Süddeutsche Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1
Im Osten und Süden anfangs Regen- und
Graupelschauer, in den Mittelgebirgen
und Alpen Schnee. Im Westen setzt sich
teilweise die Sonne durch. Auf den Höhen
stürmische Böen. Sechs bis zwölf Grad wer-
den erreicht.  Seite 13

München –Der FC Bayern München hat
mit etwas Mühe seinen Vorsprung an der
Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga
ausgebaut. Die Mannschaft von Trainer
Hansi Flick siegte am Sonntag gegen den
FC Augsburg 2:0 und liegt in der Tabelle
nun bereits vier Punkte vor dem ersten Ver-
folger Borussia Dortmund. Thomas Müller
(53. Minute) und Leon Goretzka (90.+1) er-
zielten die beiden Treffer für die Münch-
ner. dpa  Sport

von nico fried

Berlin –Gesundheitsminister Jens Spahn
hatdazu aufgerufen, wegen des Corona-
virus Veranstaltungen mit mehr als
1000 Teilnehmern abzusagen. Dies sei bis-
her „zu zaghaft“ geschehen, schrieb der
CDU-Politiker am Sonntag auf Twitter.
„Angesichts der dynamischen Entwick-
lung der letzten Tage sollte das schnell ge-
ändert werden.“ Er sei sich bewusst, wel-
che Folgen das für Bürgerinnen und Bür-
ger wie auch für Veranstalter habe. Über
die wirtschaftlichen Folgen werde man in
den nächsten Tagen sprechen. „Klar ist
aber: Unsere Gesundheit geht vor.“ Eine
bundesweite Schließung von Schulen hat-
te Spahn zuvor mit Verweis auf regionale
Unterschiede bei der Verbreitung des In-
fekts jedoch noch abgelehnt.

Die Absage von Großveranstaltungen
beträfe neben Messen auch Sportereignis-
se. Die Entscheidung obliegt allerdings
lokalen Behörden und Veranstaltern. Der
Geschäftsführer der Deutschen Fußball
Liga, Christian Seifert, wollte sich nicht auf
Spielabsagen festlegen: Die Klubs der Bun-
desligen würden sich mit den Behörden ab-
stimmen, sagte Seifert. Gleichzeitig stehe
es „außer Frage, dass die Saison wie vorge-
sehen bis Mitte Mai zu Ende gespielt wer-
den muss“.
Italiens Regierung hat am Sonntag ange-
kündigt, die Bewegungsfreiheit von etwa
16 Millionen Bürgern im Norden des Lan-
des massiv einzuschränken. Laut Minister-
präsident Giuseppe Conte darf die Region
Lombardei mit der Metropole Mailand bis
zum 3. April weder betreten noch verlas-
sen werden. Dies gelte auch für 14 Provin-

zen in vier weiteren Regionen, darunter die
Städte Venedig, Modena, Parma, Piacenza,
Reggio Emilia und Rimini. Ausnahmege-
nehmigungen würden nur aus nachgewie-

senen arbeitsbedingten Gründen, in Not-
fällen oder aus gesundheitlichen Gründen
erteilt, sagte Conte. Deutsche, die sich in
Norditalien aufhalten, können allerdings
von dort auch weiter zurück nach Deutsch-
land, teilte das Auswärtige Amt mit.
Erstmals ist ein deutscher Staatsbürger
nachweislich am Coronavirus gestorben.
Es handle sich um einen 60 Jahre alten
Mann, der vor einer Woche nach Ägypten
eingereist sei, teilte das ägyptische Gesund-
heitsministerium mit. Die Zahl der gemel-
deten infizierten Personen ist in Deutsch-
land auf mehr als 900 am Sonntagnachmit-
tag angestiegen. Dies teilte das Robert-
Koch-Institut mit. Die meisten Fälle gibt es
in Nordrhein-Westfalen. Auch in Bayern
stieg am Sonntag die Zahl der Infizierten.
Mittlerweile seien 200 Fälle bekannt, er-
klärten die bayerischen Behörden.

