Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1
interview: egbert tholl

B


eide waren in Leipzig, am
Schauspielhaus Zürich und am
Münchner Residenztheater en-
gagiert; seit Beginn dieser Sai-
son sind sie nun im Ensemble
von Andreas Beck wieder vereint. Für Caro-
lin Conrad ist es eine Rückkehr – von Zü-
rich wechselte sie 2011 für ein Jahr ans Re-
sidenztheater, dann kehrte sie für sieben
weitere Jahre nach Zürich zurück. Für
Aurel Manthei ist es die Fortsetzung sei-
nes Engagements in München, das 2012
begann. Nun spielen sie Medea und Jason
in der „Medea“-Premiere am Sonntag
(18.30 Uhr), Regie führt Karin Henkel. Seit
der Leipziger Zeit sind Conrad und Mant-
hei auch privat ein verheiratetes Paar.


SZ: Frau Conrad, Herr Manthei, wir ma-
chen jetzt eher so einBunte-Interview.
Carolin Conrad: Da habe ich nicht viel bei-
zutragen. Wenn es darum gehen soll, was
ich anziehen werde. Tut mit leid.
Nein, anders: Haben Sie sich schon wäh-
rend der Schauspielschule in Essen ken-
nengelernt?
Aurel Manthei:Ja
Conrad: Also, wie sagt man das jetzt?
Auf jeden Fall war es so: Zusammengekom-
men sind wir erst in Leipzig. Wir waren an
der Schauspielschule, ich war vor Aurel
schon da, obwohl ich jünger bin.
Manthei: Männer brauchen immer län-
ger, Zivi und so und sitzenbleiben.
Und Spätentwickler.
Manthei: Das sowieso.
Conrad: Wir waren aber Freunde, da-
mals schon.
Manthei: Ich war schon verschossen, ha-
be mich aber nicht getraut, es zu sagen.
Sie wirken auf der Bühne ja auch ganz be-
sonders schüchtern.
Manthei: Ja genau.
Conrad: Du hattest doch auch eine
Freundin.
Manthei: Das ist doch kein Grund. Ein
Hindernis vielleicht. In Leipzig war es
dann so, ich weiß es noch ganz genau: Ich
lief mit Eimer und Malerklamotten über
die Straße, weil ich in Leipzig die Woh-
nung gewechselt habe und die alte malern
musste. Da rief Carolin an. Sie komme
nach Leipzig zum Vorsprechen. Da war ich
ganz aufgeregt und habe gleich dem dama-
ligen Intendanten, Wolfgang Engel, ge-
sagt, du, da kommt eine ganz tolle Schau-
spielerin, die musst du engagieren. Dann
haben wir zusammen gespielt.
Conrad: Ja wenn du das gesagt
hast... Ging alles jedenfalls nach Plan. Dei-
nem Plan.
Manthei: Ja genau. Ich musste natürlich
noch die aktuelle Freundin entsorgen.
Conrad: Das stimmt. Das war eine gar
nicht so unmühsame Zeit.
Es gibt in Ihrer gemeinsamen Künstler-
biografie den einen lustigen Moment,
dass Sie, Frau Conrad, nach München gin-
gen, und kaum kam Ihr Mann ein Jahr
später nach, gingen Sie wieder zurück
nach Zürich. Warum?
Conrad: Das war gar nicht so dramatisch.
Ich bin aus Zürich weggegangen, weil das
Angebot aus München kam und ich ohne-
hin das Gefühl hatte, früher oder später ge-
hen wir wieder weg aus der Schweiz, viel-
leicht wenn die Kinder eingeschult wer-
den. Da dachte ich, das passt ganz gut, mei-
ne Eltern leben hier. Aber eigentlich war in
Zürich alles super, ich hatte tolle Möglich-
keiten zu spielen. In München merkte ich


