Süddeutsche Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1
Das Internet hat seinen Nutzern viele neue
Verhaltensweisen angedeihen lassen. Zum
Beispiel das reflexhafte Fotografieren des
eigenen Mittagessens. Eine weitere Kultur-
praktik, die erst durch das Netz entstan-
den ist, ist das sogenannte Lurking, also
das Lauern. Damit beschreibt man passiv
teilnehmende Nutzer einer Online-Platt-
form.
Laut Nutzerstudien sind nur ein knap-
pes Prozent aller Nutzer für 99 Prozent al-
ler Inhalte verantwortlich. Der Rest exis-
tiert im Stillen, wütet weder auf Twitter ge-
gen den Weltgeist, noch schüttet er auf
Selbsthilfeforen sein Herz aus. Er postet
weder lustige Videos, noch denkt er sich
Meme zur aktuellen Lage der Corona-Kri-
se aus. Der Lurker klickt und liest und
denkt sich seinen Teil. Er wird erst sicht-
bar, wenn er es will.
„Lurking“ ist auch der Titel des neuen
Buchs der amerikanischen Technologie-
Kritikerin Joanne McNeil, die damit eine
Volksgeschichte des Internets vorlegt. Sie
beschreibt die Entwicklung des Mediums
nicht wie sonst üblich mit Hilfe von fabel-
haften Storys über Gründer aus kleinen
Verhältnissen, milliardenschweren Bör-
sengängen oder Weltverbesserungsent-
würfen. McNeil stellt stattdessen die Fra-
ge, wie das Netz sich verändert hat – und
vor allem: wie es uns verändert –, wenn
man einmal die modernen Mythen und
das Dogma des Disruptiven der Tech-Bla-
se ausblendet. Und stattdessen die Ge-
schichten von Forenmoderatoren, Wiki-
Redakteuren und natürlich einer Unzahl
von einfachen Leuten, die man heute Nut-
zer nennt.

Die frühen Chaträume des Cyberspace,
den man heute nicht mehr so nennt, ver-
sprachen Anonymität. Heute dagegen ist
man in jeder innerstädtischen Einkaufs-
meile unerkannter unterwegs als im Inter-
net. Denn ausgerechnet das Lurking ist im
zeitgenössischen Internet kaum noch mög-
lich. Man hinterlässt überall Spuren, da
hilft kein noch so ausgefeiltes Privatisie-
rungsprogramm. Mit jeder Suche bei Goo-
gle speist man dessen Autovervollständi-
gungsalgorithmus, und selbst wenn man
nicht bei Facebook eingeloggt ist, verfolgt
das Netzwerk die eigenen Spuren und
weiß, wo man sich aufgehalten hat.
Aus mündigen Bürgern wurden also blo-
ße Nutzer. Früher hatte man dagegen noch
die Kontrolle über seine Identität und über
die Frage, wie viel man davon enthüllen
wollte. Doch nicht nur die Struktur des Net-
zes hat sich verändert – von einer wirren
Sammlung von Hyperlinks hin zu einer
permanent aktualisierten Datenbank –,
sondern auch die Art und Weise, wie wir
darüber sprechen. „Früher beschrieben
die Menschen das Internet als Ort“, so
McNeil. „Heute ist es eine Entität, zu der
man sprechen kann; ein jemand. (...) Die
Verkörperung aller Familienfotos, Tage-
bucheinträge, Witze, Hotelbewertungen
all jener Menschen, die jemals ein digitales
Leben geführt haben.“
Soziale Erwartungen und die engen Kor-
setts der mit jedem Nutzerkonto verbunde-
nen Profile in werberelevanten Datenban-
ken erfordert laut McNeil von jedem einzel-
nen eine „Präsenz“. Die Lurker von einst
sind identifizier- und ausbeutbare Nutzer
geworden, schreibt sie, „so wie Altmetall,
wie Zahlen in einem Datensatz, nicht mehr
ganz Menschen“. McNeil wird gerne etwas
zu poetisch, vergleicht etwa die verlasse-
nen Überreste einst populärer Netzwerke
wie MySpace oder Friendster mit einem
„Schuljahrbuch, das im Regen vergessen
wurde“.
Die modernen sozialen Netzwerke sind
für sie dagegen nichts weiter als eine „Si-
ckergrube“. Instagram wird für seine perfi-
de Verflechtung von Identität und Kom-
merz gescholten, und Facebook ist gleich
gar „einer der größten Fehler der moderne-
ren Geschichte“. Die Kraftlosigkeit und der
Kontrollverlust, den jeder Nutzer spürt,
wenn mal der dünne Firnis des Komforts
abgetragen wird, führt zu teilweise reich-
lich absurden Überhöhungen der Vergan-
genheit. Da wird etwa MySpace von Men-
schen, die zu jung waren, um dabei gewe-
sen zu sein – auch die gibt es ja schon –,
mit Woodstock verglichen. Das kritikbe-
freite Verklären ist freilich ein Privileg der
Nachgeborenen. michael moorstedt

