der uni versität
Kassel auch für Deutschland befürworten. Die deut­
sche Realität jedoch sehe anders aus, sagt er. Meist
gingen lehrer nach unterrichtsschluss für drei Stun­
den in eine externe Fortbildungsstätte.
Zurück in der ersten Klasse in Neuseeland. Heute
ist der Buchstabe i dran. »Ice cream«, schreibt die
lehrerin in Großbuchstaben auf ein Plakat, füllt eine
Kühlbox mit Eis und öffnet das ebenerdige Fenster
zum Schulhof hinaus. Die Kinder stellen sich an und
sagen, was ihnen in den Sinn kommt, wenn sie an
Eis denken. »lecker« natürlich, ja, aber die lehrerin
will mehr, also rufen die Kinder auch komplizierte
Begriffe wie »köstlich«, »wohlschmeckend« und
»appetitlich«, und die lehrerin schreibt sie alle auf
ein Blatt und hängt es wie ein Werbeposter ans Fens­
ter. und während die Kinder ihr Eis schlecken, be­
trachten sie all diese Wörter und wissen, dass sie die
Wonne beschreiben, die gerade in ihrem Mund
zerläuft. ist es da noch schwer, an den Sinn des
Schreibens zu glauben?

http://www.zeit.de/audio

Reise ins Bildungswunderland


Das Land
Neuseeland ist größer als Großbritannien, hat
aber nur 4,8 Millionen Einwohner. Es ist ein
Einwandererland, mit etwa 60.000 immigranten
im vergangenen Jahr. integration und Chancen­
gleichheit sind in Neuseeland wichtige Themen.

Die Recherche
Verena Friederike Hasel, 40, lebte Anfang 2018
ein halbes Jahr in Neuseeland. Beeindruckt hat sie,
wie offen die Schulen auf ihre Fragen reagierten:
»ich wurde nie gebeten, etwas wegzulassen, musste
nie vorlegen, was ich verwenden wollte.«

Das Buch
Über ihre Erfahrungen hat Hasel ein Buch
geschrieben: »Der tanzende Direktor. lernen in
der besten Schule der Welt«; es erscheint im
August im Verlag Kein & Aber. Bei dem Artikel
handelt es sich um einen bearbeiteten Auszug.

Lernen am anderen


Ende der Welt


BILDUNG WISSENSCHAFT BERUF


BILDUNG WISSENSCHAFT BERUF

CHANCEN



Als VERENA FRIEDERIKE HASEL mit ihrer Familie nach Neuseeland umzog, staunte sie über die dortigen Schulen – wo es einheitliche lehrpläne gibt,


die lehrer immer wieder umlernen und ein Direktor auch mal tanzt. Was kann sich Deutschland davon abgucken?


Illustration: Jan Robert Dünnweller für DIE ZEIT

Elf Goldene sollt ihr


sein: Alles, was man


zum Elite­Wettbewerb


der unis wissen muss


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