dann, dass die zwar alle supernett zu mir
sind, ich aber eigentlich so ein bisschen un-
ter ferner liefen laufe. Das ist ja völlig in
Ordnung, aber ich merkte, dass ich da in
Zürich etwas aufgegeben hatte, gerade et-
wa die Beziehung zu Karin Henkel. Die
und Martin Kušej – da war klar, dass die
nie hier arbeiten wird. Da hatte ich das Ge-
fühl, es stimmt nicht. Ich habe in Zürich et-
was nicht fertig gemacht, und der Ersatz
in München ist es nicht. Um meinen Platz
zu kämpfen, ist überhaupt nicht mein We-
sen. Hier waren einfach Schauspielerin-
nen in meinem Alter mit einer anderen
Raumverdrängung. Ich antworte viel zu
lang, nicht wahr, und es war ja auch ein
bisschen blöd wegen Aurel.
Manthei: Ich bin alt geworden in der
Zeit.
Conrad: Aber dann der ganze Umzug
nach München war dann schon sehr gut.
Manthei: Da muss ich schon auch mal
sagen, du bist als Fremder in der Schweiz
nicht willkommen. Ich war totaler Schweiz-
Fan, habe mich darauf gefreut, und dann
war ich echt ganz schön konsterniert. In
Zürich kriegst du an jeder Ecke aufs Brot
geschmiert, dass du besser wieder gehen
sollst.
Als Bayer hat man es da viel leichter. Sie
sind halt norddeutsch sozialisiert.
Manthei: Echt? Merken die das?
Bergvölker untereinander...
Conrad: Aber wir hatten schon viele nette
Menschen dort.
Manthei: Ja gut, ich habe ein bisschen
übertrieben. Aber auf jeden Fall war das ei-
ne Sache, die es mir leicht machte, nach
München zu gehen. Auch wenn es nicht
meine erste Wahl war. Mich zieht’s eigent-
lich nach Hamburg, jetzt bin ich hier so ein
bisschen gestrandet.
Wie ist es eigentlich, im selben Ensemble
zu sein? Redet man dann nur noch übers
Theater?
Conrad: Neulich haben wir darüber gespro-
chen. Gut, dich interessiert das ohnehin
nicht so besonders, aber natürlich reden
wir darüber. Wenn wir beide gerade nichts
zu tun haben, redet man vielleicht nicht


darüber. Aber wenn wir beide in einer Ar-
beit stecken, bestimmt das einfach so viel.
Was soll ich denn sonst erzählen?
Manthei: Auf jeden Fall. Weil es halt Be-
ruf ist, ist es auch Gesprächsthema.
Conrad: Manchmal muss man da schon
ein bisschen aufpassen, gerade wenn es
mal nicht so positiv ist. Irgendwann hat
man ja genug geschimpft. Aber es gibt
schon noch andere Sachen zu besprechen.
Und das Im-selben-Ensemble-sein: Wir
waren das ja immer, von Leipzig an. Das
war ein sehr glücklicher Umstand. Dabei
kenne ich Kollegen, bei denen das die Be-
ziehung gekostet hat. Aber eines will ich
schon sagen, wenn wir jetzt schon so ein
Bunte-Gespräch führen: Zusammen zur
Arbeit gehen, wenn man morgens alles zu
Hause erledigt hat, dann ins Auto zu stei-
gen und zusammen zur Probebühne zu
fahren, ey, das fand ich so unsexy.
Dann können Sie ja auf dem Weg zur Pro-
bebühne noch ein bisschen Text üben.
Manthei: Haben wir auch schon. Aber das
ist tatsächlich unsexy. Wir haben uns ja in
den vergangenen Jahren daran gewöhnt,
einen komplett anderen Tagesablauf zu ha-
ben. Du allein in Zürich, ich mit drei Kin-
dern und Arbeit allein in München! Jetzt
miteinander die gleichen Wege und die
gleichen Zeiten zu haben, ist irgendwie
seltsam. Ich finde es immer cooler, wenn
man unterschiedliche Dinge hat und sich
dadurch viel mehr zu erzählen hat. Aber

