Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

56 CHANCEN 25. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


D


er Frauenarzt kennt Katarina
Gemmerich schon lange. Als
sie zum zweiten Mal schwanger
ist, sagt er zu ihr: »Ach, Frau
Gemmerich, ich freue mich so,
jetzt erleben Sie das einmal in
geregelten Bahnen.« Elf Jahre zuvor saß sie schon
einmal vor ihm, mit 14, sie ging aufs Gymnasium,
neunte Klasse – und bekam ein Kind.
Damals verdrängt Katarina Gemmerich diese
Tatsache, bis sie im sechsten Monat ist. Sie tut, als
wäre nichts, trägt weite T-Shirts, geht in die
Schule. irgendwann lässt sich der Bauch, der sich
zu wölben beginnt, nicht mehr ignorieren. Mit
einer Freundin kauft sie in der Apotheke einen
Test, Ergebnis positiv. Den Eltern erzählt sie
nichts. »Das ist schwer«, sagt sie später, »die den-
ken doch, du spielst noch mit lego.«
ihre Mutter erinnert sich, nichts geahnt zu
haben. Gar nichts. Dann findet sie den Teststrei-
fen, ist geschockt – und enttäuscht, dass sich ihre
Tochter ihr nicht anvertraut hat. Aber die Eltern
stehen hinter ihr. Katarina soll selbst entscheiden,
ob sie das Kind bekommen möchte oder ob eine
Adop tion für sie infrage kommt. Nur in einem
sind sie sofort sehr deutlich: Auch wenn Katarina
das Kind behält, muss sie die Schule zu Ende ma-
chen. im Dezember 2005 wird Emily geboren.
Emily ist heute 13, hat braune Haare, trägt
Vans und kommt nach den Sommerferien in die
neunte Klasse eines Kölner Gymnasiums, so wie
ihre Mutter damals.
2009, vor zehn Jahren, besuchte die ZEIT Kata-
rina Gemmerich zum ersten Mal. Sie war damals
18, stand kurz vor dem Abitur. Eine junge Mutter,
die ein Teenager war, trotz Kind. Die Familie hatte
ihren Rhythmus gefunden: Morgens und am Vor-
mittag kümmerten sich die beiden Omas um Emily,
auch nachmittags, wenn Katarina aus der Schule
kam und Hausaufgaben machte – danach erst hatte
die junge Mutter Zeit für ihr Kind. Wenn Emily
schlief, durfte Katarina sich mit Freunden treffen.
»Das Kind soll ja keine Strafe sein«, sagte Katarinas
Mutter damals. Emily war drei, an ihrer Zimmertür
stand: »Achtung, wildes Chaos kind«.
Heute steht da: »Zickenstube«. Zehn Jahre
sind vergangen. Katarina Gemmerich ist nun 28.
Mutter eines Teenagers – und seit fast zwei Jahren
auch Mutter eines kleinen Sohnes, linus.
in Deutschland sind Mütter im Durchschnitt
29,8 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind bekommen.
Sie haben sich ein leben aufgebaut, verdienen Geld,
stehen auf eigenen Füßen. So weit der ideal zu stand.
ist eine Schwangere zu alt, über 35, gilt das
schon als Risiko. Es wird dann zu Tests geraten,
damit das Kind möglichst gesund und ohne Be-
hinderungen zur Welt kommt. ist eine Schwange-
re dagegen wirklich jung, 20, 18, 16 oder gar 14,
wird ihr nicht zugetraut, ihrem Kind ein stabiles
Elternhaus bieten zu können.
Mütter stehen unter kritischer Beobachtung,
sie sind öffentliche Figuren. Trägt ein Baby im
Herbst keine Mütze, wird die Mutter von Passan-
ten auf ihre Fürsorgepflicht hingewiesen; stillt sie
nicht, macht man ihr ein schlechtes Gewissen,
weil das Kind Allergien entwickeln könnte. Steigt
sie nicht nach einem Jahr wieder in den Job ein,
gilt sie als Glucke, gibt sie zu, dass das Dasein
zwischen Computer und Kinderbett anstrengend
ist, jammert sie herum. Mutter zu sein heißt, sich
nicht nur an seinen eigenen Ansprüchen, sondern
auch an denen der Gesellschaft messen lassen zu
müssen. und eine Teenager-Mutter, wie Katarina
es damals war, sieht diese Gesellschaft eigentlich
gar nicht erst vor.
Katarina Gemmerich sitzt mit ihrem Sohn am
Küchentisch in ihrem Elternhaus, wo sie noch
immer lebt. linus mümmelt eine Karotte, Emily
ist noch in der Schule. im Schnelldurchlauf
erzählt Katarina, wie ihr leben seit dem Abi ver-
laufen ist. ihr Schnitt war »semi«, wie sie sagt,
2,8. in Köln und Bonn bewirbt sie sich damit um
einen Stu dien platz in Jura. Sie will Notarin wer-
den, wie der Chef ihrer Mutter. Sie bekommt Ab-
sagen und beschließt, nicht auf einen Platz zu
warten. um möglichst schnell »zum Haushalts-
einkommen beizutragen«, beginnt sie eine Aus-
bildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten. »ich
wollte meinen Eltern zeigen, dass ich sehe, was sie
alles für mich getan haben, auch finanziell«, sagt
Katarina. Druck machen ihre Eltern nicht. Erst
als Katarina richtig im Beruf steht, beginnt sie, zu
Hause eine kleine Miete zu zahlen.
Von Emilys Vater, Sascha, hat sie sich noch vor
dem Abitur getrennt. Die beiden waren nach Emi-
lys Geburt schon einmal aus ein an der ge gan gen,
aber dann wieder zusammengekommen. Sascha,
damals in der gleichen Klasse, steht zu dem Kind,
übernimmt Verantwortung. Aber die frühe Eltern-
schaft entfremdet die beiden auch, so erinnert sich
Katarina. Er hat mehr Freiräume, kann jederzeit
ausgehen, sich mit Freunden treffen. Sie kann nicht,
wie alle anderen, abends mal in Ruhe fern sehen
oder telefonieren. und sie kann oft nicht weg. Ka-
tarina muss in dieser Zeit mit einigen Enttäuschun-
gen klarkommen. »Es hat sich die Spreu vom Wei-
zen getrennt«, sagt sie. Nur zwei ihrer Freundinnen
warten abends auf Katarina, bis Emily endlich ein-
geschlafen ist, damit sie gemeinsam losziehen kön-
nen. »Alle anderen waren da schon feiern.«
Emily ist noch keine zwei, da erlebt Katarina
etwas, das sie bis heute verletzt. Sie will mit Emi-
ly ins Freibad. Aber als sie an der Kasse ihren


