FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik DIENSTAG, 3.MÄRZ2020·NR.53·SEITE 3
Tief verwurzelt und hochangesehen:Gedenken an den ermordetenWalterLübckeim Juni 2019 FotoReuters
Im September 2019wandtesichKar-
dinal JosephZen, emeritierterBi-
schof vonHongkong, mit einem
Brandbrief an seine 222 Mitbrüder
im Kardinalskollegium. Das Schrei-
ben warkein of fener Briefime igentli-
chen Sinne, aber dessenweiteVer-
breitung in den MedienvomVerfas-
ser durchaus beabsichtigt.Indem
Briefgeißelt Zendie Purpurträger,
diese würden „den Mordander Kir-
cheinChina hinnehmen,statt diese
zu schützen und zu verteidigen“.
Wenn vonMorddie Rede ist, dann
mussesaucheinen Mördergeben.
Undder is tnachder Überzeugung
Zens, gefestigt durch jahrzehntelange
persönliche Erfahrung, dieKommu-
nistischePartei Chinas. „Mit denchi-
nesischenKommunistenkann man
keine Kompromisse eingehen“, be-
kräftigte Zenerstam11. Februar wie-
der in einem Gesprächmit der ameri-
kanischen Catholic News Agency.
Denn für den 88 Jahrealten Kardinal
istklar:„Die wollen vollständigeUn-
terwerfung. So istdas mitKommunis-
ten.“
Am Wochenende wurde nun ein
Schreiben des italienischen Kardi-
nals Giovanni Battista Re bekannt, in
dem der Italiener auf das Schreiben
Zens vomSeptember antwortet, sei-
nerseits mit einem Brief ansKardi-
nalskollegium. Der 86 JahrealteKar-
dinal wurde im Januar aufVorschlag
der Kardinalbischöfevom Papstals
Nach folger des inzwischen 92 Jahre
alten Angelo Sodanozum neuen De-
kandes Kardinalskollegiums be-
stimmt.Zwarist der Dekan der Kardi-
näle formal nur Gleicher unter Glei-
chen. Aber ResWorthat Gewicht;er
zählteinden vergangenen zwei Jahr-
zehnten zu den einflussreichsten
WürdenträgernimVatikan. In dem
schriftlichen Schlagabtauschder Kar-
dinäleZenund Re geht es um dievor-
läufig eÜbereinkunft, die der Heilige
Stuhl und dasRegime inPeking am
- September 2018getrof fenhaben.
Der genaue Inhalt des nachjahrelan-
genVerhandlungen geschlossenen
Abkommens, das zunächstfür zwei
Jahregilt, wirdvon beidenSeiten ge-
heim gehalten.
Bekannt ist, dassdas Abkommen
eine Übereinkunftenthält über die
einvernehmliche Ernennung von
Bischöfen zwischen demVatikan und
der „Katholisch-PatriotischenVerei-
nigung“ (KPV). Die KPVwar
vonder KommunistischenPartei als
eine Art„Gegenkirche“ gegründet
worden. Sie istbis heutedie streng
kontrollierte offizielle katholische
Kircheder Volksrepublik China. Da-
neben gibt es in Chinaseit gut sechs
Jahrzehnten auchdie vatikantreue
„Untergrundkirche“, die sichniemals
dem Diktat derPartei unterworfen
hat.Die staatlichsanktionierte KPV
und dieUntergrundkircheverfügten
zuletzt über jeweils gut sechs Millio-
nen Gläubige.
Kardinal Zengehörtseit je zu den
schär fstenKritiker ndes Abkom-
mens, das er alsKapitulation desVati-
kans vorden KommunisteninPeking
beklagt.Zen hat demPapst seine
Zweifel an derVereinbarung schrift-
lichmitgeteilt, aber nacheigenen An-
gaben nie eine Antwortbekommen.
Das zentrale ArgumentZens lautet,
Franziskus habe ein desaströsesAb-
kommen unterzeichnet, das in ähnli-
cher Form zuvorvonJohannesPaul
II. und Benedikt XVI. zurückgewie-
sen worden sei: Es legedie Auswahl
vonBischöfenfaktisch in die Hände
der chinesischenKommunistenund
der gleichgeschalteten KPV.
Davonkönnekeine Rede sein, wi-
derspricht nunKardinal Re in seinem
Brief.Re behauptet, es habe eine „tie-
fe Übereinkunftder drei letztenPäps-
te mit Blickauf die Lageder katholi-
schen KircheinChina“ gegeben.