Berlin/Istanbul –Die türkische Regie-
rung hat der Europäischen Union kaum
verhüllt gedroht, den Streit um die Flücht-
linge weiter eskalieren zu lassen. Innenmi-
nister Süleyman Soylu zufolge sollen be-
reits mehr als 143 000 Menschen die türki-
sche Grenze überwunden und Griechen-
land erreicht haben – und diese Zahl werde
schon bald stark steigen, sagte er am Sams-
tag: „Das ist erst der Anfang. Sie sollten se-
hen, was als Nächstes passieren wird. Was
bislang geschehen ist, ist nichts.“
Soylus Angaben wurden von griechi-
scher Seite entschieden bestritten. Hier
sprach man von 37 000 illegalen Grenz-
übertritten in den vergangenen sieben Ta-
gen und 100 Festnahmen. Die allermeisten
Flüchtlinge wurden von den griechischen
Sicherheitsbehörden zurückgeschickt.

Der türkische Präsident Recep Tayyip
Erdoğan forderte das Nachbarland am
Sonntag auf, die Flüchtlinge ins Land zu
lassen und dann einfach weiterzuschi-
cken: „Griechenland, diese Menschen kom-
men nicht zu dir und bleiben.“ Sie gingen
doch „in andere Länder Europas. Warum
störst du dich daran?“ Das ist ein Szena-
rio, das die EU-Staaten – zu denen Grie-
chenland gehört, die Türkei aber nicht –
unbedingt abwenden wollen.
Seit Erdoğan vor einer Woche fälschli-
cherweise erklärt hatte, die Grenze nach
Griechenland sei offen, sind viele Flüchtlin-
ge dorthin aufgebrochen – um von Stachel-
draht, Tränengas und einem Großaufge-
bot von Griechenlands Grenzschutz, Poli-
zei und Militär zurückgedrängt zu werden.
Die Regierung in Athen sprach von „Erpres-

sung“ durch die Türkei. Diese beherbergt
etwa 3,6 Millionen Geflüchtete vor allem
aus Syrien und hat 2016 ein „Flüchtlingsab-
kommen“ mit der EU geschlossen, das die-
se Menschen in der Türkei halten soll.
Der Streit berührt auch die deutsche In-
nenpolitik. Union und SPD wollten am
Sonntagabend im Koalitionsausschuss
über das weitere Vorgehen beraten. Kon-
sens bestand schon vor dem Treffen mit
Kanzlerin Angela Merkel und Finanzminis-
ter Olaf Scholz darüber, Athen bei der Si-
cherung der EU-Außengrenze und der Ver-
sorgung jener Flüchtlinge zu unterstützen,
die sich schon länger in Lagern auf den In-
seln Samos und Lesbos befinden.
Merkel trifft am Montag den griechi-
schen Ministerpräsidenten Kyriakos Mitso-
takis in Berlin. In Athen hieß es, er wolle

Merkel um Vermittlung in dem Konflikt
mit Ankara bitten. Erdoğan reist am Mon-
tag überraschend zu Gesprächen mit der
EU-Kommission nach Brüssel.
Offen war, ob sich die Koalition auf eine
humanitäre Aktion zugunsten von Kin-
dern und Jugendlichen verständigen wür-
de, die in Griechenland gestrandet sind. In-
nenminister Horst Seehofer (CSU) hatte
jüngst angekündigt, europäische Partner
für die Verteilung von etwa 5000 Jugendli-
chen zu suchen, um einen deutschen Allein-
gang wie 2015 zu vermeiden. In der Union
gibt es dagegen Widerstände. LautBild am
Sonntag soll Unionsfraktionschef Ralph
Brinkhaus Seehofer vorgeworfen haben:
„Ihr habt nichts gelernt, die Leute wollen
keine Flüchtlinge.“n. fried, j.käppner,
c.schlötzer  Seite 3 und Meinung

Die Seite Drei


„Ihr könnt einfach zur Grenze gehen“:


Unterwegs mit Flüchtlingen


in der Türkei 3


Meinung


Die EU muss Griechenland helfen –


nicht nur beim Aufrüsten an


der Außengrenze 4


Politik


Ursula von der Leyen ist 100 Tage


EU-Kommissionspräsidentin.


