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an muss nicht für gut befin-
den, was Buddha Shakya-
muni im fünften oder sechs-
ten Jahrhundert v. Chr. in
seiner Lehrrede „Brahmaja-
la Sutta“ ausführte: Seine Schüler sollten
sich fernhalten von weltlichen Vergnügun-
gen, weil die nur zur Ablenkung führten -
16 listete er auf: Wer die Erleuchtung an-
strebe, dürfe sich weder den Würfeln noch
dem Hüpfspiel zuwenden, Spielzeugkar-
ren und -windmühlen seien dem Suchen-
den unangemessen, ebenso Ballspiele
oder Gedankenraten. Auf Platz eins der ver-
femten Tätigkeiten setzte Buddha jedoch:
die Brettspiele. Und die – Platz zwei auf der
Liste – dürften noch nicht mal in Gedan-
ken gespielt werden.
Aber immerhin eines hatte Buddha er-
kannt: Brettspiele sind mehr als ein harm-
loser Zeitvertreib. Seit Jahrtausenden
ziehen sie Menschen in den Bann, wechsel-
wirken mit der Gesellschaft. Schon im Mit-
telalter reisten sie um die halbe Welt.
Schach wurde etwa im 6. Jahrhundert in In-
dien erfunden und von handelstreibenden
Wikingern im frühen Mittelalter aus Arabi-
en nach Europa gebracht. Spiele haben
Menschen ruiniert, manche endeten sogar
mit dem Tod. Doch davon später.
Forscher interessieren sich für Buddhas
Liste, weil sie die älteste schriftliche Zu-
sammenstellung von Spielen ist und be-
legt, dass sie im damaligen Indien weit ver-
breitet waren – sonst müsste man ja nicht
vor ihnen warnen. Der archäologische Be-
fund reicht allerdings noch tiefer ins Dun-
kel der Geschichte. Die ältesten Nachweise
für die Brettspiellust haben Archäologen
bislang in einem 5000 Jahre alten Grabhü-
gel in Başur Höyük in der südöstlichen Tür-
kei gefunden: 49 farbige Spielsteine. Als
fast genauso alt gelten das Königliche
Spiel von Ur, das in Mesopotamien ent-
stand, und Senet aus Ägypten. Berichte
über 8000 Jahre alte Spielmaterialien sind
hingegen hochgradig umstritten.
Solange nicht die Paläoanthropologen
einen sensationellen Fund aus einer Stein-
zeithöhle machen, spricht viel dafür, dass
sich die Brettspielkunst mit den ersten
Hochkulturen in den Ländern des Frucht-
baren Halbmonds entwickelt hat. „Ein
Brettspiel hat immer eine mathematische,
geometrische Struktur, man benötigt ei-
nen Zufallsgenerator wie etwa einen Wür-
fel, man muss zählen können“, sagt der Ar-
chäologe und Spielforscher Ulrich Schäd-
ler, Direktor des Schweizer Spielmuseums
in La Tour-de-Peilz. Er hält es deshalb für
unwahrscheinlich, dass bereits vor dem
Neolithikum am Brett gespielt wurde.
Anders als beim freien Spiel im Raum -
beim Raufen, Verstecken, Kampf um den
Ball – kommt es auf dem Brett viel mehr
auf Strategie an, auf Glück und Verstand,
je nach Spiel in unterschiedlichem Maße.
So wie im richtigen Leben auch. Es wun-
dert nicht, dass deshalb die Spiele auch
symbolisch und religiös gedeutet wurden.
So war es bei Senet, das die ägyptische
Oberschicht spielte: Zwei Spieler traten
mit jeweils fünf bis sieben Figuren gegen-
einander an und mussten 30 Felder durch-
wandern, konnten sich gegenseitig zu-
rück- oder rauswerfen. Ursprünglich ein
reines Strategiespiel, entwickelte es sich
über die Jahrhunderte zum religiösen Ora-
kel. Dabei galt das Spielbrett als Simulati-
on der Totenwelt. Auf Feld 27 etwa befan-
den sich die „Gewässer des Chaos“; wer es
betrat, wurde zurückgesetzt oder raus-
geworfen.