Auch Nachforschungen im Archiv
des Staatssekretariats bewiesen dies,
schreibtRe:Benedikt habe den Ent-
wurfdes Abkommens, das man erst
2018 habe unterzeichnen können,
schon Jahrezuvor ausdrücklichabge-
segnet. Das vorliegendeAbkommen
sei die derzeit bestmögliche Lösung
und das Ergebnis von„mehr als 20
Jahrelangen“ Verhandlungen, die
vonallen dreiPäpstenunter stützt
worden seien.Zenermahnt alleKar-
dinäle, auf dem schwierigenWegder
KircheinChina eng an der Seitedes
Papsteszubleiben.
Aufden BriefReshat nun wieder
Zengeantwortet, mit einem offenen
Brief an dasKardinalskollegium. Dar-
in erhebtZennamentlichgegen Kar-
dinalstaatssekretär PietroParolin
schwereVorwürfe:Dieser habe wis-
sentlichfalsche Übersetzungen der
chinesischen Fassung des Abkom-
mens an denVatikanweiter geleitet.
„Ichhabe Beweise dafür,dassParolin
den Heiligen Vatermanipuliert“,
schreibtZen, weil Parolin „viel zu op-
timistischüber die sogenannte ,Ost-
politik‘ denkt“ (Zen benutzt dasWort
im deutschen Original).
Päpstliche
Ostpolitik
Streit überFranziskus’
Haltung zu China
VonMatthias Rüb,
Rom
S
tephan Ernstist 15 Jahrealt, als
er bes chließt, ein Haus anzuzün-
den, in demvor allemTürken le-
ben. Über einen der Bewohner
hatteersichgeärgert,erwill ih-
nen, wie er später sagt, einen „Denkzet-
tel“ geben. Ernstverteilt Benzin imKel-
ler des Hauses und entzündetes–auf-
grund der Bauweise des Hauses entsteht
nur ein Sachschaden, niemand wirdver-
letzt .Esist die er steschwere St raftat, die
der Sohn eines Betonfachwerkers und ei-
ner Zahntechnikerin begeht.Ermacht ei-
nen Hauptschulabschluss, dieNotensind
schlecht.Während seiner Ausbildung
zum Holzmechanikergeräterimmer wie-
der inKonflikt emit Kollegen und dem
Meister, wirdletztlichrausgeworfen.
Erns tstolpertgetrieben vonHass- und
Neidgefühlen durch sein Leben, so lesen
sichdie Akten über ihn. In einer Bahn-
hofstoilette, die er besucht, als er mal wie-
der durch Wiesbaden irrt,fühlt er sich
voneinem Mann amUrinal, den er für ei-
nen Ausländer hält, sexuell belästigt.Der
jungeMann sammelt sichkurzineiner
Toilettenkabine und stößt dem Mann
dann hinterrücks ein Messer in denRü-
cken. Bald darauf fühlt er sichimJugend-
gefängnis bedroht und prügelt mit einem
abgebrochenen Metallstuhlbein auf einen
Mitgefangenen ein. Ernstist zornig,von
HassgegenFremde erfüllt und scheint
über keinerlei Impulskontrolle zuverfü-
gen. Mit 21 Jahren baut er eineRohrbom-
be, die er in einer Gemeinde imTaunus in
einem leerenAuto voreiner Flüchtlings-
unter kunftdeponiert. Dabei geht das
Auto in Flammen auf, die Bewohner kön-
nen es löschen,wodurch die Bombe nicht
zündet. Erns twirdverur teilt, sechs Jahre
nachJugendstrafrecht.Seit dem miss-
glücktenRohrbombenanschlag führtder
Verfassungsschutz Ernstals Extremisten.
Er vernetzt sic hinder rechtsextremen
Szene, trittkurzzeitig der NPD bei. Er
geht auf viele Demonstrationen, wird
mehrmalswegenKörper verletzung verur-
teilt.
Die letzterechtskräftig festgestellte
Straftat vonStephan Ernst, bevoreram
- Juni 2019 mutmaßlichden Kasseler
CDU-PolitikerWalter Lübcke ermordet,
begeht er zehn Jahrezuvor ,am1.Mai - Ernstnimmt an einer nicht ange-
meldetenDemonstration in der Dortmun-
der Innenstadt teil. Neben ihm marschie-
renbekannteNeonazis aus demRuhrge-
biet. Ernst, der inzwischen inNordhessen
lebt, isthier bekannt.Einen „Hitzkopf“
nennt ihn einer der Männer,die damals
mitlaufen. DerZugbewegt sichschon ei-
nigeMinuten, als Ernstander Kolping-
straße nacheinem Pflasterstein greiftund
ihn nacheiner Motorradstreifewirft,die
geradevorbeifährt. Als derPolizistden
Stein sieht,kann er noch ausweichen.