von david steinitz

B

eim Interview letzten Sommer in Pa-
ris antwortete Woody Allen auf die
Frage, ob sein bewegtes Leben nicht
Stoff für mindestens 1000 Seiten hergebe:
„Auf gar keinen Fall, dafür ist es nicht span-
nend genug!“ Das war einerseits natürlich
brutales Understatement – andererseits
hat der 84-Jährige Wort gehalten: Seine Au-
tobiografie mit dem Titel „Apropos of Noth-
ing“, die in Amerika am 7. April hätte er-
scheinen sollen, hat laut Verlagswebseite
genau 400 Seiten.
Das Buch ist bereits gedruckt und bei
Anbietern wie Amazon vorbestellbar, aber
lesen wird man es zumindest in den USA
vorerst trotzdem nicht können. Die Verlags-
gruppe Hachette, deren Tochterunterneh-
men Grand Central Publishing das Buch
herausbringen wollte, hat die Veröffentli-
chung am Freitag abgesagt wie unter ande-
rem dieNew York Timesberichtet.
Die Entscheidung stand am Ende einer
Woche, in der auf den Verlag von innen
und von außen Druck ausgeübt wurde. Et-
wa 70 Hachette-Mitarbeiter verließen ihre
Schreibtische, um vor dem Verlagshaus ge-
gen das Buch zu protestieren. Damit schlos-
sen sie sich dem ehemaligen Hachette-Au-
tor Ronan Farrow an, dem Sohn von Woo-
dy Allen. Der 32-Jährige hatte sich zuvor
empört geäußert, dass der Verlag Allens
Biografie publizieren wolle und kündigte
an, nicht mehr mit Hachette zusammenar-
beiten zu wollen. Der Journalist, der unter
anderem mit Reportagen über die sexuel-
len Übergriffe des Hollywoodproduzenten
Harvey Weinstein einer der Vorreiter der
„Me Too“-Bewegung wurde, steht fest auf
der Seite seiner Mutter Mia Farrow. Sie ist
Allens Exfreundin und beschuldigt den Re-
gisseur, die gemeinsame Adoptivtochter
Dylan 1992 in ihrem Landhaus in Connecti-
cut sexuell missbraucht zu haben, als diese
sieben Jahre alt war.
Woody Allen bestreitet die Vorwürfe
und wirft wiederum Mia Farrow vor, den
Missbrauch erfunden zu haben, damit er
nach der Trennung nicht das Sorgerecht
für die drei gemeinsamen Kinder zugespro-
chen bekomme. Zu der Absage durch den
Verlag hat er sich bislang nicht geäußert. Ei-
ne Sprecherin von Hachette sagte, die Ent-
scheidung, das Buch fallen zu lassen, sei
„schwer“ gewesen: „Wir nehmen die Bezie-
hungen zu unseren Autoren ernst und sa-
gen Bücher nicht einfach ab.“ Nach inter-
nen Gesprächen wäre man aber zu dem
Schluss gekommen, dass die Veröffentli-
chung nicht mehr „machbar“ gewesen sei.
Das ist eine Wendung, die man freundlich
gesagt als befremdlich bezeichnen kann –
und zwar ganz unabhängig davon, wie
man sich zu Woody Allen positioniert.
Denn im Fall der Missbrauchsvorwürfe
steht seit 1992 Wort gegen Wort, ohne dass
eine der beiden Seiten neue Beweise für
die Schuld oder Unschuld des Filmema-


chers hätte vorlegen können. Allen ist we-
gen der Vorwürfe nie juristisch belangt
worden. Die Argumentation der Familie
Farrow ist in diversen Interviews nachzu-
vollziehen, ebenso die Argumentation der
Familie Allen. Besonders die zerstrittenen
Söhne Ronan (für Mia) und Moses (für Woo-
dy) haben ihre Sicht auf die Dinge mehr-
fach dargelegt. Sogar der 33-seitige Ab-
schlussbericht des Sorgerechtsstreits vom


