Alan „Al“ Michaels ist, wenn man so will,
der Herbert Zimmermann der USA: der Ver-
künder der größten Frohbotschaft, die der
Sport dem Land jemals geschenkt hat. Zim-
mermann berichtete 1954 vom sensatio-
nellen 3:2-Sieg der deutschen Elf im Finale
der Fußball-WM gegen die Ungarn, der als
„Wunder von Bern“ in die bundesrepubli-
kanische Geschichte einging – und mit
ihm Zimmermanns Radiokommentar. Al
Michaels reportierte 1980 aus dem Olympi-
schen Zentrum von Lake Placid, wo das US-
Team, ein bunter Haufen von College-Spie-
lern, gegen die als unschlagbar geltende
Eishockey-Mannschaft der UdSSR antrat,
den mit vier Olympiasiegen in Serie ange-
reisten Topfavoriten auf die Goldmedaille.
Als die Uhr nur noch drei Sekunden anzeig-
te, fragte Michaels seine Zuseher und -hö-
rer: „Glauben Sie an Wunder?“
Die Antwort gab er sich wenige Augen-
blicke später selbst: „Yes!“ Eine Horde Na-
menloser hatte die Weltstars Charlamow,
Petrow, Michailow, Makarow und Tretjak
4:3 bezwungen. Zwei Tage nach dem „Mi-
racle on Ice“ schlugen die Amerikaner
Finnland und holten Gold.
Für das MagazinSports Illustratedist
der Sieg am 22. Februar 1980, der sich an
diesem Samstag zum 40. Mal jährt, der
größte Sportmoment des 20. Jahrhun-
derts, vor dem „Thrilla in Manila“ Ali
gegen Frazier (Platz 5), vor Maradonas
Jahrhundert-Tor im WM-Viertelfinale
1986 (Platz 48). Das „Wunder von Bern“
taucht in der Liste nicht auf. Das ist allen-
falls ein klitzekleines bisschen zu patrio-
tisch.
Der Mann, der dieses Wunder wirkte,
war Herbert Paul Brooks, den alle „Herb“
nannten. Nachdem die Amerikaner bei
den Spielen von Innsbruck 1976 Fünfter
und bei der WM 1979 nur Siebter gewor-
den waren, sollte er für das Heimturnier
1980 in Lake Placid ein neues Team aushe-
ben. Brooks war damals ein 42-jähriger
Coach an der University of Minnesota, de-
ren Mannschaft er zu mehreren College-
Meisterschaften geführt hatte. Vor dem
Olympiasieg der Amerikaner 1960 in
Squaw Valley war Brooks als letzter Spieler
aus dem Kader gestrichen worden. Nun
überraschte er mit der Ansage, er wolle die
Sowjets schlagen.
Auf den Einwand, dass das doch wohl
ein recht hochfliegendes Ziel sei, antworte-
te er nur: „Eben darum.“
Die USA befanden sich 1979/80 innen-
wie außenpolitisch in Turbulenzen. Unter
Präsident Jimmy Carter, als „der Erdnuss-
farmer im Weißen Haus“ verspottet, tau-
melte die Nation durch eine Wirtschaftskri-
se. In Iran saßen mehr als 50 US-Diploma-
ten als Geiseln der Islamischen Revolution
fest. Und wenige Wochen zuvor waren so-
wjetische Truppen in Afghanistan einmar-
schiert. Der Kalte Krieg erreichte einen
neuen Höhepunkt; ein Boykott der Som-
merspiele in Moskau durch die westlichen
Nationen zeichnete sich ab. In dieser Ge-
mengelage ließ sich das Duell USA gegen
UdSSR, der sportliche Vergleich zweier po-
litischer Weltmächte, wunderbar zum
Kampf der freien Welt gegen das kommu-
nistische System stilisieren.
Über das unmenschliche Training der
Sbornaja unter dem KGB-Offizier Wiktor
Tichonow kursierten Schauergeschichten.