Die Ägypter glaubten, dass rituelle Spiel-
sitzungen ihnen einen Blick in ihr eigenes
Nachleben erlauben würden. So bereiteten
sie sich spielend auf ihren Tod vor, nach
dem sie hoffentlich ebenfalls das letzte
Spielfeld erreichten. „Es repräsentiert Ra,
den Gott der aufgehenden Sonne“, schreibt
der britische Spieleexperte Tristan Dono-
van, „und kennzeichnet den Moment, in
dem die würdigen Seelen bei Ra in der
Ewigkeit aufgehen.“
Gar nicht mehr nur symbolisch ging es
in dem Würfelspiel Patolli zu, das unter an-
derem von den Azteken gespielt wurde.
Mit höchsten Einsätzen, wie der Dominika-
nermönch Diego Durán in seinem Werk
zur Kultur der Azteken im 16. Jahrhundert
berichtete: „Bei diesem und anderen Spie-
len spielten sich die Indianer nicht nur in
die Sklaverei, sondern wurden sogar legal
als menschliche Opfer getötet.“
So grausam diese Praxis heute er-
scheint, Patolli und Senet belegen auf den
ersten Blick die These mancher Spielhisto-
riker, dass Brettspiele die Produkte kom-
plexer Gesellschaften sind, die sie dann
auch abbilden. Wobei man aber auch nicht
vorschnelle Analogien ziehen dürfe, warnt
Spielforscher Schädler. So werde etwa das
beliebteste Spiel der antiken Römer La-
trunculi, auch Ludus Latrunculorum ge-
nannt, manchmal als Kriegsspiel gedeutet,
weil die zwei Spieler ihre Steine wie feindli-
che Armeen gegenüberstellen, die sie dann
waagrecht oder senkrecht ziehen. Ein
feindlicher Stein war geschlagen, sobald
zwei eigene ihn umrahmten. Der Sieg war
errungen, wenn der Gegner alle Steine
verloren hatte oder eingekesselt war. „Das
spiegelt jedoch in keiner Weise die wirkli-
che militärische Struktur wider, die durch
vielfältige Hierarchien geprägt war“, sagt
Schädler.
Manche Wissenschaftler widerspre-
chen auch der These, dass das Brettspiel
nur das Ergebnis komplexer Gesellschaf-
ten ist, es trage vielmehr bei zur Herausbil-
dung und Bewältigung wachsender Kom-
plexität. Sie folgen dem niederländischen
Historiker Johan Huizinga, der bereits
1938 in seinem Buch „Homo ludens“ – la-
teinisch für „Der spielende Mensch“ – eine
andere Theorie formuliert hatte. Demnach
sei der Spieltrieb eine im Menschen ange-
legte Eigenschaft, die ihm helfe, seine Per-
sönlichkeit und letztlich auch soziokultu-
relle Systeme auszubilden. Auch Politik,
Wissenschaft, Religion und Recht entstün-
den aus spielerischen Verhaltensweisen,
die sich über die Zeitläufte verfestigen.
Wie das konkret aussehen könnte, hat
der Archäologe Walter Crist von der Univer-
sität Maastricht vor Kurzem imJournal of
Anthropological Archaeology ausgeführt.
Er hat analysiert, wo und in welchem Kon-
text im bronzezeitlichen Zypern Brettspie-
le gespielt wurden, in der Zeit von 2400 bis
1050 v. Chr., als die zuvor agrarische
Gesellschaft der Mittelmeerinsel zuneh-
mend komplexer wurde. Die Arbeits-
teilung nahm zu, neue soziale Schichten
entstanden, die Orte wurden größer, urba-
ner und anonymer.