Erns twirdfestgenommen, ein Jahr später
findetder Prozessgegen ihn am Amtsge-
richtDortmundstatt.Ernst gesteht, das
Urteil lautet:Wegen Landfriedensbruchs
in Tateinheit mitversuchterKörperverlet-
zung wird„zur Einwirkung auf den Ange-
klagten“ einStrafmaßvonsieben Mona-
tenverhängt, zur Bewährung ausgesetzt.
Es is tdie bislang letzteStrafe, die
Erns tbekommt.Obwohl in einem Akten-
vermerkdes Hessischen Verfassungs-
schutzes 2009 nochsteht, er sei „brandge-
fährlich“ und erKontakt ezur inzwischen
verbotene nrechtsextremen Gruppe
„Combat18“ pflege,verschwindeterwe-
nig später,imJahr 2013,vomRadar der
Sicherheitsbehörden. Der 36 Jahre alte
Mann soll sich„abgekühlt“ haben, also
keine akuteGefahr mehrdarstellen. Die
Sicherheitsbehörden erleben das in die-
sem Lebensabschnitt nicht selten beige-
waltbereitenRechtsextremen: Sie heira-
ten, bekommen Kinder (bei Ernstsind es
zwei), werden häuslichund entfernen
sichvom Kameradschaftsmilieu. Ernst
lebt mit seinerFamilie in einem kleinen,
eierschalen farbenen Haus amStadtr and
vonKassel .Dasserein brutaler,mehr-
fach vorbestrafterNeonaziist,ist den
Nachbarnnicht bekannt.Erhat sich, so
könnteman damalsvonaußenvermu-
ten, deradikalisiert, vielleicht sogar sei-
nen Ansichten abgeschworen. EinNeona-
zi wir dzum Normalbür ger.
DochErnst hat nicht abgeschworen, er
hat sichgewandelt.Erverkehrtnicht
mehr aufNeonazi-Demos und in Szene-
Kneipen,wasesauch für den Verfas-
sungsschutz schwieriger macht.Nachder
FestnahmeimFall Lübcke wirdbekannt,
dass ErnstauchamMesserangriff auf ei-
nen irakischen Flüchtling im Jahr 2016
beteiligt gewesensein könnte.Ernst spen-
detGeld an die AfD. Als es im Spätsom-
mer 2018 nachdem Todeines Mannes in
Chemnitzzuheftigen Auseinanderset-
zungenkommt, nimmt Ernstgemeinsam
mit MarkusH.aneiner AfD-Demonstra-
tion inder Stadt teil.Diesen H.kennt
Erns tschon lange, imKameradschaftsmi-
lieusindsiesichEndederneunzigerJah-
re begegnet, 2013treffen sie sichbei der
Arbeit wieder.Ernst überzeugt H., dem
selben Schützenverein beizutreten, siere-
den viel überWaffen. Es entwickelt sich
eineengeFreundschaft, die auf der
„beiderseitigenrechtsnationalen Gesin-
nung“ fußt, wie es in einem Beschluss
des Bundesgerichtshofes heißt.Beide
fürchtensichvor der Zuwanderung von
Ausländernund vermuten eine zuneh-
mende Gewalt und bürgerkriegsähnliche
Zustände. Siekommenzum Schluss, sich
bewaffnen zuwollen.H.macht Ernstmit
Elmar J. bekannt, einemTrödelhändler
aus dem Landkreis Höxter,gut 40 Kilo-
meter vonKassel entfernt.J.verkauft
Erns tmehrereWaffen, mit denen dieser
auf dem Schwarzmarkt handelt.
zählt dazu auchein Trommelrevolver, Ka-
liber 38, für 1100 Euro. Mit ihm wirdspä-
terWalter Lübcke ermordet. J. ,der weni-
ge Wochen nachdem MordanLübcke
auchfestgenommen wirdund bis Anfang
Januar inUnte rsuchungshaftsitzt, will
vonder Absicht nichtsgewusst haben.
Als im Herbst2015 vieleFlüchtlinge
nachDeutschland kommen und alleror-
tendarumgerungen wird, wie man sie
gut unterbringt,findetauchimKasseler
Stadtteil Lohfelden,woErnst wohnt,
eine Bürgerversammlungzum Thema
statt.Der Kasseler Regierungspräsident
Walter Lübcketritt auf. DieStimmung
kochthoch. UndLübcke sagt: „Es lohnt
sich, in unserem Land zu leben.Damuss
man fürWerteeintreten, undwerdiese
Wertenicht vertritt, derkann jederzeit
dieses Landverlassen,wenn er nicht ein-
verstanden ist. Das istdie Freiheit eines
jedenDeutschen.“ Ernstruft: „Ver-
schwinde!“.MarkusH.filmt das und
stellt es ingekürzterFormins Internet.