  1. Juni 1993 mit der Verfahrensnummer
    68738/92, in dem Farrow von einem New
    Yorker Richter das Sorgerecht für die drei
    gemeinsamen Kinder zugesprochen wur-
    de, ist im Internet zu finden, wenn man
    sich ganz ausführlich informieren möchte.
    Man kann nach Lektüre dieser Doku-
    mente natürlich zu dem Schluss kommen,
    nicht mit Allen arbeiten zu wollen. Aber da
    alle bekannten Fakten seit knapp drei Jahr-
    zehnten auf dem Tisch liegen, sollte man
    sich das vielleicht überlegen, bevor man ei-
    nen Vertrag mit ihm abschließt.
    So steht der Verlag Hachette nun als Un-
    ternehmen dar, das beim Stichwort „Woo-
    dy-Allen-Biografie“ erst die Dollars klin-
    geln hörte und dann beim ersten Wider-
    stand einknickte. Ganz ähnlich wie die Dar-


steller von Allens letztem Film „A Rainy
Day in New York“ (2019): Die Jungstars Ti-
mothée Chalamet und Selena Gomez dreh-
ten den Film mit ihm ab, als das für jeden
Schauspieler noch ein Ehrenabzeichen
war; als die öffentliche Stimmung in Holly-
wood kippte, ohne dass sich an der Sache
etwas geändert hatte, entschuldigten sie
sich für ihre Auftritte und distanzierten
sich von dem Film.

Die Entscheidung von Hachette sendet
ein fatales Signal: an Missbrauchsopfer,
weil den Verlag der Vorwurf des sexuellen
Missbrauchs nicht gestört zu haben
schien, solange in Aussicht stand, dass
man mit dem Buch Geld verdienen kann –
und sich niemand beschwert hat. Und an
Autoren, weil der Verlag sie nicht aufgrund
von Fakten und Beweisen, sondern von
Meinungen und Stimmungen fallen lässt.
Hachette hat unter anderem Bücher von
J.D. Salinger, David Foster Wallace und

J. K. Rowling im Programm. Er ist einer der
größten Verlage in den USA, ein Land, das
einen Präsidenten hat, der seit Jahren ver-
sucht, gegen Journalisten und Publikatio-
nen vorzugehen, deren Meinung ihm nicht
passt. Wenn jetzt nach der ersten Protest-
welle die Biografie eines Autors aus dem
Kulturbetrieb abgesagt wird – was sollen
dann erst Investigativjournalisten und
Whistleblower denken? Dass ein Großver-
leger beim ersten Protest sofort einknickt,
weil er nicht das Rückgrat hat hinter einer
Entscheidung zu stehen, deren Pro und
Contra er zuvor hätte sorgfältig abwägen
müssen?
Das Ganze hat nichts mehr mit den eh-
renvollen Absichten der „Me Too“-Bewe-
gung und ihren Unterstützern zu tun, son-
dern ist ein Trauerspiel, in dem auch Ro-
nan Farrow keine sonderlich rühmliche
Rolle mehr einnimmt. Der Jurist und Jour-
nalist hat aus seinen Weinstein-Enthüllun-
gen ein Geschäftsmodell gemacht, in dem
er sich als „Me Too“-Posterboy verkauft.
So penibel und journalistisch sauber wie er
im Fall Weinstein recherchiert und ge-
schrieben hat, ist das auch völlig legitim.
Und selbstverständlich kann er öffentlich