Schülerausweis zeigt, um die Ermäßigung zu be-
kommen, lässt man sie nicht hinein: Kinder un-
ter sieben dürften nur in Begleitung Volljähriger
schwimmen gehen. »ich habe gesagt, dass sie
meine Tochter ist«, erinnert sich Katarina. Wie
wolle sie das beweisen, fragte die Kassiererin, und
überhaupt, sie könne beim Alter keine Ausnah-
me machen.
»Es hat mich unglaublich getroffen, dass mir
nicht zugetraut wurde, aufzupassen, dass mein
Kind nicht untergeht.«
unterstützung bekommt sie dagegen von der
leiterin des Kindergartens, den Emily besucht.
Katarina wird bei Elternabenden von Anfang an
einbezogen und gefragt, ob sie für den Elternrat
kandidieren will. Wenn es Feste gibt, bringt sie
Kuchen mit oder Salat. langsam spürt Katarina,
dass sie in den Augen anderer zu einer Mutter
wird, die man ernst nimmt, die ihren Teenager-
Status verliert, mit der man sich über die Kinder
austauscht, mit der sich andere, oft wesentlich
ältere Mütter anfreunden. Katarina kann jetzt
selbst Auto fahren, fühlt sich nicht mehr so auf
die eigenen Eltern angewiesen – »ich habe mich
langsam rausgeschlichen aus dem Jugendlichsein«.
Was ihr dabei geholfen hat: ihre eigene Mut-
ter hat sehr darauf geachtet, dass jeder in seiner
Rolle bleibt. Katarina war die Mutter von Emily,
und die Oma war nie etwas anderes als die Oma.
Wie oft Emily die Flasche bekommt, ob nach
Bedarf oder alle drei Stunden, wie es im lehr-
buch steht? Das entscheidet Katarina damals mit
15 Jahren selbst.
Nachmittags, gegen halb vier, kommt Emily
nach Hause. ihr kleiner Bruder linus freut sich
und versteckt sich hinter einem Vorhang. Fast
zwölf Jahre liegen zwischen den beiden. Damals,
nach Emilys Geburt, schrieb Katarina Gemme-

rich zwei Wochen später schon wieder eine Eng-
lischklausur.
Bei linus ist jetzt einiges anders. Mit dem Va-
ter ihres Sohnes, ihrem Freund Marco, wohnt sie
im Dachgeschoss des Elternhauses. Katarina ent-
scheidet heute bewusster, wie sie Mutter sein
möchte und wie nicht. Sie hat, anders als bei
Emily, gestillt. Sich von gesellschaftlichen An-
sprüchen frei zu machen, fällt ihr leicht: »Wenn
ich der Meinung bin, dass linus im Sommer drei