Die Lokalzeitung teiltdas Video, aber
auch„PI News“, späterverbreiten esPegi-
da-Facebook-Seiten. Am 19. Oktober
2015, fünfTage nachder Bürgerversamm-
lung,sagt derAutorAkif Pirincci bei ei-
ner Pegida-Kundgebung in Dresden, die
politische Elitekümmeresichnicht mehr
um die einfachen Leute. In der Flücht-
lingsdebatteträten Politiker zunehmend
als „Gauleitergegendas eigeneVolk“
auf. Als Beispiel zieht erWalter Lübcke
heran. Der CDU-Politiker istendgültig
zum Hassobjektgeworden. Im Hausvon
H. findendie Ermittler bei einer späte-
renDurchsuchung nicht nur zahlreiche
Waffen, sondernauch das Buchdes Pegi-
da-RednersPirincci,indem auchdie Bür-
gerversammlung in Lohfelden erwähnt
wird. DerNamen vonLübcke istmit ei-
nem gelben Stiftmarkie rt.
D
er Hasslässt St ephan Ernst
auchnach2015 nicht los. Er
findetdie PrivatadresseLüb-
ckes heraus, sagt zu seinem
Freund H., „vielleichtkann
man da malwasmachen“.Zu dieserZeit
unternehmen die beiden Männer nochim-
mer Schießübungen. DieKölner Silvester-
nacht, in der es zu sexuellenÜbergriffen
kam, sowie derTerroranschlagvonNizza
im Juli 2016 sollen Ernststark beeinflusst
haben, wie er in späterenVernehmungen
angibt.Mehrmals soll Ernstdas Hausvon
Lübcke aufgesucht haben.
In derNachtzum 2. Juni 2019findet in
Wolfhagen die Kirmesstatt.Walter Lüb-
ckewill denAbend auf derTerrasse ru-
hig ausklingen lassen. Ernst, der mit der
Waffezur Adressegefahren ist, schleicht
sichanund schießtLübcke aus einer Ent-
fernung vonein bis zwei Metern in den
Kopf. So sagt es ErnstnachseinerFest-
nahme auchwenig später in seinem ers-
tenGeständnis aus, das erkurz darauf wi-
derruft.Dennochhalten di eErmittlungs-
richteramBundesgerichtshofdiese nTat-
ablauf in ihrem Beschluss Mitte Januar
weiterhin für schlüssig.
Ernsts Anwälten istdaran gelegen,
eine andereVersion zu erzählen.Nach-
dem ihr Mandant ein knappes halbes
Jahr in UntersuchungshaftinKassel
sitzt, kündigt sein Pflichtverteidiger
Frank Hannigein neues Geständnis an.
Den Ermittlernkommt esvorwie einwo-
chenlangerTrommelwirbel. Als dann der
Vorhang gelüftetwird, verfolgen die Er-
mittler die Aussagen mitVerwunderung.
So emotionslosStephanErnst seinGe-
ständnis, denKasseler Regierungspräsi-
dentengetötet zu haben, Ende Junivorge-
tragen hat, sogeradezureumütig zeigt er
sicham8.Januar 2020.AnjenemTag
ließ sichErnst ein zweites Malgegenüber
dem Ermittlungsrichter ein.Fastsechs
Stunden dauertdie Vernehmung. Bei ei-
ner anschließenden Pressekonferenz in
einemKasseler Hotelgibt Anwalt Han-
nig gut zehn MinutenAuskunftüber die
Angaben seines Mandanten. Er drückt
aus, dassesder Wunschseines Mandan-
tengewesensei, sein Bildvonihm in der
Öffentlichkeitgeradezurücken. Das erste
Geständnis,das falsc hgewesen sei, habe
Hannigaus denKöpfen bekommen müs-
sen, sagt er in seinemYoutube-Kanal,
auf dem er auchwährend des Prozesses
berichten will.WenigeWochen später
stößt derKölner StrafverteidigerMustafa
Kaplan zumVerteidigerteam. In derVer-
gangenheithat er Angehörigevon NSU-
Opfernvertr eten, hat selbstDrohbriefe
voneinem selbsternannten„NSU2.0“er-
halten. Ersprichtvoneinem„hochspan-
nendenFall“ unddassbei derAuswahl
womöglichseine„türkische Vita“ eine
Rolle gespielt habe, um eine positiveAu-
ßenwirkung zu erzielen. Ganz so, wie
sichmännliche Sexualstraftäter lieber
voneiner Frau verteidigen lassen.
