Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1

von Cupertino aus eine Nachricht ver-
schickt, die die Welt in Unruhe versetzt
hat. Eine Umsatzwarnung, die kürzlich ver-
öffentlichten Prognosen für die kommen-
den vier Monate werde man wohl nicht er-
reichen. „Die Situation entwickelt sich ge-
rade“, heißt es in der Mitteilung, was man
wohl so lesen muss: Das Erdbeben fällt
stärker aus als erwartet – doch wie stark
die Erschütterung am Ende sein wird, und
vor allem, wie hoch der Gesamtschaden
ausfällt, ist noch nicht abzusehen.
So eine Nachricht, noch dazu von einem
der verschwiegensten und auch wertvolls-
ten Konzerne der Welt, macht die Anleger
nervös. Besonders im Silicon Valley. Einer
Gegend, die im vergangenen Jahr Produk-
te im Wert von 15,9 Milliarden Dollar nach
China exportiert und für 129 Milliarden
Dollar importiert hat. Touristen aus China
haben 2019 insgesamt 1,3 Milliarden Dol-
lar in der Region ausgegeben. Und jeder
fünfte Einwohner der Bay Area hat auch
noch chinesische Vorfahren, so viele wie
nirgends sonst in den USA. Es gibt keine Ge-
gend in diesem Land, die so sehr mit China
verknüpft ist wie diese. Und wohl kaum ein
Unternehmen, das so stark von Chinas Fa-
briken abhängt wie Apple.
Daniel Ives von der Analysefirma Wed-
bush Securities sagt: „Apples Ankündi-
gung bestätigt die schlimmsten Befürch-
tungen, wie verwundbar Apple ist und wie
dramatisch die Folgen für iPhone und iPad
sein könnten.“ Apple sei das erste globale
Unternehmen, das die Auswirkungen des
Coronavirus zu spüren bekomme.


Stockdorf, 8390 Kilometer
von Wuhan entfernt


Wie spürt ein Unternehmen das Virus,
wenn nicht nur der Aktienkurs infiziert ist,
sondern tatsächlich die Belegschaft? Die
erste Firma, die in Deutschland betroffen
war, heißt Webasto. Ein Autozulieferer,
der Dächer, Heizungen, Batterien und La-
destationen herstellt. Der Chef, Holger En-
gelmann, erinnert sich an den Moment, als
der Erreger nach Stockdorf kam, in das be-
schauliche Städtchen nahe dem Starnber-
ger See. Eine chinesische Kollegin war Mit-
te Januar zu Gast in der Zentrale. Drei Tage
Meetings mit den Kollegen, Alltag in einem
internationalen Unternehmen. Doch nach-
dem die Mitarbeiterin wieder nach Shang-
hai zurückgeflogen war, wurde sie krank –
und positiv auf das Virus getestet.
Dann ging es Schlag auf Schlag: Zuerst
war es nur ein Mitarbeiter in Stockdorf, bei
dem das Virus nachgewiesen wurde. Er hat-
te mit der erkrankten Kollegin zusammen-
gearbeitet. Dann wurden es immer mehr.
Schließlich schickte Engelmann einen
Großteil seiner 1000 Mitarbeiter in der Zen-
trale nach Hause. Er stellte schnell einen
Krisenstab zusammen, Listen wurden ge-
macht, um den Weg des Virus zu verfolgen.
Wer hatte wann Kontakt mit welchem Kol-
legen, der bereits infiziert ist? In welchen


Familien könnte sich die Krankheit weiter-
verbreitet haben, wer könnte als Nächster
infiziert worden sein? Natürlich war es Zu-
fall, dass Webasto zum Einfallstor des Coro-
navirus in Deutschland wurde. Es hätte ge-
nauso gut woanders passieren können, in
Düsseldorf, Frankfurt, Wolfsburg, Ingol-
stadt. Andererseits: Das Familienunterneh-
men hat elf Werke in China. Das größte
steht in Wuhan, also genau da, wo das Vi-
rus ausbrach und die Schnellzüge jetzt
nicht mehr halten.
Und so sagte Engelmann als einer der
ersten Manager weltweit schon Anfang Fe-
bruar klar, was andere erst einmal lieber
für sich behielten. Er gehe „davon aus,
dass die Lage in China Auswirkungen auf
unsere Geschäftszahlen haben wird“. Am
vergangenen Montag musste dann auch
Apple zähneknirschend seine Umsatzpro-
gnose kippen.