Eis hintereinander essen kann, weil es heiß ist,
dann bekommt er die auch.«
Seit ihr kleiner Bruder linus da ist, kann auch
Emily sich vorstellen, wie anstrengend die Baby-
zeit für ihre Mutter gewesen sein muss. Dass Ka-
tarina das damals alles geschafft hat, bewundert
sie. »ich verzweifle so schon manchmal an der
Schule.« Natürlich weiß Emily, dass sie jetzt in das
Alter kommt, in dem Katarina damals schwanger
wurde. Sie hat schon mit ihrer Mutter darüber
gesprochen, was die leute wohl denken, wenn sie
mit linus zur Eisdiele oder auf den Spielplatz
geht – ob die leute wohl gucken und denken,
dass linus ihr Kind sei. Manchmal schauen sich
Katarina und Emily zusammen die Fernseh-
sendung Teenie-Mütter bei RTl ii an.

ihre Tochter zeige ihr oft, wie alt sie selbst ge-
worden sei, sagt Katarina Gemmerich; etwa wenn
sie sich mit Emily über deren Handykonsum strei-
tet, damit droht, das WlAN auszuschalten. Sie
war nicht bei insta gram, von der Videoplattform
TikTok hatte Katarina noch nie gehört. insta gram
hat sie sich dann heruntergeladen, seitdem erlaubt
sie auch Emily, es zu nutzen, solange sie keine Fo-
tos von sich postet.
Aber es gibt auch Berührungspunkte gerade
wegen des geringen Altersunterschieds zwischen
den beiden. Katarina weiß selbst noch, wie es
früher für sie war, wenn sie in ihrem Zimmer
allein sein, sich einkapseln wollte. Sie glaubt, dass
Emily ihr viel anvertraut, etwa über das, was ge-
rade in ihrem Freundeskreis passiert. Die Gefühls-
welt der Teenager-Jahre ist ihr noch nahe, und das
weiß die Tochter.
Am Abend kocht die Oma für die ganze Fami-
lie. Fast jeden Tag macht sie das. Dann sitzen alle
zusammen am Tisch. Katarina, Marco, Emily,
linus und Petra, die Oma. Vor drei Jahren ist
Katarinas Vater gestorben, an Krebs. im Wohn-
zimmer hängt eine Collage mit Fotos von ihm,
die Emily und Katarina für die Beerdigung gebas-
telt haben.
Die Familie hat dieser Einschnitt noch stärker
zusammengeschweißt. Sie planen, das Haus um-
zubauen, sodass zwei vollwertige große Wohnun-
gen entstehen, eine für Katarinas Mutter unten
und eine für die nächste Ge ne ra tion in den bei-
den Obergeschossen. Katarina weiß noch genau,
was ihre Mutter nach dem Tod des Vaters zu ihr
gesagt hat: »Guck mal, Kata, gut, dass du so früh
ein Kind bekommen hast – so hatte er noch zehn
Jahre lang etwas von seiner Enkelin.«
Wenn linus größer ist, wird seine Schwester
Emily ihm von Opa erzählen.