jetzt sind wir in der nächsten Arbeit hier
am Residenztheater auch gleich wieder zu-
sammen. Das ist schon okay, ich spiele
auch gern mit Carolin, weil wir, finde ich,
die selbe Spielweise haben.
Standen Sie vor „Medea“ oft gemeinsam
auf der Bühne?
Conrad: Überraschend wenig.
Manthei: „Viel Lärm um Nichts“ in Zü-
rich.
Conrad: Aber erst einmal in „Troilus
und Cressida“. Da war Love.
Manthei: Genau. Das war in Leipzig. Ich
war Troilus, Carolin war Cressida, und
dann kamen wir auch zusammen. Und ha-
ben uns auch relativ schnell fortgepflanzt.
Nägel mit Köpfen gemacht, Kind, Heirat.
Conrad: Und mit Karin Henkel haben
wir davor schon zusammen in „Miss Sara
Sampson“ gespielt. Aber es ist jetzt nicht
so, dass wir zusammen alle großen Paare
gespielt haben. Das habe ich die vergange-
nen Jahre wirklich vermisst: Dass wir gar
nicht mehr zusammen gespielt haben. Ich
finde das schon super, wenn man mit je-
manden spielt, den man so gut kennt, dass
man sich dieses ganze Kennenlernding
schenken kann. Da muss man nicht fra-
gen, darf ich das, hab’ ich zu dolle ange-
fasst? Ich habe auch nicht das Problem:
Ich mag zwar meinen Mann, aber als
Schauspieler finde ich ihn scheiße.
Manthei: Du musst gerade stehen.
Brust raus und die Schulter zurück.
Conrad: Vielleicht finde ich dich doch
manchmal scheiße. Sehr selten.
Manthei: Ich würde gerne mal wieder et-
was Lustiges spielen, Tür auf, Tür zu, so
richtig albern. Muss natürlich gut gearbei-
tet sein. Wir schenken uns ja in „Medea“
nichts. Das sind ja Hasstiraden. Nach so ei-
ner Probe bist du wirklich platt.
Sie spielen jetzt zwei Menschen in kras-
sen Zuständen, sie hasst ihn, bringt dann
seine Kinder und seine avisierte Braut
um, er, na ja, weiß man nicht so recht, je-
denfalls will er weg von ihr, hat die
Schnauze voll. Färbt da nichts ab? Kocht
man dann nach der Probe zusammen
Abendessen, als wäre nichts gewesen?
Manthei: Ja. Davon bleibt nichts hän-
gen. Das wäre ja auch schlimm.
Conrad: Ich glaube, das könnte schon
einmal passieren, aber wenn, dann bei ei-
nem anderen Stoff. Denn „Medea“ ist da-
zu zu groß. Ich habe „Wer hat Angst vor Vir-
ginia Woolf“ nie gespielt, aber ich könnte
mir vorstellen, dass da so etwas passieren
könnte, durch den richtigen Dialog. Bei
„Medea“ redet der eine sehr viel, dann re-
det der nächste sehr viel. Während wir spie-
len, finde ich es manchmal anstrengend,
wenn man sich anguckt, und da sieht man
so einen Hassblick. Genauso würdet du
mich angucken, wenn du mich privat so
hassen würdest.
Manthei: Das ist natürlich anstrengend.
Conrad: Aber das, was wir uns hier auf
der Bühne vorwerfen müssen, hat mit mir
so wenig zu tun.

Manthei: Wenn ich nach einer Probe
schlecht gelaunt bin, weil es so anstren-
gend war, und ich mich dementsprechend
zu Hause benehme, weil ich etwas von
dem Kampf mit mir trage, dann ist das nie
persönlich. Nicht, weil du als Medea mir so
verhasst bist.
Tragen Sie die Diskussion, worum es in
der Probenarbeit, im konkreten Stück
geht, mit nach Hause?
Manthei: Ja doch. Weil gerade bei diesem
Stück gibt es so viele Scheidepunkte, an de-
nen alles hätte ganz anders laufen können.
Vieles wird ja nicht wirklich geklärt, son-
dern einfach hingestellt. Natürlich be-
spricht man so Sachen wie: Warum verrät
er sie in diesem Moment für die andere,
sind die schon entzweit nach acht Jahren
Irrfahrt und Verfolgung, ist da schon Feier-
abend? Das bespricht man.
Conrad: Auch wenn das Stück einen In-
halt hat, von dessen Logik sich zu entfer-
nen schwer ist, egal welchen Ansatz man
hat, stößt man immer wieder auf Punkte,
über die man reden muss. Wie kann man
denn hier noch über die Liebe erzählen?
Meiner Meinung nach nur über das Aus-
maß der Verletztheit. Aber wie spielt man
denn das? Das sind so Punkte, über die wir
sprechen können.