„Wir pissten Blut“, beschrieb Torwart Wla-
dislaw Tretjak viele Jahre später in der Do-
kumentation „Red Army“ die brutale Här-
te des Schleifers. Bis zu sieben Stunden täg-
lich ließ Tichonow trainieren. Aber auch
Brooks war nicht gerade zimperlich.
Für sein ehrgeiziges Ziel hatte er hungri-
ge Spieler mit einem Durchschnittsalter
von nur 22 Jahren ausgewählt. Jim Craig,
der Torwart mit dem Kleeblatt auf der Mas-
ke, und Jack O’Callahan hatten irische
Vorfahren, Linksaußen William Conrad
„Buzz“ Schneider deutsche. Mark Einar
Johnson war norwegischer Abstammung,
Mike Eruzione, der Kapitän, Nachkomme
italienischer Einwanderer. Sie waren ein
Querschnitt Amerikas – des weißen Ameri-
kas wohlgemerkt. Bis auf wenige Ausnah-
men gibt es bis heute kaum schwarze, his-
panische oder indigene Profis in der Profili-
ga NHL. Aber Brooks legte Wert darauf,
dass sie sich als Einheit verstanden.
Die amerikanischen Spieler kamen, wie
Brooks, vom College, die sowjetischen gal-
ten offiziell als Soldaten – Profis waren bei
Olympischen Spielen nicht erlaubt. Als
Brooks seinen Kader ein halbes Jahr vor
den Spielen um sich versammelte, stellte
er sich mit den Worten vor: „Ich bin nicht
euer Freund.“ Daran sollte er sich halten.
In den folgenden sechs Monaten verfuhr
er strikt nach dem Motto: „My way or the
highway.“ Wer nicht mitzieht, kann gehen.
Einmal, nach einem sorglosen Unent-
schieden in einem Testspiel gegen Norwe-
gen, war er derart aufgebracht, dass er sei-
ne Spieler direkt danach zu einer Extra-
schicht seiner gefürchteten „Herbies“ be-
fahl: Ein ums andere Mal ließ er das Team
hin- und hersprinten, wieder und wieder,
von links nach rechts und zurück. Selbst
als der Hausmeister das Licht in der Halle
abdrehte, ließ Brooks nicht locker. Bis Bei-
ne und Lungen brannten. Seine Spieler soll-
ten verstehen, dass sie nur gewinnen könn-
ten, wenn sie sich als Team nur auf ihr Ziel
konzentrierten. Notfalls mit Gewalt.
Am nächsten Tag schlugen sie Norwe-
gen in einem weiteren Testmatch 8:0.
Die Episode ist in dem Film „The Mi-
racle“ (2004) zu sehen. Brooks wird darin
verkörpert von Kurt Russell, einem auf Ac-
tionhelden spezialisierten Hollywood-Hau-
degen. Nach Ansicht der Spieler machte
Russell seinen Job gut. Mit einer Einschrän-
kung: „Herbie kommt darin wie ein netter
Kerl rüber“, sagte Stürmer Mark Johnson.
Tatsächlich sei Brooks die meiste Zeit
grantig gewesen. Sogar am Tag nach dem
Sieg über die Sowjets. „Wir waren eine
Gruppe College-Jungs“, erzählte Johnson
dieser Tage demLas Vegas Review Journal.
Sie seien locker in die Trainingshalle ge-
schlendert, hätten hier ein Autogramm ge-
schrieben, dort ein Foto gemacht. Bis
Brooks sie zurechtstutzte. Einen Tag vor
dem entscheidenden Spiel in der Finalrun-
de habe er dem Team „den Arsch wegtrai-
niert (Verteidiger Ken Morrow) und blaffte
in der Kabine: „Wenn ihr dieses Spiel ver-
liert, nehmt ihr das mit in euer verdamm-
tes Grab.“ Später habe er begriffen, dass
Brooks nur diese eine Chance hatte, sie wie-
der zu erden, sagte Johnson. Tatsächlich
mussten sie für die Goldmedaille in der Fi-
nalrunde erst noch die Finnen schlagen.