für seine Schwester und seine Mutter ein-
treten, wenn es um Woody Allen geht, und
diesen angreifen. Nur nutzt er sein Image
als integrer, objektiver Berichterstatter für
eine Affäre, in der er nun mal persönlich in-
volviert ist – und das sind Sphären, die er
seinen eigenen Ansprüchen nach eigent-
lich nicht vermischen dürfte, auch wenn
sie natürlich schwer zu trennen sind.
Und was passiert jetzt mit Woody Allens
Autobiografie? Der Hamburger Rowohlt
Verlag, der die Rechte für den deutschen
Markt erworben hat, will laut einer Spre-
cherin an der Veröffentlichung festhalten.
Das Buch soll unter dem Titel „Ganz Neben-
bei“ am 7. April wie geplant erscheinen.
Auf Proteste kann man sich auch dort ge-
fasst machen: Sonntagabend veröffentlich-
ten Autoren des Verlags einen offenen
Brief, in dem sie sich „enttäuscht über die
Entscheidung“ zeigten, das Buch zu veröf-
fentlichen. Unterzeichnet wurde er unter
anderem von Margarete Stokowski, Ka-
thrin Passig und Sascha Lobo. Was genau
in dem Buch drin steht, dürften aber auch
sie noch nicht wissen. Für eine Stellung-
nahme war Rowohlt am Sonntag nicht zu
erreichen.

Es ist ungefähr fünf Jahre her, damals, als
der„Islamische Staat“ (IS) seine großen Er-
folge feierte, da schaffte es das Thema zum
letzten Mal in die Schlagzeilen: der Handel
mit illegal ausgegrabenen oder aus Muse-
en geplünderten antiken Stücken. Man las
Berichte von Orten im Nahen Osten, die
aussehen, als wären sie von Bomben getrof-
fen worden, nur dass die Krater und Lö-
cher eben von Antikenräubern gegraben
wurden. Und dann machte eben die Hypo-
these die Runde, der IS habe das Geschäft
mit den Antiken an sich gerissen und nutze
es zur Finanzierung seiner Terroroperatio-
nen. Deutschland, hieß es oft, sei eine Dreh-
scheibe für den Handel mit diesen Dingen
geworden.

Doch etwa an diesem Punkt endeten die
meisten der Berichte. Ja, die dürren Infor-
mationen in Auktionskatalogen, die vagen
Provenienzen in den Schaufenstern eini-
ger Galerien etwa am Münchner Maximili-
ansplatz machten schon immer stutzig.
Doch was sagte ein einziges problemati-
sches Werk schon aus? Und wie ließen sich
die Bilder von zerlöcherten Mondland-
schaften am Tigris, die Berichte vom Millio-
nenbusiness zusammenbringen mit dem
winzigen Nischengeschäft ein paar honori-
ger Liebhaber in Deutschland?
Eine Studie, die an diesem Montag veröf-
fentlicht wird, liefert nun dasmissing link
zwischen diesen beiden Sphären. Sie
kommt zu erschreckenden Ergebnissen:
Von gut 6000 antiken Stücken aus dem öst-
lichen Mittelmeerraum, die in einem Zeit-
raum von zwei Jahren in Deutschland ange-
boten wurden, erfüllten nur 2,1 Prozent die
geltenden Vorschriften für den Handel in
Deutschland. Bei manchen Herkunftslän-
dern lag der legale Anteil noch erheblich
niedriger, bei Stücken aus dem Irak etwa
waren es nur 0,4 Prozent. Und auch der An-
teil an Fälschungen ist extrem hoch: Bei
mehr als die Hälfte der Stücke handelte es
sich laut den Experten um mehr oder weni-
ger gut gemachte Imitationen.
Auch diese über drei Jahre entstandene
Studie, für die Altertumswissenschaftler,
Technologieexperten vom Fraunhofer-In-

stitut und Wissenschaftler aus etlichen an-
deren Disziplinen unter Leitung von Mar-
kus Hilgert, Chef der Kulturstiftung der
Länder, zusammenarbeiteten, lässt viele
Fragen offen. Weder gibt es hier Neues zur
Terrorfinanzierung, noch zum tatsächli-
chen Ausmaß der Raubgräberei in den Kri-
sengebieten, aus denen die meisten impor-
tierten Stücke heute stammen. Auch über
die Handelswege erfährt man nichts. Kei-
ner der Autoren kreuzte mit dem Gelände-
wagen durch die Wüste, traf CIA-Vetera-
nen oder las vertrauliche Akten. Das Bun-
deskriminalamt, das ursprünglich an der
Studie mitwirken wollte, sprang ab.
Stattdessen beschränkten sich die For-
scher auf öffentliche zugängliche Quellen
wie Auktionskataloge und Internetangebo-
te. Ein braver Ansatz, scheint es, aber
nicht, wenn man dafür eigens Apps entwi-
ckeln lässt, nicht, wenn man „Crawler“,
also Software zum automatischen Durch-
suchen und Analysieren von Websites, ein-
setzt. Was ihnen nun erstmals gelingt, ist
aufregend genug: Sie zeichnen ein erbar-
mungsloses Gesamtbild der Geschäfts-
praktiken einer Branche, die, wohl auch
dank der Assoziation mit ihrer noblen Wa-
re, alle Vorwürfe an sich abperlen ließ.