DIE ZEIT: Frau Bozkurt, Sie leiten eine Kin-
dertagesstätte in Hamburg – und schlagen jetzt
eine Pause für Kita-Kinder von mindestens
zwanzig Tagen vor. Wieso?
Hava Bozkurt: ich sehe in meiner Kita, dass
Kinder immer häufiger ohne Pause hergebracht
werden. Dabei vergessen Eltern, dass Kita für
Kinder auch Arbeit ist. Die Kinder lernen hier
ab dem ersten Tag Neues, sie müssen sich an
Regeln halten und mit anderen Kindern um-
gehen. Kinder brauchen davon auch mal Er-
holung – genauso wie Schüler, die ihre Schul-
ferien haben, und Arbeitnehmer mit ihren
zwanzig urlaubstagen im Jahr. Außerdem ist es
wichtig für die Kinder, dass sie Zeit mit ihren
Eltern verbringen, damit der familiäre Zusam-
menhalt gestärkt wird.
ZEIT: Viele Eltern ärgern sich doch ohnehin
bereits darüber, dass es in vielen Kitas eine
»Schließzeit« gibt. Für sie ist eine so lange
Pause ohnehin schwer zu organisieren, weil
sie arbeiten müssen und nicht so viele ur-
laubstage haben.
Bozkurt: Der Arbeitsdruck hat sich erhöht, das
stimmt. Es kann aber nicht sein, dass wir bei all
dem Bemühen um Vereinbarkeit die Bedürf-
nisse der Kinder ignorieren. Zu den Kinder-
rechten zählt auch das Recht auf Erholung. ich
sehe Mütter und Väter, die ihre halb kranken
Kinder in die Kita bringen, weil sie sich nicht
freinehmen können. Das ist anstrengend für
die Kinder, sie müssen immer funktionieren,
egal, wie ihre Tagesverfassung ist.
ZEIT: Die Eltern auch. Darum gibt es in Ham-
burg und in anderen Städten die Möglichkeit,
in Ferienzeiten einen Betreuungsplatz in einer
Notgruppe vermittelt zu bekommen.
Bozkurt: Natürlich können nicht alle Eltern
urlaub nehmen, wenn die Kita während der
Sommerzeit einige Wochen schließt. Genau
dafür sind die Notgruppen da, und das ist gut
so. in meinem Appell wende ich mich daher
ausdrücklich an die Eltern, die nicht berufs-
bedingt auf diese Notgruppen angewiesen sind.
Sie sollten bedenken, dass ihre Kinder sich in
diesen Gruppen an neue Kinder und Erzieher
gewöhnen müssen. im ungünstigen Fall kann
das zu mehr Stress bei den Kindern führen.
ZEIT: Viele Eltern haben deshalb längst ein
schlechtes Gewissen.
Bozkurt: Das sehe ich schon. Aber als Erziehe-
rin bin ich auch die Anwältin der Kinder und
muss auf sie aufmerksam machen. Wie ge-
sagt – es ist nicht immer die Arbeit, die Eltern
zwingt. Wir betreuen zum Beispiel gerade ein
anderthalbjähriges Kind, das seit November
letzten Jahres durchgängig in der Kita ist, ob-
wohl die berufliche Situation der Eltern das
nicht erfordert.
ZEIT: Welche Gründe gibt es denn außer der
Arbeit noch?
Bozkurt: Mit der Einführung des Kita-Gut-
scheins im Jahr 2003 ...
ZEIT: ... den es nicht nur in Hamburg, sondern
auch andernorts gibt: Eltern beantragen zuerst
einen Gutschein beim Jugendamt und suchen
sich dann mit diesem Gutschein eine Kita ...
Bozkurt: ... hat sich die Haltung vieler Eltern
gewandelt. Die Politik hat sich damit zu stark
auf die interessen der Eltern und zu wenig auf
die der Kinder ausgerichtet. Allein das Wort
»Gutschein« drückt ja schon aus, dass die Kita
vor allem als Dienstleister betrachtet wird. Eine
Folge davon ist, dass manche Eltern verlernt
haben, die gemeinsame Zeit mit ihren Kindern
zu gestalten.
ZEIT: Nicht alle Eltern können es sich leisten,
in den urlaub zu fahren. Das gilt für 31 Pro-
zent der Alleinerziehenden, zeigte gerade eine
neue Studie des Europäischen Statistikamtes.
Bozkurt: Erholung heißt ja nicht, dass die Kin-
der ständig Programm brauchen oder in die
Südsee reisen müssen. Man kann sich auch zu
Hause erholen. Es ist schon urlaub für die
Kinder, wenn man in den Tag hineinleben
kann, ausgiebig frühstückt, in den Park geht
oder einfach mal gemeinsam den Kleider-
schrank ausmistet.

Hava Bozkurt leitet das Kindertagesheim
Harmsstraße in Hamburg und engagiert sich
als Vorstandsmitglied des Alternativen
Wohlfahrtsverbands SOAl.

Das Gespräch führte Lena Luisa Leisten

»Sie müssen immer


funktionieren«


Für Kinder fühlt sich die Kita wie
Arbeit an – deswegen brauchen auch
sie urlaubstage, sagt eine Erzieherin

ZEIT GERMANY


Die neue Ausgabe des
englischsprachigen
Magazins über
Studieren und
Forschen gibt es
auch online:
http://www.zeit.de/germany

Teenie-Mutter ist erwachsen


Mit 14 war Katarina Gemmerich plötzlich schwanger. Heute ist sie 28 – und hat ihr zweites Kind bekommen.


Was ist jetzt anders? JUDITH SCHOLTER hat sie damals und heute besucht


»Ich habe mich


rausgeschlichen aus


dem Jugendlichsein«


Katarina Gemmerich

Katarina Gemmerich, 28, mit ihrer Tochter Emily, 13, und ihrem Sohn Linus, fast zwei

Foto: Julia Sellmann für DIE ZEIT
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