Sie gewannen, nach Rückstand, 4:2.
Am Tag des Duells mit der UdSSR wur-
den die Amerikaner mit „U-S-A“-Rufen im
Olympic Center von Lake Placid empfan-
gen. Brooks hatte ihnen eingeschärft, dass
sie der UdSSR in neun von zehn Fällen un-
terliegen würden: „Aber nicht heute.“ In
der Gruppenphase hatten sie die Tschecho-
slowakei 7:3 geschlagen, Norwegen 5:1, Ru-
mänien 7:2 und Deutschland 4:2; lediglich
im Auftaktspiel gegen Schweden hatten
sie sich mit einem 2:2 begnügenmüssen.
Sie hatten, wie von Brooks erhofft, die Nati-
on hinter sich gebracht. Das Spiel begann
indes wie von allen prophezeit: Nach neun
Minuten traf Wladimir Krutow zum 0:1.
Eine Woche vor dem Turnier hatten die
Sowjets das US-Team in einem Testspiel
mit 10:3 überrollt. Durch die Vorrunde war
die UdSSR mit fünf Siegen marschiert.
Doch Buzz Schneider glich aus und machte
die Halle erstmals zum Tollhaus. Als Sergej
Makarow in der 18. Minute zum 1:2 traf,
schien der Favorit wieder in der Spur zu
sein. Dann schoss Dave Christian von der
Mittellinie aufs Tor, und Tretjak, für viele
der beste Torhüter der Geschichte, wollte
den Puck „lässig zur Seite abwehren“, wie
er später zugab. Doch der Puck prallte
nach vorne ab – Johnson traf zum 2:2, eine
Sekunde vor der Pausensirene. 8500 Zu-
schauer in der Halle standen kopf.
Zu Beginn des zweiten Drittels nahm
Tichonow Tretjak vom Eis: ein nie da gewe-
sener Vorgang. Tichonow wollte seine Spie-
ler aufrütteln. Und schon zwei Minuten
später traf Malzew zum 2:3. Für die Ameri-
kaner aber war Tretjaks Auswechslung ein
Zeichen, dass sie die siegessicheren Super-
techniker mit ihrer physischen Spielweise
verunsichert hatten. Trotz 2:12 Torschüs-
sen im Mitteldrittel lagen sie vor dem letz-
ten Abschnitt nur mit einem Treffer zu-
rück. Und hatten sie bei all ihren Siegen
nicht immer das letzte Drittel gewonnen?
Wieder war es Johnson, der zum Ausgleich
traf (49.). Und als wenig später Mike Eru-
zione, der Linksaußen mit dem eruptiven
Namen, den Puck zum 4:3 ins Tor schoss,
brachen alle Dämme. Die letzten zehn Mi-
nuten verteidigten die Amerikaner ver-
bissen, bis Al Michaels die Sekunden her-
unterzählte: „Noch elf, noch zehn. Noch
fünf. Glauben Sie an Wunder? Yes!“ Zwei
Tage später hauchte er: „Der unmögliche
Traum ist wahr geworden.“ Gold.
Hart, unerbittlich, bisweilen arrogant:
So beschreiben Zeitgenossen Herb Brooks.