Die Forscher taten das, indem sie die
Händler und ihr Angebot einfach selber
sprechen ließen: Welche Stücke werden an-
geboten? Zu welchen Preisen? Und welche
Dokumente – Exportgenehmigungen, frü-
here Kaufbelege – werden mitgeliefert?
Vor allem aber: Welche Angaben machen
die Händler zur Provenienz? Verraten sie,
wann das Objekt in Deutschland einge-
führt wurde? Oder steht da nur „süddeut-
sche Privatsammlung“? Und wie seriös er-
scheinen diese Informationen?

Bei den wenigsten Objekten, das zeigt
sich dabei, können die deutschen Händler
ihre Herkunft ausreichend dokumentie-
ren. Doch die ist entscheidend, weil sich
die EU bei einigen der wichtigsten Her-
kunftsländer, vor allem Syrien und Irak,
auf klare Daten geeinigt hat, nach denen
die Einfuhr antiker Gegenstände verboten
ist: Für den Irak ist es das Jahr 1990, bei Sy-
rien ist es 2011. Außerdem gibt es vielfach
nationale Exportverbote, die schon Ende

des 19. Jahrhunderts galten, und die
Unesco-Konvention von 1970, die Deutsch-
land allerdings erst 2007 ratifiziert hat. Die
juristische Lage ist kompliziert, klar ist
aber, dass antike Stücke aus Syrien und
dem Irak in Deutschland nur gehandelt
werden dürfen, wenn sie vor diesen Daten
eingeführt wurden, also aus Sammlungen
in Europa stammen. Fehlen die Jahreszah-
len, fehlen Details zur Herkunft, dann ste-
hen sie zumindest unter Verdacht.
Deutschland, so die Autoren der Studie, ist
eine Art Waschanlage für Antiken gewor-
den. Der Import ist hier besonders einfach,
und wenn die Sachen einmal hier waren,
lassen sie sich gut in strengere europäische
Länder weiterverkaufen.
Brisant ist die Studie allerdings nicht
nur für den Kunsthandel, sondern auch für
die deutsche Politik. Schließlich hat
Deutschland seit 2016 ein neues Kulturgut-
schutzgesetz, das genau die „Inverkehr-
bringung“ von illegal eingeführten Gegen-
ständen stoppen sollte, die laut der neuen
Studie ungebremst weitergeht. Kontrol-
len, etwa durch den Zoll, finden so gut wie
nicht statt. Der Zoll hat andere Prioritäten,
Waffen, Drogen, gefälschte Markenpro-
dukte. Und selbst wenn ihm einmal eine
Scherbe in die Hände kommt: Wie soll er
auf die Schnelle nachweisen, dass sie nicht
ins Land kommen darf?
Die Autoren der Studie fordern deshalb
groß angelegte staatliche Initiativen, um
den Handel mit Antiken einzudämmen.
Ein Vorbild dafür sei die Kampagne zur
Durchsetzung des Artenschutzgesetzes:
Die Plakate, die vor der Einfuhr von ge-
schützten Tieren, Elfenbein oder Schild-
krötenpanzern und Ähnlichem warnen,
hat jeder schon gesehen.
Vor allem aber fordern sie mehr Aufklä-
rung darüber, welche Zerstörungen die
Raubgräberei anrichtet, zum anderen aber
auch darüber, dass damit Gewalt, Gesetzlo-
sigkeit, Ausbeutung gefördert werden.
Nicht ohne einen süffisanten Unterton
erklären die Autoren der Studie, auch der
Handel müsse doch daran interessiert
sein, sich von Praktiken zu verabschieden,
die ihn permanent unter den Verdacht der
Illegalität stellen. Doch das ist natürlich
ein frommer Wunsch. Die Zahlen sprechen
ja eine klare Sprache: Ohne Nachschub aus
Nahost gäbe es nicht viel zu handeln.
jörg häntzschel