New York, 12 045 Kilometer
von Wuhan entfernt

Es ist nicht gerade viel los im „Ulysses“, ei-
nem urigen Pub, keine fünf Minuten von
der New Yorker Börse entfernt. Gerade
eben, kurz nach Handelsschluss an diesem
Dienstag, sind einige Wall-Street-Banker
hineingehuscht und haben an den Barti-
schen Platz genommen. Auf der Speisekar-
te stehen Mini-Burger und Pommes Frites,
aber auch Austern und Champagner.
Die meisten Gäste trinken heute nur
Bier oder einen Martini, reden möchte kei-
ner. Es war kein guter Tag. Dass der Dow-
Jones-Index am Morgen gleich nach Han-
delsbeginn in den Keller gerauscht ist, weil
Apple seine Umsatzwarnung verkündet
hat, nehmen die Finanzprofis noch gelas-
sen hin – die Aktie wird sich tatsächlich
schnell wieder erholen. Was sie mehr
nervt: dass es dem Index schon seit Wo-
chen nicht gelingen will, die Rekordmarke
von 30 000 Punkten zu nehmen. Schuld
daran könnte der Corona-Erreger sein.

Das Virus ist für die Banker keine poten-
ziell tödliche Krankheit. Quarantäne? Lee-
re Fabriken? Kontrollen im Wohnviertel?
Alles weit weg. Für die Zocker der Wall
Street ist Corona schlicht eine Unsicher-
heit in ihren Prognosen. Größter Verlierer
ist am Dienstag die Apple-Aktie, die inner-
halb weniger Stunden fast sechs Dollar an
Wert einbüßt, umgerechnet fast zwei Pro-
zent.
Natürlich wissen auch die Investoren,
wie Apple funktioniert: Der Konzern ist ex-
trem erfolgreich, hat sich aber gleichzeitig
extrem abhängig gemacht von China und
anderen Ländern Südostasiens. Dass es
Apple gelingen könnte, die Produktion
kurzfristig zu verlagern, glauben Börsenex-

perten nicht. Zwar könne der Konzern sein
Standbein in Indien stärken, sagt Shannon
Cross vom Investmentberater Cross Re-
search. Aber: „Die Lieferkette von Apple in
China ist so straff und so lang, dass es
schwierig wäre, das Gleiche außerhalb der
Region noch einmal aufzubauen.“
Und noch ein Problem gibt es: Die Volks-
republik ist für Apple nicht nur so wichtig,
weil dort die iPhones zusammengebaut,
sondern vor allem auch, weil sie dort mas-
senweise verkauft werden: Jeder sechste
Dollar, den Apple auf der Welt einnimmt,
kommt aus China. Im vergangenen Ge-
schäftsjahr machte der Konzern dort 17
Prozent seines Geschäfts. Sollten die chine-
sischen Behörden die Ausbreitung des Vi-
rus also nicht rasch in den Griff bekom-
men, geriete Apple von zwei Seiten unter
Druck und die Aktie gleich mit. Aus der Par-
ty, auf die an der Wall Street alle warten,
könnte bald eine Trauerfeier werden.

Barcelona, 9407 Kilometer
von Wuhan entfernt

In zwei Tagen hätte es losgehen sollen, am
Montag, den 24. Februar: der Mobile
World Congress. Überall in der Stadt hätte
man dann wieder die Pfeifen der Verkehrs-
polizisten gehört. Sie trillern, wenn die
Menschenmassen stehen bleiben sollen,
sie trillern, wenn sie die Straße zur Fira
Gran Via überqueren dürfen, dem Messege-
lände am südlichen Rand von Barcelona.
Aber in diesem Jahr gibt es nichts zu tril-
lern. Die Messe fällt aus. Mehr als 100 000
Besucher reisen gar nicht erst an.
Je näher der Termin rückte, desto mehr
Aussteller sagten ab. Aus Angst vor dem Vi-
rus verzichteten LG, Nokia, Ericsson, Sony,
Intel und Amazon auf ihren Auftritt. Apple
gehört zwar nicht zu den Ausstellern, der
Konzern veranstaltet eigene Events, aber
iPhones und iPads waren in Barcelona den-
noch allgegenwärtig. Schon allein, weil alle
Zulieferer da waren.
Dass die Präsentationen neuer Smart-
phones nun ausfallen, ist nicht das
Schlimmste. Die einen Unternehmen ha-
ben Liveshows im Internet angekündigt,
die anderen haben ihre neuen Produkte
schon vor der Messe gezeigt. Doch eine bes-
sere Gelegenheit, die wichtigsten Leute an
wenigen Tagen an einem Ort zu treffen, fin-
det man nicht. Auf dem Messegelände gibt
abseits des Trubels in den großen Hallen
lange Fluchten von Einzelzimmern, in de-
nen verhandelt wird, und auch in den no-
blen Restaurants rund um die Fira Gran
Via wird gefeilscht. In Barcelona kommen
die Manager zusammen, um neue Deals
einzufädeln. Nur in diesem Jahr nicht.