Eruzione, ein bulliger Angreifer, erinnert
sich, dass er noch Jahre später vor Angst zu-
sammenfuhr, wenn Brooks bei ihm anrief:
„Ich dachte: Oh Gott, was habe ich jetzt wie-
der falsch gemacht?“ Dennoch erwiesen
Brooks bei seiner Beerdigung Hunderte
Spieler die letzte Ehre. „Und jeder von ih-
nen würde dasselbe erzählen“, sagte Rob
McClanahan, Stürmer im Gold-Team, der
Seite NHL.com: „Dass sie morgen wieder
für ihn spielen würden.“ Ken Morrow assis-
tierte: „Alles, was er tat, hätte nach hinten
losgehen können. Aber ohne ihn hätten wir
nie Gold gewonnen. Er war seiner Zeit
zwanzig bis dreißig Jahre voraus.“
In den letzten Jahren, sagt McClanahan,
hätten Brooks und er sich angenähert: „Er
war jetzt nicht mehr mein Trainer, er wur-
de zu einem Freund. Wir konnten mitein-
ander herumalbern und uns unterhalten.
Ich hätte diese Art der Beziehung gerne län-
ger gehabt.“ Am 11. August 2003 starb
Herb Brooks im Alter von 66 Jahren bei ei-
nem Autounfall auf einem Highway bei
Minneapolis. Offenbar war er nicht ange-
schnallt, als er die Kontrolle über seinen
Wagen verlor und aus dem Fahrzeug ge-
schleudert wurde. Der Mann, dessen Na-
men heute das Olympic Center in Lake Pla-
cid trägt, ließ sich nicht gerne einengen.
Manche seiner Sprüche gehören bis heu-
te zum Stehsatz jedes Trainers, etwa: „Har-
te Arbeit schlägt Talent, wenn die Talentier-
ten nicht hart genug arbeiten.“ Marco
Sturm nahm bei den Spielen 2018 eifrig An-
leihen. Er suche nicht die besten Spieler,
sondern das beste Team, zitierte der damali-
ge Bundestrainer Brooks; in der Kabine
hing das Wort „believe“. Das deutsche Team
gewann in Pyeongchang Silber, nach Siegen
gegen Weltmeister Schweden und Rekord-
olympiasieger Kanada. Trotz des 3:4 im Fi-
nale gegen Russland war es der größte Er-
folg der deutschen Eishockeygeschichte.
Brooks kam nach etlichen Jahren in der
NHL noch zweimal zu den Olympischen
Spielen zurück. 1998 in Nagano als Chef-
trainer Frankreichs. Und 2002 in Salt Lake
City. Wieder ein Heimspiel (das Team von
1980 entzündete bei der Eröffnung die
olympische Flamme). Und wieder schlu-
gen sie die Russen im Halbfinale, 3:2, wie-
der schrieb man den 22. Februar. Im Finale
aber unterlagen die USA Kanada 2:5.
Über die Tage von Lake Placid sagte Ken
Morrow, der mit den New York Islanders
zwischen 1980 und 1983 vier Stanley Cups
in Serie gewann: „Was wir erreicht haben,
hat die Menschen im ganzen Land berührt
- und darüber hinaus. So etwas habe ich
nie wieder erlebt.“ Brooks formulierte es
so: „Wir haben den Menschen eine Chance
gegeben, nicht nur zu träumen, sondern
wieder an etwas zu glauben.“
Glaube, Hingabe, Pflichterfüllung:
Herb Brooks war wohl der Einzige, für den
„The Miracle“ kein Wunder war. Sondern
eine Mission. johannes schnitzler
von volker kreisl
Antholz– Er ist schon komisch, dieser
Sport. Erst beschleunigen und durch den
Fichtenwald hetzen, dann plötzlich wieder
abbremsen, um auf fünf kleine Scheiben
zu schießen. Also was jetzt – laufen oder
schießen? Und dann: Kommen die Läufer
als Erste ins Ziel, aber sie gewinnen am En-
de doch nicht. Wer soll sich da auskennen?
Fußball, Schwimmen, Formel 1, Rad – Itali-
ener lieben Sport mit klaren Treffern und
Abläufen. Damit also Biathlon in Italien
jemals ein Renner wird, braucht es ein klei-
nes Wunder.