Manthei: Es ist ja ein einziger Vorwurf,
der versucht wird, mit rhetorischen Mit-
teln, gepaart mit absolutem Hass...
Conrad: Wieso hält’s du dir denn deine
Hand vor den Mund? Du musst doch so
deutlich sprechen, dass der kleine Kasset-
tenrekorder das aufnehmen kann. Bist du
Schauspieler oder was?
Manthei: Wo war ich denn gerade? Was
ich die ganze Zeit ja schon mit mir rumtra-
ge: Bei all den Rechtfertigungen, die es
hier gibt, redet keiner davon, dass mein Va-
ter – also Jasons Vater – umgebracht und
mir der Thron weggenommen wurde. Den
krieg ich nur wieder, wenn ich dieses ver-
kackte Goldene Vlies hole. Das taucht nie
wieder auf, dass da die Ungerechtigkeit an-
gefangen hat. Das ist einfach abgehakt.
Und auf einmal stehe ich da und bin der
Übeltäter schlechthin, weil ich Verrat ge-
übt habe an der Frau. Und mit ihr zusam-
men den Onkel getötet habe, der eigent-
lich schuld an allem ist, weil er meinen Va-
ter getötet hat. Das ist so gesetzt, aber das
spielt ja eine Rolle, wenn du versuchst, ei-
ne Rolle zu verstehen, Texte vorzuberei-
ten. Aber, das muss ich schon klar sagen:
Die Vorgeschichte kann auch den Verrat
nicht schön reden. Dass ist wie Bonnie und
Clyde, wenn einer zum FBI geht und sagt,

wenn ich straffrei ausgehe, dann kriegt ihr
die – das ist der größte Verrat. Das weiß er
auch, das finde ich mit das Krasseste.
Medea und Jason als Bonnie und Clyde ist
eigentlich eine schöne Idee.
Manthei: Ja, das ist ja ein Synonym für to-
tal zusammengeschweißtes Treiben. Die
Vorstellung, dass einer den anderen an die
Schmiere ausliefern würde, ist ja unvor-
stellbar. Tatsächlich finde ich den Verrat
von Jason an Medea so unvorstellbar.
Conrad: Es ist ja sowieso die Frage, was
erzählen wir überhaupt jenseits von dem,
was konkret geschieht. Wir hatten viele Ge-
spräche darüber, auch darüber, ob man
den Mord an den Kindern plausibel ma-
chen sollte. Wir stranden ja da in Korinth,
können nirgendwo mehr hin – ich vermei-
de das Wort, aber es ist halt dennoch eine
Flüchtlingsgeschichte –, wir sind in der
Schuld der Taten, die wir zusammen be-
gangen haben. Und dieser Akt, die Kinder
zu töten, ist auch eine Art, die Chose weiter-
zudenken. Das ist auch das, was Christa
Wolff gesagt hat: Wenn die ihre Kinder
nicht umgebracht hätte, würde sie keiner
mehr kennen. Abgesehen davon hat sie ur-
sprünglich ihre Kinder ja gar nicht umge-
bracht, Euripides hat das umgeschrieben.
Also du bist das Ungeheuer, du bist aber
nur vorhanden im Bewusstsein der Men-
schen, weil du die Kinder umgebracht
hast. Damit überlebst du 2500 Jahre.
Manthei: Wenn ich da steh’ auf der Sei-
tenbühne und sehe dich mit dem Messer
in der Hand und neben dir steht ein Kind,
dann reicht mir das schon.
Ist nicht Jasons Plan, mit der Heirat der
Prinzessin von Korinth ein Bleiberecht
für die Kinder und Medea zu erreichen?
Manthei: Aber das kommt nicht an. Wird
nicht geglaubt. Der Verrat wiegt schwerer
als der Plan, wart mal ab, ob ich mit der
Neuen Kinder zeuge, denn dann sind unse-
re nämlich hier die Checker, die das mal
übernehmen. Da hat Jason keine Chance.
Conrad: Bei uns spielt ein Mädchenchor
mit, und ich finde es hochspannend zu be-
obachten, wie diese Mädchen sich einer-
seits mitreißen lassen und andererseits
das Machtgefüge durchdenken.
Wieso wird die Premiere eigentlich um
zwei Tage verschoben?
Manthei: Dinge brauchen die Zeit, die sie
brauchen. Blöd ist, dass ich für Samstag
Derby-Karten hatte, HSV gegen St.Pauli
(lacht). Na ja, so ist es halt.
Und was erzählen Sie Ihren Kindern von
dem, was Sie da gerade probieren?
Conrad: Eine unserer Töchter ist ja im
Mädchenchor und spielt mit. Die Kinder
nehmen die Märchenhaftigkeit so an und
sind dabei sehr interessiert.
Manthei: Wenn du dich als Papa verklei-
dest, aus dem Nichts heraus Emotionen
wechselst, das ist eine Entfremdung vom
Vertrauten, auf die sie nicht stehen. Wenn
ich zuhause vorlese und ich wage es, die
Stimme zu verstellen, kommt sofort: Lies
das doch normal.