Was hat sie bewirkt? 7


Feuilleton


Trauerspiel: Der Verlag Hachette sagt


die Veröffentlichung von Woody


Allens Autobiografie ab 9


Medien


Esgeht um das Hotel Ritz – und um


Milliarden: Frederick und David


Barclay streiten vor Gericht 20


TV-/Radioprogramm 21
Schule und Hochschule 12
München · Bayern 22
Rätsel 20
Traueranzeigen 19


Paris– Der Ökonom Thomas Piketty
schlägt einen radikalen Wandel des Steuer-
systems vor. Vermögen soll jährlich besteu-
ert werden, ein Höchstsatz von 90 Prozent
von zwei Milliarden Euro an greifen. Im Ge-
genzug soll jede und jeder 25-Jährige
120 000 Euro vom Staat bekommen. Mit
den Ideen will Piketty, bekannt durch den
Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhun-
dert“, eine Debatte über Visionen für den
Sozialstaat anstoßen.bbr  Wirtschaft

Washington –Acht Monate vor der Präsi-
dentschaftswahl wechselt Donald Trump
den Stabschef im Weißen Haus aus.
Trump gab bekannt, dass der republikani-
sche Kongressabgeordnete Mark Mea-
dows den bislang geschäftsführenden
Stabschef Mick Mulvaney ablösen werde –
als bereits vierter Mann auf diesem Posten
unter dem amtierenden US-Präsidenten.
Der scheidende Mulvaney wird Sonderge-
sandter für Nordirland. dpa  Seite 7

München– Stephan Harbarth, der desi-
gnierte Präsident des Bundesverfassungs-
gerichts, sieht den freiheitlich-demokrati-
schen Rechtsstaat in Deutschland gefähr-
det. Ihn zu verteidigen, werde „die zentrale
Herausforderung“ seiner Amtszeit am Ver-
fassungsgericht sein, sagt er im Interview
mit derSüddeutschen Zeitung: „Wir müs-
sen den Menschen immer wieder erklären,
warum auch die demokratische Mehrheit
nicht nach Belieben schalten und walten
kann. Demokratie und Freiheit können oh-
ne Recht keinen Bestand haben.“ Har-
barth, seit November 2018 Verfassungs-
richter, wird wohl in diesem Frühjahr vom
Bundesrat zum Nachfolger von Andreas
Voßkuhle gewählt werden. Seine politi-
sche Laufbahn als Bundestagsabgeordne-
ter der CDU sieht Harbarth als Bereiche-
rung für seine Arbeit am Verfassungsge-
richt. Von den politischen Parteien
wünscht er sich neben aller Kompromiss-
bereitschaft auch mehr Unterscheidbar-
keit. „Demokratie braucht Streit“, sagt Har-
barth. „Wir brauchen einen politischen Dis-
kurs, der von Respekt getragen ist, in dem
man aber in der Sache hart miteinander
streitet.“ sz  Seite 5

12 °/-4°


Überlaufener Ort, plötzlich ganz leer: Ein Kellner wartet auf dem Markusplatz in Venedig vergeblich auf Kundschaft. Die italienische
Regierunghat die Stadt wegen der Corona-Krise zur Sicherheitszone erklärt und damit vom Tourismus abgeschnitten – wie weite
Teile Norditaliens. Premierminister Guiseppe Conte räumte ein, es handle sich um „rigorose Maßnahmen“. Die Zahl der Infektionen
war in Italien zuletzt stärker gestiegen als angenommen. FOTO: MANUEL SILVESTRI / REUTERS

Hochzeiten verboten:So rigoros reagiert
Italien auf die Corona-Krise  Seite 2
Klassik leidet: Der deutsche Kultur-
betrieb spürt die Folgen  Seite 10
Leere Regale:Was Hamsterkäufe über die
Stimmung aussagen  Seite 14
Der Einbruch:Chinas Exporte gehen
dramatisch zurück  Seite 15
Daheimbleiben: Bayern verschärft die
Regeln für Kitas und Schulen  Bayern