Crist kommt zu dem Ergebnis, dass die
Menschen damals, wie bewusst auch im-
mer, zuerst in eher privaten Räumen die
Bretter aufklappten, um spielerisch sozia-
le Grenzen zu überwinden und mit zuvor
unbekannten Menschen zu interagieren:
„Spiele schaffen eine gemeinsame Auf-
merksamkeit, die zu einer gemeinsamen
Intentionalität und zum Aufbau von Ver-
trauen führt.“ Mit weiterwachsender Kom-
plexität der Gesellschaft seien die Spieler
dann in eher öffentliche Räume gegangen,
um sich vor Publikum darzustellen. Des-
halb bevorzugten sie Holzbretter gegen-
über lederbezogenen, weil knallende Spiel-
steine mehr Aufmerksamkeit erzeugten.
Womöglich verhält es sich im Deutsch-
land der Jetztzeit gar nicht so viel anders
als in der Bronzezeit Zyperns, wenn man
die neuen Nachbarn zum Spieleabend ein-
lädt, weil man sich noch nicht so viel zu
sagen hat. Oder wenn die Alten im Stadt-
park lebensgroßes Schach performen, um
zu zeigen: bin noch da.
Krieg der
Steine
Seit 5000 Jahren lieben die
Menschen Brettspiele, die mehr
sind als nur Zeitvertreib. Sie
helfen, das Leben zu bewältigen,
und verändern die Gesellschaft
von christian weber
In der Bronzezeit wurde das
Leben komplizierter. Spielen
half, damit zurechtzukommen
Die alten Ägypter bereiteten
sich mit einem Spiel auf
das Leben nach dem Tod vor
34/35 WISSEN HF2 Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020, Nr. 44 DEFGH
Diese beiden Liubo-
Spieler stammen aus
dem 1. oder 2. Jahrhun-
dert und wurden in
Ostchina gefunden.
Populär wurde es aber
wohl schon gegen 1600
v.Chr. Damals dachte
man, dass Liubo sowohl
von Sterblichen wie von
Unsterblichen gespielt
wird, wobei über die
Spielregeln heute nur
spekuliert werden
kann. Einige Autoren
halten es für ein mit
Würfeln gespieltes
Kriegsspiel. Die Spiel-
steine wurden unter
anderem Fische, Steine
oder Eulen genannt.
FOTO: AKG-IMAGES / ERICH LESSING
Das Königliche Spiel
von Ur wurde vor 4600
Jahren hergestellt und
gehört zu den ältesten
bekannten Brettspielen
der Welt. Der britische
Archäologe Sir Charles
Leonard Wooley hat es
mit vier weiteren Exem-
plaren in den 1920er-
Jahren auf dem königli-
chen Friedhof der sume-
rischen Stadt Ur im
heutigen Südirak ausge-
graben. Vermutlich
mussten zwei Spieler
eine Figur auf das Feld
hineinwürfeln, über
einen bestimmten Weg
über das Brett führen
und dann wieder hin-
auswürfeln.
FOTO: IMAGO IMAGES/PHOTO12
Viele Spiele dienen dem
Zeitvertreib, bei man-
chen geht es um Geld,
aber selten waren die
Einsätze so hoch so wie
bei Patolli, einem Brett-
spiel im präkolumbiani-
schen Mittelamerika. In
der Azteken-Metropole
Tenochtitlan spielten
normale Bürger und
Aristokraten gleicherma-
ßen gern Patolli, bei
dem Kieselsteine nach
unbekannten Regeln
bewegt wurden. Dabei
ging es nicht nur um
Geld und Güter. Die
Verlierer wurden schon
mal den Göttern geop-
fert.FOTO: MAURITIUS
IMAGES / ALPHA STOCK / ALAMY
Dieser Spielstein aus
Walross-Elfenbein mit
sieben Zentimeter
Durchmesser wurde
gegen 1150 in Köln ge-
schnitzt und gehörte zu
einem 30-teiligen Set
eines Spielbretts. Er
zeigt, wie der griechi-
sche Halbgott Herkules
seine zehnte Aufgabe
erledigt: Er tötet den
Riesen Geryon, der
sechs Füße, sechs Hände
und drei Köpfe hatte,
um dessen Rinderherde
zurückzuführen. Klassi-
sche und biblische
Motive waren im Mittel-
alter auch im Spielde-
sign weit verbreitet.