Grenzzustände der Liebe


Carolin Conrad und Aurel Manthei spielen in Euripides’ „Medea“ am Residenztheater


die Titelfigur und Jason. Privat sind sie auch ein Paar, aber ein glückliches


„Wenn ich dich mit dem
Messer in der Hand sehe und
neben dir steht ein Kind,
dann reicht mir das schon.“

„Zusammen zur Arbeit gehen,
wenn man morgens
alles zu Hause erledigt hat,
ey, das fand ich so unsexy.“

Aus dem Medea-Mythos modellierte
Euripides eine moderne und hochkom-
plexe Figur heraus. Medea ist die Frau,
die ihre eigenen Kinder tötet, weil de-
ren Vater Jason sie verlassen will. Sie
kappt dessen Fortpflanzungslinie,
aber das ist nicht die ganze Wahrheit.
Zu dem Zeitpunkt, an dem das Drama
einsetzt, hat sich Jason bereits von Me-
dea abgewandt, will die Tochter
Kreons, des Königs von Korinth heira-
ten, wo Medea, Jason und die Kinder
Asyl gefunden haben. Zuvor hatte Me-
dea Jason geholfen, das wundertätige
Goldene Vlies aus dem Besitz des Kö-
nigs von Kolchis zu rauben; Jason woll-
te damit den ihm zustehenden Thron
von seinem Onkel Pelias erlangen.
Beim Raub des Vlies’ tötete Medea ih-
ren Bruder, das Paar floh und landete
in Korinth. Jasons Abkehr von ihr, wo-
mit Euripides beginnt, ist für sie der
Verrat an ihr, die für ihn alles aufgege-
ben hat. Für Jason ist es der Versuch –
ob ernst gemeint oder nicht – im korin-
thischen Exil eine neue Existenz aufzu-
bauen. Am Ende sind die Kinder tot, ist
Kreon tot und auch dessen Tochter.
Medea entflieht mit göttlicher Hilfe
(Euripides) und bringt das Vlies nach
Delphi (Grillparzer). ETHO

München– Zwei aufregende Debüts, ei-
nes davon war gesetzt. Nicht geplant war,
dass beim Konzert des Symphonieorches-
ters des Bayerischen Rundfunks der
24 Jahre alte finnische Dirigent Klaus
Mäkelä einspringt, weil Mikko Franck er-
krankte. Geplant war allerdings das De-
büt der 1993 in Apulien geborenen Pianis-
tin Beatrice Rana beim BRSO. Sie konnte
auch das spielen, wofür sie engagiert wor-
den war, das dritte Klavierkonzert von
Sergej Prokofjew. Doch zu Beginn gab es
leider nicht „Apotheosis“ von Einojuhani
Rautavaara, sondern Zoltán Kodálys
„Tänze aus Galánta“.
Mäkelä trägt nicht Frack, sondern ei-
nen dunklen Zweireiher. Ein sanfter
Bruch mit der Tradition, den andere jün-
gere Dirigenten auch schon mal mit viel
unkonventionellerer Kleidung vollzie-
hen. Aber Mäkelä wirkt auch gar nicht
wie ein Revoluzzer. Er ist einerseits
streng, bewegt sich mit Akkuratesse, ver-
mittelt aber auch eine große Freude am
Musikantischen. Da ist viel Potenzial, al-
lein es fehlt ihm noch ein wenig Freiheit.
Aber das kann ja noch kommen. Bei Ko-
dálys Tänzen jedenfalls kann er herrlich
im strahlenden Klang der Streicher
schwelgen, verliert dabei ein bisschen
das Gefühl für Klarheit, aber die vielen
lustigen, mit Volksmusiken unterfütter-
ten Bläsermomente, die rauschhafte Pol-
ka am Ende, wo die Trompete aufspielt
wie in der Russendisko – das alles macht
sehr unmittelbar Freude. Dass im zwei-
ten Teil des Konzerts die fünfte Sympho-
nie von Sibelius nur dort überzeugt, wo
die Musik radikal Effekt macht, dass Mä-
kelä auch nicht viel einfällt, wenn es Sibe-
lius an Ideen mangelt, dass der Kitsch
manchmal klebt wie dunkles finnisches
Baumharz, das sei dem jungen Dirigen-
ten verziehen. Er liebt das Stück, klopft
zärtlich zum Applaus auf die Partitur. Lie-
be ist nun einmal wenig analytisch.
Beatrice Rana, eine zutiefst sympathi-
sche, völlig allürenfreie Erscheinung in ei-
nem glitzernden Nachtnymphenkleid,
geht da unabdingbarer ans Werk. Ihr An-
schlag ist fabelhaft konkret und doch vol-
ler Klang, wuchtig, kräftig, frei von je-
dem Pathos. Sie spielt Prokofjew wie mit
der Axt, sinnbildlich, der Flügel ist noch
heil. Wer das Mechanische dieser Musik
liebt, das ja zweifelsohne vorhanden ist,
der hat hier seine helle Freude. Poesie
gibt es im Kern erst in den Zugaben, da-
vor nur in Verschnaufmomenten. Das
macht gar nichts, Rana ist ein Erlebnis.
Sie spürt das Orchester um sich herum,
hat Geschmack, fabelhaften Instinkt.
Und wachen Geist. egbert tholl