HEUTE


Die SZ gibt es als App
fürTablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Geht der Partner fremd? So ein Verdacht
wiegt schwer, die Beweisführung ist
schwierig. Klar, das Mobiltelefon kann
Aufschluss geben. Sind da verdächtige
Nachrichten, häufige Anrufe einer gewis-
sen Person oder gar kompromittierende
Fotos? Aber um die zu finden, muss man
das Gerät zu fassen bekommen, mög-
lichst so, dass es der Partner nicht merkt.
Und wie war noch gleich der Code, mit
dem der Gatte oder die Gattin das Telefon
gesperrt hat?
In Israel sparen sich immer mehr Men-
schen die Schnüffelei, oder genauer: Sie
lassen schnüffeln. Und greifen dabei auf
Software zurück, die eigentlich dafür ge-
dacht war, Terroristen zu bekämpfen und
Kriminelle abzuschrecken. Mindestens
fünf Mal pro Woche sei er mit der Anfrage
konfrontiert, ob er das Handy des Part-
ners aus der Ferne auskundschaften
könne, erzählt Avi Dor, ein auf Scheidun-
gen spezialisierter Detektiv. Seine Arbeit

bestehe inzwischen hauptsächlich darin,
die Geräte vermeintlich untreuer Men-
schen mit Spähsoftware zu infiltrieren.
Das Angebot solcher Programme ist in
Israel besonders groß. Die große Politik
strahlt hier ins Privatleben ab: Israels Ge-
heimdienst Mossad ist weltweit für seine
Spionage berühmt. Auch die Armee des
Landes unterhält Soldaten, die sich mit
der Informationsbeschaffung im Netz
und dem Auskundschaften von Handys
beschäftigen – die besten dienen in der ge-
heimen Eliteeinheit 8200, die im Ausland
kaum bekannt ist. In Israel aber bildet sie
das wichtigste Reservoir für die boomen-
de Start-up-Szene. Mehr als 6400 aufstre-
bende junge Firmen sind in dem Land ge-
listet, etwa ein Drittel beschäftigt sich mit

dem Thema Cyberüberwachung. Jedes
Jahr kommen Dutzende hinzu.
Ihre Erzeugnisse sind eigentlich für Si-
cherheitsbehörden und Geheimdienste
gedacht, zur polizeilichen Ermittlung
oder Spionageabwehr. Aber inzwischen
findet Schnüffelsoftware immer mehr Ab-
nehmer im kommerziellen und privaten
Bereich. Wirtschaftsunternehmen über-
wachen ihre eigenen Mitarbeiter oder spä-
hen die Konkurrenz aus. Und Eheleute
wollen sich eben mit digitalen Beweisen
für teure Scheidungsprozesse wappnen.
Dabei gibt es auch in Israel das Recht
auf den Schutz der eigenen Daten. Einzig
zur Überwachung der eigenen Kinder ist
es gestattet, Überwachungssoftware auf
Mobiltelefonen zu installieren.

Im Alltag geben sich die Anbieter aller-
dings keine große Mühe, ihre wahre Ziel-
gruppe zu verschleiern. In einer viel be-
achteten Recherche für die ZeitungHaar-
etzerkundigte sich der Reporter Hilo Gla-
zer in mehreren Geschäften, offline wie
online, nach Möglichkeiten, seine Partne-
rin auszuhorchen. Man gab ihm bereitwil-
lig Auskunft, wie deren Mobiltelefon am
besten zu infiltrieren sei. Und ein frühe-
rer israelischer Geheimdienstoffizier
führte in einem Video des MagazinsFor-
besstolz seinen voll ausgestatten Überwa-
chungsbus vor, mit dem es möglich sei,
Chats und Telefonanrufe im Umkreis von
einem halben Kilometer empfangen zu
können. Während man für diese mobile
Überwachungseinheit schon fünf Millio-
nen Dollar hinlegen muss, ist die Späh-
software zur Überwachung des vermeint-
lich untreuen Partners in Israel deutlich
günstiger zu haben: Mit 20 Dollar ist man
dabei. alexandra föderl-schmid

Piketty will 90 Prozent


Vermögensteuer



NACHTS

Arbeitslos


FC Bayern gewinnt


2:0 gegen Augsburg


Spahn: Großveranstaltungen absagen

Wegen des Coronavirus sollten Ereignisse mit mehr als 1000 Teilnehmern nicht mehr stattfinden.