FOTO: IMAGO/ARTOKOLORO
Ein Mühle-Spiel findet
sich auch im Zeitalter
der Videogames noch in
fast jedem Kinderzim-
mer. Es gehört zu den
absoluten Klassikern
der Brettspielgeschich-
te: Den ältesten bekann-
ten Spielplan haben
ägyptische Arbeiter
beim Bau eines Tempels
in Theben 1400 v. Chr.
in eine Dachplatte ge-
ritzt. Die Darstellung
rechts stammt aus ei-
nem Spielebuch des 13.
Jahrhunderts. Im Mittel-
alter war es besonders
beliebt, aber auch der
antike römische Dichter
Ovid schrieb über das
Spiel.FOTO: PUBLIC DOMAIN
Dieses Bild aus einem
Grab in der Wüstenoase
Turfan in der Autono-
men Region Xinjiang
zeigt eine Frau beim
Weiqi-Spiel, das heute
Go heißt. Es entstand
vor ungefähr 3000 Jah-
ren und diente anfangs
womöglich zum Wahrsa-
gen. Obwohl es erst im
- Jahrhundert in den
Westen gelangte, wird
es mittlerweile von vie-
len Millionen Menschen
gespielt. Der Reiz von
Go liegt darin, dass es
trotz des simplen Spiel-
feldes von 19 x19 Linien
und einfachen Spiel-
regeln hochkomplex ist.
FOTO: AKG-IMAGES
Die elfenbeinernen
Lewis-Schachfiguren
wurden 1831 auf der
größten Insel der Äuße-
ren Hebriden entdeckt.
Sie sind vermutlich im
- Jahrhundert in Nor-
wegen geschnitzt wor-
den. Schach zeigt, wie
ein populäres Brettspiel
sich in kurzer Zeit welt-
weit verbreiten kann.
Sein Vorläufer ist das
in Indien im 6. Jahrhun-
dert entwickelte Chatu-
ranga, das erst nach
Persien gelangte und
unter anderem von
Wikingern aus Arabien
nach Europa gebracht
wurde.FOTO: NATIONAL
MUSEUM SCOTLAND
Latrunculi, lateinisch
für Soldaten oder Söld-
ner, war das beliebteste
Brettspiel der Römer,
vielleicht auch, weil in
der Kaiserzeit die zuvor
populären Glücksspiele
verboten waren. Angeb-
lich spielten es insbeson-
dere die Legionäre gern
in ihrer Freizeit. Noch
heute finden sich in
Rom auf den Steinplat-
ten von Treppen und
Plätzen viele eingeritzte
Spielfelder. Da es ohne
Würfel auskommt, ge-
winnt bei Latrunculi
derjenige, der mehr
Verstand und Geschick
besitzt.
FOTO: BRIDGEMAN IMAGES
Dieses altägyptische
Senet-Spielbrett ent-
stand vermutlich zwi-
schen 1390 bis 1353 vor
Christus. Das Spiel
selbst wurde bereits vor
5000 Jahren gespielt.
Es ist bekannt, dass
Nefertari, die Frau von
Ramses II., und der
jugendliche Pharao
Tutanchamun beson-
ders gerne Zeit mit
dem Strategiespiel ver-
brachten. Ihm wurden
gleich fünf Senet-Spiele
ins Grab mitgegeben.
Die zum Teil reich orna-
mentierten Spielkisten
gehörten meist der ägyp-
tischen Oberschicht.
FOTO: BROOKLYN MUSEUM