Inhalt


München –Falls es sich noch nicht her-
umgesprochen hat:Deichkind-Konzerte
sind keine Konzerte. Deichkind-Konzer-
te sind Punkballett, Modenschau und Vi-
deokunst, sind Tanzparty, Faschingssau-
se und Bierfest, Hip-Hop-Retro, Aerobic-
Trash und Parolenkaraoke, Polit-Perfor-
mance, Gehirnwäsche und Proll-Disco.
Sie sind der Rausch für Jung und Alt, das
LSD ohne Risiko. Bei der jüngsten Ausga-
be der Deichkind-Festspiele im ausver-
kauften Zenith wird all das aufs Unter-
haltsamste deutlich. Das Hamburger Kre-
ativ-Kollektiv bleibt aufregend, nach
mehr als 20 Jahren Bandgeschichte und
so manchen Dellen der Wiederholung.
Der popkulturelle Wahnsinn zum ge-
lobten Album „Wer sagt denn das?“ be-
ginnt mit dem nackten Lars Eidinger im
Eröffnungsvideo und endet mehr als
zwei Stunden später mit der verpflichten-
den Schlauchboottour über die Köpfe der
Fans hinweg. Das Dazwischen lässt sich
nur schwer in Worte fassen. Zu überbor-
dend haben die Wortführer Philipp Grüte-
ring und Sebastian Dürre, der Münchner
Tour-Mitrapper Roger Rekless und DJ
Henning Besser die Show konzipiert. Ei-
ne Live-Band gibt es nicht, zur akustisch
gut ausbalancierten Elektro-Musik agie-
ren die Protagonisten in Begleitung von
Tänzern. Mal stolzieren sie komplett in
Weiß wie Laufsteg-Models oder verirrte
Ballett-Parodisten, mal tragen sie LED-
Pyramiden über den Köpfen. Außerdem
dabei: eigenartige Sockenmonster, Tram-
polin-Frauen beim Synchronspringen,
Riesenschädel, die rot leuchten. Und bei
„Roll das Fass rein“, nun ja, da rollt dann
halt das Fass rein: In einem kunterbun-
ten Rundvehikel fährt die Gruppe durch
die Menge, dabei schwenkt sie eine Fah-
ne mit dem Slogan: „Kein Bier für Nazis“.
Die Songauswahl gleicht einer Zeitrei-
se durch die Bandgeschichte, von alten
Hip-Hop-Nummern wie „Bon Voyage“
und „Limit“ über mitteljunge Hits wie
„Bück dich hoch“ und „Leider geil“ bis zu
jungen Tracks wie „Richtig gutes Zeug“
und „Knallbonbon“. Über den phänome-
nalen Wandel von der Rap-Gang, die
2002 im Atomic Café ihr Publikum zu
„Fight The Power!“-Rufen motiviert hat,
zu den fidelen Elektro-Trash-Punkern
und weiter zur Avantgarde-Pop-Macht
ist viel geschrieben worden. Live offen-
bart sich das Kunststück, von Kindern
über Partyfreunde bis Musik-Nerds diver-
se Gruppen und Schichten zu erreichen:
Das Publikum ist so gemischt wie im
Wiesnzelt. Die Sinnsuche im Nutzlosen,
nirgendwo läuft sie so auf Hochtouren
wie hier. bernhard blöchl

KURZKRITIK


Wenn die Liebe aus ist, bleiben Hass und Verzweiflung: Aurel Manthei als Jason und Carolin Conrad als Medea. FOTO: SANDRA THEN

Axt und Anmut
Klaus Mäkelä und Beatrice Rana
beim BR-Symphonieorchester

Punkballett


Die Avantgarde-Pop-Macht
„Deichkind“ im Zenith

DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 KULTUR R17

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