Und womöglich tritt dieses Wunder
nun gerade ein. Einige Komponenten, die
dafür nötig wären, sind schon erfüllt. Bei
der WM in Antholz in Südtirol haben die
Italiener Dramen aufgeführt, Siege errun-
gen, und dann schien auch noch fast die
ganze Zeit die Sonne Südtirols, unter der
Gold besonders glänzt. Doch all das hätte
gar nichts bedeutet, wenn der entscheiden-
de Wunderfaktor nicht wäre: eine Siegerin
voller Selbstbewusstsein, die nicht nur ei-
ne starke Lunge hat und schnell schießen
kann, sondern auch die Medien zu einem
Wettkampf um die poetischste Beschrei-
bung animiert. Die Augen eines sibiri-
schen Tigers habe sie zum Beispiel, da sind
sich viele einig. Und welche Siegerin hat
schon einen Vornamen, in demOro, italie-
nisch für Gold, schon drinsteckt?
Dorothea Wierer, 29 und aus Niederra-
sen bei Antholz, ist der Mittelpunkt, um
den sich das italienische Biathlon nun
dreht. Vermutlich werden ihre Karriere
und ihr Leben eine entscheidende Wen-
dung nehmen nach dieser WM, die schon
vergangenen Donnerstag mit einem Er-
folg angefangen hatte. Das war der zweite
Platz in der Mixed-Staffel, den schon viele
biathlonfremde Tifosi verfolgten, weil
sich Wierer und ihre Teamkollegin Lisa Vit-
tozzi zuvor in den Zeitungen beschimpft
hatten: Es ging um eine eigenmächtige
Staffelpause Wierers vor einem Jahr – Ego-
ismus, Betrug, Neid und Enttäuschung
waren die Eckpunkte des Streits. Nun aber
hatte die Mixed-Staffel alle vereint, neben-
bei erfuhren die Zuschauer, dass Biathlon
doch verdammt spannend sein kann. Und
Wierer war überregional erstmals nicht
mehr die Wierer, sondern die Doro.
Die Verwandlung hing nicht nur mit ih-
ren Erfolgen zusammen, sondern auch
mit ihrer Art. Wierer hat eine gewisse
Leichtigkeit, sie antwortet auf Fragen ger-
ne mit einem Gag, sie kann sich inszenie-
ren. Kurz vor Beginn ihrer zweiten großen
Pressekonferenz sagte sie erst mal gar
nichts. Das Publikum drängte sich, der
Moderator wollte die erste Frage stellen:
„Mrs. Wierer? Hallo?“ Aber Wierer steckte
in einem Gespräch mit irgendjemandem,
ganz versehentlich natürlich, oder viel-
leicht auch ein bisschen absichtlich.
Denn nun hatte sie ja eine großartige
Sache zu schildern, ihren ersten WM-Sieg
in Antholz. Sie hatte die Verfolgung gewon-
nen, auch dies ein Rennen, das jeder ver-
steht: 39 Sekunden Rückstand hatte Wie-
rer aus dem Sprintrennen, aber sie arbeite-
te sich vor, und als sie im letzten Schießen
die besten Nerven bewies, da war ihr Vor-
sprung nicht mehr aufzuholen. DieGazzet-
ta dello Sportschrieb am nächsten Tag:
„Wir entdecken einen neuen Sport, sehr
unterhaltsam, aber schwer zu praktizie-
ren.“ Und Premierminister Guiseppe Con-
te kündigte seinen Besuch in Antholz für
diesen Samstag an.
„D’Orothea“ (Corriere della Sera) selbst
wiederum lieferte weiter Stoff für Ge-
schichten. Sie ist erfolgreich, vereint aber
auch Gegensätze. Sie entstammt der bra-
ven Idylle Südtirols, hat vier Geschwister,
von denen drei Biathlon betrieben. Ande-
rerseits zog es sie in die Welt, sie war eine
der ersten italienischen Biathletinnen, die
WM-Medaillen errangen, schon 2011 wur-
de sie Juniorenweltmeisterin. Zudem war
Wierer war auch eine der Ersten, die sich
die Lider kräftiger nachzogen, die Brauen
stark konturierten und charmant lachten,
nicht nur bei Siegen wie am Sonntag, nach
dem es erst so richtig losging.