München, 8376 Kilometer
von Wuhan entfernt

Messehalle, Dienstag in der vergangenen
Woche. Der Lichtkonzern Osram hält seine
Hauptversammlung ab. Der Chef Olaf Ber-

lien, dunkler Anzug, dunkle Krawatte, wei-
ßes Hemd, hat es nicht leicht, manche Akti-
onäre sind wütend. Einer sagt: „Ihr Name
wird immer mit der Zerschlagung von Os-
ram verbunden sein.“ Ein anderer kriti-
siert unter Beifall, dass das traditionsrei-
che deutsche Unternehmen nun vom Chip-
hersteller AMS aus der Steiermark über-
nommen wird.
AMS will Osram auch deshalb, um sich
unabhängiger zu machen: von Apple.
Apple ist der Hauptkunde des Chipherstel-
lers, unter anderem liefert AMS die Senso-
rik für die Displays der iPhones – doch
dann ließ die Corona-Krise in China den
Aktienkurs des österreichischen Unterneh-
mens abstürzen.

Düsseldorf, 8502 Kilometer
von Wuhan entfernt

AMS liefert auch die 3-D-Gesichtserken-
nung, und gerade mit der tun sich die
iPhone-Besitzer in Düsseldorf an diesem
Donnerstag recht schwer. Die allermeisten
tragen Masken. Nicht die weißen, sondern
die bunten – Weiberfastnacht in der Innen-
stadt, Ausnahmezustand. So ist auch das
Schild im Apple Store in der Innenstadt,
am Kö-Bogen, zu erklären: „Diese Woche
sind unsere Öffnungszeiten ein bisschen
anders“, steht da.

Diese Woche ist tatsächlich vieles an-
ders. EU-Wirtschaftskommissar Paolo
Gentiloni etwa gibt am Donnerstag im itali-
enischen Radio ein Interview. In der jüngs-
ten Prognose der Kommission steht noch,
dass das Bruttoinlandsprodukt der Euro-
Zone in diesem und im kommenden Jahr
um jeweils 1,2 Prozent wachsen wird – die
Prognose geht allerdings noch davon aus,
dass die weltweiten Folgen der Corona-Kri-
se in China begrenzt bleiben. Nun sagt Gen-
tiloni im Radio: Deutschland werde wirt-
schaftlich unter der Krise leiden, ebenso
Frankreich und Italien. Die Wirtschaft war
in diesen beiden Ländern zuletzt leicht ge-
schrumpft, in Deutschland stagnierte sie.
Die erhoffte Konjunkturerholung ist we-
gen der Epidemie in Gefahr.
Und wie bekommt ganz am Ende der
iPhone-Kunde die Krise zu spüren? Apple
teilte am Montag ungewöhnlich offen mit:
Die weltweite Versorgung mit dem iPhone
werde „vorübergehend eingeschränkt“
sein. Was das konkret heißt? In Düsseldorf
sagt der Apple-Mitarbeiter, er könne ja
nicht in die Zukunft sehen. Aber vielleicht
hätten ja bereits die aktuellen Engpässe
mit dem Stillstand in China zu tun, sagt er,
ja, vielleicht.
Sicher ist nur eines: dass es in Düssel-
dorf, 8502 Kilometer von Wuhan entfernt,
derzeit kein iPhone 8 mehr zu kaufen gibt.

Euro sind die Apple-Aktien
umgerechnet wert. In gerade
einmal 15 Jahren ist der Kurs
von 2,50 Dollar pro Aktie
um sagenhafte 13 000
Prozent gestiegen. Damit ist
das Unternehmen mehr
wert, als das Bruttoinlands-
produkt (BIP) vieler Volks-
wirtschaften, reicht etwa an
das BIP von Australien
oder Spanien heran. Die
Firma ist auch wertvoller
als alle Aktien, die an der
Börse in Singapur gehandelt
werden. Und Apple hat
ein gewaltiges Barvermögen
angehäuft: 200 Milliarden
Dollar. Nur ganz wenige
Staaten haben ähnlich hohe
Devisenreserven.

gibt es in der Volksrepublik.
Anfang Februar entschied
sich das Unternehmen,
alle Läden in China
erst einmal zu schließen.
Es gab kaum Personal, das
hätte arbeiten können,
und schon gar keine Kunden.
Seit ein paar Tagen hat
sich die Lage wieder
entspannt. Erst öffneten
drei Läden, dann sieben,
inzwischen haben 17 Stores
im Land wieder geöffnet.
Von Normalität ist
man jedoch noch weit
entfernt. Die Öffnungszeiten
sind recht kurz – und
wer einen Laden betreten
möchte, muss eine
Maske tragen und seine
Temperatur messen lassen.

An der Wall Street trinkt
man an einem Tag wie diesem
lieber Bier statt Champagner

Apple gibt am Montag bekannt:
Die „weltweite Versorgung“ mit
iPhones wird eingeschränkt sein

42


Apple Stores


1,


Billionen


DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 HF2 BUCH ZWEI 13

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