Italien schränkt Bewegungsfreiheit von 16 Millionen Bürgern ein. Erstmals ein Deutscher gestorben


Außerdem in


dieser Ausgabe


„Das ist erst der Anfang“


Während die Türkei der EU in der Flüchtlingspolitik offen droht, gibt es in Bundesregierung und Union Streit über den Kurs


Rosenkrieg mit anderen Mitteln


Wie Israelis ihre untreuen Partner ausspähen


Trump tauscht seinen


Stabschef aus


DAS WETTER



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Toto:lag noch nicht vor
Auswahlwette:lag noch nicht vor
Zusatzspiel:lag noch nicht vor
Spiel 77: 2251287
Super 6:1 0 1 9 5 2 (Ohne Gewähr)
 Weitere Gewinnzahlen:
Wirtschaft, Seite 18

„Demokratie


braucht Streit“


Verfassungsrichter Harbarth:
den Rechtsstaat verteidigen

(SZ) In Zeiten, da man die Jugend noch mit
sittlich sauberen Geschichten aufs Leben
vorbereitete, war die Fabel von der Grille
und der Ameise unabdingbarer Teil des
Lehrstoffs und einer der Haupthämmer in
der Charakterschmiede. Es geht darin um
die Grille, die den ganzen Sommer über
zirpt, während die Ameise bei sich zu Hau-
se Körnchen für Körnchen einlagert. Dann
kommt der Winter. Der Grille ist himmel-
angst, und als die Not immer größer wird,
läuft sie zur Ameise, um sich Nahrung aus-
zuborgen. „Ei“, sagt die Ameise (denn sei-
nerzeit war es auch unter Fabeltieren üb-
lich, fiese Fragen mit „ei“ einzuleiten), „ei,
und was hast du im Sommer getan?“ Die
Grille: „Nun, gesungen habe ich.“ Darauf
die Ameise: „So, so, gesungen hast du.
Dann tanze jetzt!“ Die Moral ist sonnen-
klar: Wer in den Tag hinein lebt und nichts
beiseitelegt, der sollte später bitte nicht
angejammert kommen.
Obwohl diese Lehre damals allgemein
verinnerlicht und anerkannt war, hatte es
das Bundesernährungsministerium zu Be-
ginn der Sechzigerjahre schwer, die Bevöl-
kerung zur Vorratshaltung zu animieren.
Das lag zum Teil daran, dass das schwarze
Eichhörnchen, das auf Plakaten mitten in
dem Slogan „Denke dran, schaff Vorrat an“
saß, unterschwellig an die Figur des „Koh-
lenklau“ erinnerte, der auf seine Art natür-
lich auch Vorrat bunkerte, aber als Schäd-
ling der „Volksgemeinschaft“ galt und tun-
lichst „auszumerzen“ war. Zudem dachten
Leute, die rechneten, dass der Kalte Krieg,
gegen den die „Aktion Eichhörnchen“ sich
zu stemmen suchte, sehr lang dauern wür-
de und man mit einem auf 14 Tage ausge-
legten Vorrat kaum überwintern könnte.
Drittens aber hätte man statt des Eichhörn-
chens, dessen Vorsorgedenken nur sche-
menhaft bekannt war, besser den Hamster
als Werbeträger genommen. Im Gegensatz
zum eher putzigen Eichhörnchen gilt er
zwar als zorniges Tier, hat aber dem Wesen
der Vorratshaltung, dem Hamstern, im-
merhin den Namen gegeben. Wobei ange-
merkt sei, dass das Hamstern nicht im bes-
ten Ruf steht, weil sich hinter ihm das Ge-
spenst der Raffgier erhebt. Wie vergebens
übrigens das Horten sein kann, zeigt eine
Juxkarte aus dem Jahr 1918, auf der „Emil
Kohldampf“ samt Anverwandten das Hin-
scheiden des letzten Brotlaibs kundtut. So
eine Annonce hätte die Ameise auch schal-
ten müssen, wäre sie denn so töricht ge-
wesen, der Grille vom Angesparten etwas
abzugeben.
Zum Hamstern hat der Hamster seine
Hamsterbacken. Diese entleert er, indem
er mit den Vorderpfoten die Masse des Ge-
sammelten von außen nach vorn schiebt.
Wären wir Hamster und unsere Backen so
groß wie Einkaufstaschen, böte sich einem
von einem fremden Stern angereisten Be-
obachter ein seltsames Bild, und er würde
nach Hause berichten, dass die Deutschen
sich vornehmlich von in Folie verpackten
Papierrollen zu ernähren scheinen.


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