Am Dienstag folgte das lange und kom-
plizierte Einzelrennen, dessen Format ei-
ner der Gründe ist, weshalb Biathlon frü-
her kaum Beachtung fand. Dennoch schal-
teten nun beim öffentlichen Sender Rai-
Sport 535 000 Zuschauer ein, am Sonntag
zuvor waren es noch 350 000. Dazu kamen
die Zuschauer von Eurosport und des Regi-
onalprogramms, das jeden Abend sein
WM-Livestudio ausstrahlt – fürs Biathlon
in Italien ist das alles eine Revolution. Erst-
mals kann neuen Fans auch im Einzel live
erläutert werden, wer wann mit welchem
Vorsprung läuft und schießt. Und die meis-
ten haben wohl verstanden, was im letzten
Schießen passierte.
Da schoss La Wierer alle fünf Scheiben
nieder und begab sich nun auf die letzten
drei Kilometer, eine Schlussrunde, die
mehr als nur unterhaltsam war. Wierer jag-
te als letzte Aussichtsreiche die Bestzeit
der Schlierseerin Vanessa Hinz, gut zwei
Sekunden waren es nur, es wirkte nach je-
der Zwischenzeit, als griffe sie vergeblich
nach der Kapuze ihrer Gegnerin. Bessere
Werbung kann ein Sport nicht kriegen, die
Spannung steigerte sich bis zum Ziel,
schließlich sank Wierer in den Schnee –
sie war 2,2 Sekunden schneller. Es war ihr
zweiter Antholz-Sieg, womit sie von der
Gold-Königin zur Gold-Göttin aufstieg.
„Doro-Dea“ (Tuttosport) hatte auf den
letzten Metern eine respektable Energie-
leistung vollbracht, da lag sie und pumpte
und schnappte nach Luft, wie eine Sportle-
rin eben, die alles gegeben hatte. Aber als
sie den Puls beruhigt hatte, da sagte sie:
„Zunächst dachte ich, Silber ist auch in
Ordnung.“ Müde sei sie gewesen, der Ehr-
geiz für Gold habe sie erst später erwischt.
Das klang so, als hätte sie die Hand-
bremse leicht angezogen. DieGazzettahat-
te sie ja in eine Reihe gestellt mit Radprofi
Marco Pantani, Motorradsieger Valentino
Rossi und Schwimm-Olympiasiegerin Fe-
derica Pellegrini, und das kann einen vor-
sichtig machen. Bei aller Freude über den
Wirbel will sich Wierer offensichtlich
nicht verschlucken lassen von dieser riesi-
gen Umarmung der neuen Fans und des
italienischen Biathlons. Auch deshalb
lässt sie vorerst offen, ob sie bis Olympia in
Peking 2022 weitermacht, trotz der Aus-
sichten auf viel Geld und auf die Rolle der
Fackelträgerin.
Nach dem Rückschlag im Single-Mixed
bleiben ihr noch zwei Rennen, mit der Staf-
fel und im Massenstart. Hier könnte sie
wieder Gold gewinnen oder die Hochform
auch wieder verlieren. Im Biathlon geht es
auf und ab, eine Erfahrung, die das italieni-
sche Publikum noch nicht gemacht hat.
Premier Conte kommt jetzt übrigens
doch nicht nach Antholz, dafür Federico
d’Inca. Der ist Parlamentsminister.
Winterberg– Wegen Sicherheitsbeden-
ken verzichten alle deutschen Doppelsit-
zer auf ihre Teilnahme am Rodel-Welt-
cup am Wochenende im sauerländischen
Winterberg. Das gaben die Duos Toni Eg-
gert/Sascha Benecken, Tobias Wendl/To-
bias Arlt und Robin Geueke/David Gamm
in den sozialen Netzwerken bekannt.
