SEITE R8·DONNERSTAG, 5.MÄRZ 2020·NR. 55 Reiseblatt FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
S
prechen Sie mir nach: „Min-
tschunkunséis sún/tschant
almúond sa tschanzún.“Was
mystischraunend wie ein
Zauberspruchklingt, istein
Teil der Teile, aus denen die
vierte Landessprache der Schweiz be-
steht:Rätoromanisch.IhrKlang istsoein-
malig und trotzVerwandtschaftmit dem
Italienischen,Französischen oder Spani-
schen so außergewöhnlich, dasserselbst
in der Schweiz nicht immerrichtig zuge-
ordne twird. Es istschon vorgekommen,
dasszweijungeFrauen, die sichimZug
so unterhalten haben, belehrtwurden, in
der SchweizgefälligstSchweizerischzu
sprechen.Aber urschweizerischer alsRä-
toromanisch, dasgeht garnicht .Denn die
Rätersiedeltennochvor denRömernund
Germanen in den sonnigen Alpentälern,
in denen heuteRätoromanischgespro-
chen wird. Hierbei handelt es sichjedoch
nicht um eine einzigeSprache, sondern
um einen Kreisverschiedener Idiome, die
wohl einigesprachlicheÜberschneidun-
genaufweisen, aber zugleichauf ihr eEi-
genständigkeit bestehen. Innerhalb nur
weniger Kilometerkann es sogroße Un-
terschiede geben, dassdie Sprachvarietä-
tenunterschiedlicheNamen tragen. Im
Engadin heißen sie Putér undValláder.
Im benachbartenMünstertal hingegen
spricht man Jáuer–„jau“ istdas Wort,
mit dem man hier „ich“ sagt.Und natür-
lichsagt man auchnicht Münstertal, son-
dernVal Müstair (Wall Müsch-táir).
Über etwa zwanzig Kilometer zieht es
sichvom Ofenpasszur Staatsgrenze hin
und verbindeteine Region mit Schweizer
Staatsbürgern,die Rätoromanisch spre-
chen, mit einerRegion mit italienischen
Staatsbürgern,dieDeutschsprechen:Süd-
tirol. So besteht zwischen Müstairern
(oder Münstertalern) und Südtirolern
eine eigentümlicheVerquickung: Beide
fühlen sichwegen ihrerRandständigkeit
zuweilen als Exoten –die Münstertaler
werdenin ihremHeimatkantonGraubün-
den ihrerVielsprachigkeitwegenhäufig
garals „Südtiroler“ belächelt, denn nach
ihrer räto romanischen Muttersprache
sprechen siegleichermaßen Schweizer-
deutschwie den Südtiroler Dialekt.Diese
Nähe zum östlichenNachbarnist auch
der Geographie geschuldet: Währendalle
anderenWege aus demValMüstair hin-
aus über schneebedeckteBergpässe füh-
ren, is tdie Straße nachSüdtirol eineFort-
setzung desgelassenenAbwärtsgleitens,
das im 1660 Meterhochgelegenen
Tschierv(Tschjärf) begonnen hat.Wer
mitdemFahrradunter wegs ist, kann qua-
si vomWinterzauber am Ofenpassdirekt
in den Meraner Blumenfrühlingrollen.
Oftwirddas ValMüstairalsDurchzugs-
tallinksliegengelassen–inwenigeralsei-
ner halbenStunde hat man es mit dem
Auto durchquert. Dabeigäbe es viele
Gründe, sichZeit zu nehmen. Der erste
Grund istdie Zeit selbst: Sie läufthier an-
ders–buchs täblich. ImValMüstairhaben
die Stunden ein anderes Gewicht, und die
Jahr eschreiten ineinemleichtverschobe-
nen Takt voran. Neujahr wirdhier wie im
Engadin nachdem julianischenKalender
gefeiert, nämlichanden Kalenden des
März: Chalandamarz(Tschalánda-márz).
Die Wurzeln dieses Brauchtumsverlieren
sichimDunkel der Geschichte; esreiht
sichwohl in dieFruchtbarkeits- undFast-
nachtsbräuche des Alpenraums ein. Der
- Märzwar traditionell zugleichder Tag,
an dem wichtigeÄmter neu besetzt wur-
den. Obwohl die politischeKomponente
in den Hintergrund gerückt ist, blieb die
Bedeutung des Chalandamarzals Höhe-
undWendepunkt des Jahres erhalten.Vor
allem Kinderund Jugendliche freuen sich
auf diesenTag, bei dem sie die unange-
fochtenen Protagonistensind.
Indi esem Jahrfreilichmusstensie erst-
mals aufden feierlichenUmzug verzich-
ten: Imganzen Kanton wurdenwegen
des Coronavirus Großereignisse abge-
sagt.Zwardurfteder „Ballín“stattfin-
den, dertraditionelle BallamAbend, bei
dem dieKleinenden Großen nacheifern.