Das „Kulturgutschutzgesetz“
scheintim Antikenhandel so gut
wie wirkungslos zu sein

Nur 2,1 Prozent der Antiken
im deutschen Kunsthandel
erfüllen geltende Vorschriften

Das Ganze hat nichts mehr mit
den ehrenvollen Absichten
der „Me Too“-Bewegung zu tun

Die Einfuhr geht ungebremst weiter


Eineneue Studie zeigt: Deutschland ist eine Art Waschanlage für antike Kunst aus illegalen Grabungen


Sickergrube


Joanne McNeil legt eine
Volksgeschichte des Internets vor

DEFGH Nr. 57, Montag, 9. März 2020 HF2 9


Stoff für mehr als 400 Seiten: Woody Allens Autobiografie hätte in Amerika am 7. April erscheinen sollen, nun hat der Verlag die Veröffentlichung abgesagt. FOTO: AFP

Eigentlich dürfen antike Gegenstände aus Syrien oder dem Irak – hier Hatra in der
Nähe von Mossul – nicht nach Deutschland importiert werden. FOTO: GETTY IMAGES

Ausgerechnet das Lurking ist
im zeitgenössischen Internet
kaum noch möglich

Deutschlands Kunstkritiker haben das
Folkwang-Museum in Essen zum „Muse-
um des Jahres“ gewählt. Die deutsche
Sektion des Internationalen Kunstkriti-
kerverbands AICA begründet die Ent-
scheidung damit, dass das Haus immer
wieder seine bedeutende Sammlung mit
thematisch aktuellen Sonderausstellun-
gen verbinde. Das sei auch bei der der-
zeit laufenden Schau „Der montierte
Mensch“ der Fall, in der eine themati-
sche Präsentation von Kunstwerken
zusammen mit archäologischen und
ethnologischen Stücken zu sehen ist. Die
Krupp-Stiftung ermöglicht Besuchern
des Essener Museums freien Eintritt.
Zur „Ausstellung des Jahres“ kürten die
Kritiker die Schau „Palast der Republik“
in der Kunsthalle Rostock.dpa


NETZKOLUMNE


Ein Trauerspiel


Der Verlag Hachette sagt die Veröffentlichung von Woody Allens Autobiografie nach Protesten ab.


Es ist ein fatales Signal an Missbrauchsopfer und Autoren


Literatur
Zur Inflation des Storytelling:
Eine Poetikvorlesung
von Jonas Lüscher 11

Das Politische Buch
Zwei Bücher beschreiben Putins
Politik aus verschiedenen
Blickwinkeln 13

Wissen
Die sozialen Folgen
der Coronavirus-Epidemie
werden ausgeblendet 14

www.sz.de/kultur

Museum der Jahres


Als weitere Maßnahme gegen die Aus-
breitung des Coronavirus werden die
Vatikanischen Museen bis zum 3. April
geschlossen. Wie der Vatikan am Sonn-
tag weiter bekannt gab, gilt dies auch für
die Ausgrabungen unter dem Peters-
dom, das Museum der Päpstlichen Vil-
len in Castel Gandolfo sowie für alle
Museen anderer päpstlicher Basiliken
wie etwa im Lateran oder Santa Maria
Maggiore. Damit folgen die Behörden
des Vatikanstaates den jüngsten Vorga-
ben der italienischen Regierung, denen
zufolge Museen, Kinos und Theater
landesweit vorerst sämtlich schließen
sollen. kna


Passend zum Weltfrauentag hat die
Allgemeine Bauzeitung„mehr Frau am
Bau“ gemeldet. In der traditionell männ-
lich geprägten Bauwelt sehe man seit
einiger Zeit mehr und mehr Frauen. Das
gelte für Planung, Management und
auch für die Bauausführung. Den Trend
begründet die ABZ mit dem Fachkräfte-
mangel der Baubranche und mit verän-
derten, weniger körperlich definierten
Arbeitsbedingungen. Zudem belegen die
aktuellen Zahlen des Statistischen Bun-
desamtes zu Studienanfängern in den
Fächern Architektur und Bauingenieur-
wesen, dass deutlich mehr Frauen als in
früheren Jahren ausgebildet werden. sz


FEUILLETON


HEUTE


Vatikanische Museen zu


Mehr Frau am Bau


KURZ GEMELDET

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