„Aus unserer Sicht lässt der momentane
Eisausbau eine Fahrt im Doppelsitzer
nur mit einem weit über das Normalmaß
erhöhten Risiko zu“, schrieben Eggert
und Benecken, die vergangene Woche in
Sotschi zum dritten Mal in Serie Welt-
meister geworden waren. Stürze seien in
dem spiegelglatten Eiskanal vorprogram-
miert. Der deutsche Verband (BSD) erklär-
te, dass er die Entscheidung unterstütze.
Neben den deutschen Rodlern erklärten
sämtliche österreichische Rodler ihren
Startverzicht. „Die Bahn ist in unseren Au-
gen nicht weltcuptauglich“, sagte René
Friedl, der deutsche Cheftrainer des ös-
terreichischen Verbandes. Die Veranstal-
ter rätselten indes, warum sich die Bahn
in einem solchen Zustand befindet – und
verlegten die Starts nach unten. „Eine
komplette Absage des Weltcups stand
aber nie zur Debatte“, sagte eine Sprecher
des Weltverbandes (FIL). Das war zumin-
dest der Stand am Freitag. dpa
Rasnov– Skispringer Karl Geiger hat
den Weltcup in Rasnov für sich entschie-
den und seine hervorragenden Fähigkei-
ten auf den kleineren Normalschanzen er-
neut unter Beweis gestellt. Der 27 Jahre al-
te Allgäuer sprang am Freitag auf 100
und 100 Meter und gewann damit auch
den dritten von drei Wettbewerben in die-
sem Winter auf der Normalschanze –
gleichbedeutend mit seinem dritten Sai-
sonsieg. Hinter Geiger komplettierten
Teamkollege Stephan Leyhe (99 und 97,5
Meter) und der Österreicher Stefan Kraft
(98 und 97,5 Meter) das Podest. Es war
der erste deutsche Doppelerfolg seit De-
zember 2017, als Richard Freitag in Titi-
see-Neustadt vor Andreas Wellinger ge-
wann. Hinter Geiger und Leyhe platzier-
ten sich auch Pius Paschke (10.), Markus
Eisenbichler (11.) und Constantin Schmid
(15.) unter den besten 30. Severin Freund
verpasste bei seinem Comeback als 32.
knapp den zweiten Durchgang. Am Sams-
tag (12.45 Uhr/ARD) steht in Rumänien
ein weiteres Einzelspringen an. dpa
Herbert „Herb“ Brooks.
FOTO: AP
Im
Goldrausch
Neuer Sport, neue Diva: Dank Weltmeisterin
Dorothea Wierer interessiert sich Italien nun auch
für Biathlon – vielleicht ein bisschen zu plötzlich
Zu glatt
Deutsche Rodler verzichten auf Start
beim Heim-Weltcup in Winterberg
Geiger vor Leyhe
Doppelerfolg der deutschen
Skispringer auf der Normalschanze
Kein Wunder
Vor 40 Jahren schlägt ein College-Team auf dem Weg zu Olympiagold die sowjetische Eishockeyauswahl – bis heute eine der großen Sportsensationen. Aber nicht für US-Coach Herb Brooks
Auf einmal steht sie
in einer Reihe mit
Pantani, Rossi und Pellegrini
In neun von zehn Fällen würde
man der UdSSR unterliegen,
sagte Brooks: „Aber nicht heute“
DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 HF2 SPORT 39
Dritte Medaille, zweites Gold: Dorothea Wierer mit der Trophäe für den Einzelsieg. FOTO: ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY
„Glauben Sie an Wunder?“ Die Eishockeyspieler der USA bejubeln ihren sensatio-
nellen 4:3-Erfolg gegen die UdSSR bei den Winterspielen 1980. FOTO: AP