In diesem Jahrdrehtesichhierbei alles
um das Thema der digitalen Apps,durch
die sichdie Münstertaler Kids mi tder
ganzen Welt verbinden.Die Enttäu-
schungwardennoch groß:wochenlange
Vorbereitungen –umsonst. Zumindest
vorerst.
Die Vorbereitungen beginnenschon
Wochen zuvor.Vom 1.Februar ankann
man imTaldas Knallen derPeitschen hö-
ren: Die sogenannten „Sennen“ üben ih-
renAuftrit t.Das Goaßl-oderAperschnal-
zen is timAlpenraumweit verbreit et und
gehörtzuden vorchristlichen Bräuchen
rund um die Jahreswende. Es wird mit
dem Austreiben derWinterdämonen in
Verbindunggebracht.ImVal Müstair füh-
rendie Sennen ihre„Herde“ an, die nach
dem hartenWinter demFrühling entge-
gendrängt:Kinder und Jugendliche mit
unterschiedlichen Schellen und Glocken.
DiekleinenBubentragendiehel lklingen-
den „talács“ derKälber,die Mädchen die
etwa sgrößeren „brunzínas“ derFärsen,
die Knaben schwingen diegroßen „zam-
púogns“ derStiere, und die kräftigsten
Burschen haben die bis zu fünfzehn Kilo
schweren „plúmpas“ derKühe um den
Bauchgebunden.Daist es kein Wunder,
dassviele vonihnen bis zumAbend blaue
Flecke an den Beinen haben.
Danebenwerden traditionelle Lieder
gesungen:vomSieg über denWinter und
dem nahendenFrühling, der schon den
Schnee an denWiesenrändernschmelzen
lässt. Zuletzt rezitierendieKinderein Ge-
dicht, in dem dasvergangene Jahr aufs
Korn genommen wird.Verfasst hat es
auchindiesem Jahr ChasperStuppan
(Tscháschper Schtuppáun), Primarlehrer
und einer der engagiertenHüter des
Brauchtums. In neunStrophen schildert
er,wasdas Tal2019bewegthat:diestrate-
gischeAusrichtung der Biosferaetwa, des
erstenhochalpinenUnescobiosphärenre-
servats der Schweiz, alswelches dasVal
Müstair seit 2017 zertifiziertist.Damit
verknüpftist dasBekenntniszueinem na-
tur-und kulturnahenTourismus, der auf
Entschleunigung und Nach haltigkeit
setzt, Begriff e, diehier keineswegs nur
Lippenbekenntnisse sind. Naheliegend:
In den Bergenrund um dasValMüstair
liegen der einzigeSchweizerischeNatio-
nalparksowieaufderitalienischenSeite
derNationalparkStilfser Joch.Kein Wun-
der,dasssichauchauf denfast zweihun-
dertQuadratkilometern des ValMüstairs
eine Vielzahl an ansonstenschweranzu-
tref fendenAlpenbewohner ntummelt:Or-
chideen und Skorpione, „Berghexen“
(eine selteneFelsenfalter-Art), aber auch
Bartgeier,Steinböcke,Gämsen, sogar
Braunbären und der eine oder andere
Wolf.Biosfera-Gebietzusein bedeutet un-
teranderem, dassdie Langläufer,Skifah-
rer, Skitourengeher oder Schneeschuh-
wanderer aufRouten gelenkt werden, die
aufSchutzzonenRücksicht nehmen.Win-
tersportler finden hier also einerseits
traumhafte Bedingungen–vor allem eine
hohe Schneesicherheit.Andererseits be-
stimmtdie Natur.Vor wenigen Jahren
wurdeetwa der Rombachrenaturiert:
Das kerzengerade Flussbett wurde aufge-
löst, derRom, der in SüdtirolRambach
heißt unddortbald Stromerzeugenmuss,
darfimVal M üstair wieder mäandern.
Leiser.Sanfter. Langsamer.Oder,mit ei-
nem Wort,welches dasValMüstair auf
denPunktbringt:pachific(patschífig).Es
istdas SchweizerPendant zum dänischen
Hygg eund bezeichneteine Gemütlich-
keit jenseitsvonStres sund Hektik.
Diese gemächliche Art, die viele Müns-
tertaler verinnerlicht haben,verleiht ih-
nenzuweilendenAnscheinvonRückstän-
digkeit–dochdas trügt.Die Fähigkeit,
nicht jedenTrend mitzumachen, sichab-
wartend zuverhalten, Althergebrachtes
zu be wahren und anFertigkeitenfestzu-
halten,erweistsichalsweitsichtigeStrate-
gie. Es mag sichmancher Besucher wie in
einem aus derZeit gefallenenMärchen-
ortfühlen,wenn er die bemalten Häuser
mit ihren Sonnenrädernund Nixen, ihren
archaischen Ornamenten undgeheimnis-
vollen Inschriftensieht.InSantaMaria
kann man den Handweberinnender Tes-
sanda beimAusüben ihres uralten Hand-
werksüber die Schulter schauen,wenige
Schrittedavonentferntsteht mit der Cha-
sa Capol einveritables Ritterhaus, in dem
schon Kaiser Maximilian weilte. Im
Hauptort Müstair gilt Karl der Große als
Stifterdes Unesco-Welterbe-Klosters Son
Jon (Sankt Johann) mit seinenfarbsprü-
hendenFresken und der ältestenMonu-
mentalstatue des fränkischenKaisers.
Dochstehengeblieben istdie Zeit kei-
neswegs: Sie istbehutsamvorangeschrit-
ten, ohne die Brückenindie Vergangen-
heit abzureißen. Besondersdeutlichsieht
man das etwa am HotelChalavaina
(Tschalawáina) in Müstair:Die getäfelte
Stube mit demflaschengrünenKachel-
ofen, die urigeRußküche, das wuchtige
Gebälkwurdensanftin dieModerneüber-
führt, wobei der ursprüngliche Charakter
desBaudenkmals erhalten blieb.Wersich
hierandenTischsetzt,blättertnichtinei-
nerreichen Menükarte –zur Auswahl ste-
hen kaum eine Handvoll je nachJahres-
zeitvariierenderTagesgerichtedereinhei-
mischenKüche,miteinfachen,aberhoch-
wertigen Zutatenzubereitet.Biologisch,
saisonal, regional,ressourcenschonend,
nachhaltig: Die Kernkompetenzen des
ValMüstairslesen sichwie ein Stichwort-
zettelzeitgenössischerTrends.DerEigen-
sinn und der entschleunigteRhythmus
der Münstertaler haben sichbezahltge-
macht :Statt Modennachzuhetzen, sind
sie zu Vorreiter ngeworden.
Ob dasreichen wird? DasNeujahrsge-
dicht vonChasperStuppan schlägtskepti-
sche Töne an. Seit Jahren schrumpftdie
Bevölkerung;Musikvereineun dChöre ha-
ben Nach wuchsprobleme, und die Kin-
der,die mit ihren blauen Hemden undro-
tenMützenalsChalandamarz-Reigenum-
herziehen,werden vonJahr zu Jahrweni-
ger. FürStuppan einGrundmehr,mitden
KindernalsBotschafternauchinanderen
Regionen der Schweiz aufzutreten und
beiUmzügenundFestlichkeiten dieSchel-
len und Lieder erklingen zu lassen. Da-
durch soll dasTaljenen ins Bewusstsein
rücken, für die die Bündner Bergregionen
kaum zu unterscheiden sind. ImValMüs-
tair sehen das nicht alle positiv.Für man-
cheist ein Chalandamarz-Umzug jenseits
des Anlasses eine unpassendefolkloristi-
sche Zurschaustellung. DieFrage, ob der
diesjährigeUmzug im April oder später
nachgeholtwerden kann und soll, istda-
hernochungeklärt. Zugleichistvielen be-
wus st,dassbei aller Brauchtumspflege
auchinnovativeKonzepte gefragt sind,
um dasTalamLeben zu halten und die
AbwanderungderEinheimischenzustop-
pen. Schon seit längerem arbeiten in vie-
len Betrieben hauptsächlichPendler aus
dem benachbartenVinschgau. Dochsind
auchSpuren einerUmkehr er kennbar.Im
ValMüstair gibt es zunehmend kreative
Köpfe, die mutig neue Ideen ausprobie-
ren. Kunstausstellungen, Müllerfrühstück
in der ältestenfunktionstüchtigen Mühle
der Schweiz, Hundeschlittenrennen,
Mondscheinwanderungen im Schnee,
Schlafen imStroh, Lama-Trekking oder
die kleinste Whiskey-Bar derWelt –das
Potential istvorhanden.
„Minchün cun seis tun/chant’almu-
ond sachanzun.“ Sie erkennen ihn–das
istder Spruchvom Anfang. InValcha va
(Walltscháwa)kann man ihn an einer
Hausmauer lesen: „Jedermit seinem
Klang/singt derWelt sein Lied.“ Damit
istpoetisc hauf den Punktgebracht,was
für dasValMüstair im Besonderen gilt:
Peitschenknall, Glockenläuten undräto-
romanischerZungenschlag–eine kleine,
aber unverwechselbareMelodie imgro-
ßen Chor derWelt.
VonTalács bis Plúmpas
MitGlockengeläutund Peitschenknallensorgtman im Münstertal
füreinen Wechselder Jahreszeit.Bericht auseiner Schweiz, die
selb st vielen Schweizernfremd is t.VonSelma Mahlknecht
Stehengebliebene Zeit?
Nichtganz: Dörferim
ValMüstair können auf
ihreArt fast Avantgarde
sein.Foto GerhardFitzthum
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