Dochdas zweiteGeständnisvonErnst
dreht denFall nicht.Als Stephan Ernst
vordem Ermittlungsrichter imPolizei-
präsidiumKassel sitzt, fällt den Ermitt-
lernseineHaltung auf,erwirkt unsicher.
SeineStimme wirdmanchmalleise ,fast
br üchig .Die Ermittler nehmen das Ge-
ständnisernst,für glaubwürdig jedoch
halten sie es nicht.Für sie erscheint
Erns twie jemand, dem klar wird,was
ihn droht.Nachdem „Geständnis“sitzen
die Ermittlerzusammen, gehen aber-
mals die Akten durch.Mehrer eDutzend
Ordner,prallgefüllt. Die Spuren amTat-
ort, die DNAanLübckesHemd, das bal-
listische Gutachten. AussagenvonZeu-
gen. Kann es so abgelaufen sein, wie
Erns tbehauptet? Is tesmöglich, dasses
einen zweiten Mann amTatortgab? Dass
nicht nur Ernstdem CDU-Politiker in je-
ner Nachtauf derTerrasse seinesWohn-
hausesgegenüberstand, sondernebenso
sein Freund MarkusH., der dann,verse-
hentlich, den Schussauslöste? Am Ende
kamen die Ermittler zu dem Schluss, es
istzumindestnicht wahrscheinlich.
Die Anklageder Bundesanwaltschaft
dürfteder Spur der Ermittlerfolgen. Das
vermutlic heinigehundertSeitenstarke
Konvolut wirdindiesenTagenamFrank-
furter Oberlandesgericht erwartet.Im
Kern dürfteessichandem orientieren,
wasder 3. Strafsenat des Bundesgerichts-
hof schon in seinem Beschluss vom
- Januarzuder Frage, weshalbStephan
Erns twegen dringendenTatverdachts
weiter in Haftbleiben müsse, ohnegro-
ßesFederlesenfeststellte :Seine ersteEin-
lassung, in der er dieTatgestanden habe,
bleibeglaubhaft, nicht zuletzt aufgrund
der Spurenlage. Dies gilt auch, nachdem
er sein Geständnis widerrufenund den
Mitbeschuldigten H. belastet hat, so der
BGH. Man sieht dortinsoweit „keinever-
nünftigen Zweifel“. Es sei, so heißt es in
dem Beschluss, eineWochenachdem
neuen „Geständnis“vonErnst,vielmehr
davonauszugehen,dassder Beschuldigte
Lübcke„wissentlichund willentlich“ er-
schossen habe.„De rBeschuldigtehandel-
te aus fremdenfeindlichen Motiven und
nutztedie Ar glosigkeit sowie die darauf
beruhendeWehrlosigkeit seinesTatop-
fers aus.“
Heimtückischer Mordalso,aus niedri-
genBeweggründen,weil politisch, frem-
denfeindlichmotivier t. Wenn Juristen
versuchen,Unfassbares in Sachverhalte
und Tatbeständezufassen, schnurrtes
zusammen in diese spröde Sprache. Sie
lässtdas Monströse des Banalen allen-
falls erahnen.Wassichauf dem Anwesen
des in seinem nordhessischen Heimatort
Wolfhagen so tiefverwurzelten, für seine
Mitmenschen so aufgeschlossenenKasse-
ler Regierungspräsidenten ereignete, nur
einenSteinwurfvon der Kirmes entfernt,
an einem Samstagabend, denWalter Lüb-
ckemit derFamilie undFreundenver-
bracht hatteund den ergeruhsam aus-
klingen lassenwollte, istnur zu begrei-
fen, wenn man dieVorstellungendar-
über,was gewaltbereiterRechtsextremis-
mus bedeutet,erweitert.Undfür den
meistwohl sehr beschränkten Horizont
der Täter. Der BGHkommt im Januar
zum Schluss,essei das Zielgewesen, ein
Klima der Angstvor willkürlichen und
grundlosen gewaltsamen Angriffen zu
schaf fen. Die Botschaft:Es könntejeden
tref fen.
Aber geradedieseBeschränktheit, wie
sie auchinden AnschlägenvonHalle
und Hanau erkennbar wird, macht den
sichneu formierenden militantenRechts-
extremismus so gefährlich. Es istder
Grund, wiesodie Bundesanwaltschaft
das Verfahren nachdem MordanWalter
Lübckesofrüh an sichgezogen hat.Die
Dimension einerTat, welche, wie die
Richter inKarlsruhe meinen,geeignet
ist, den Bestandund die Sicherheit der
Bundesrepublik Deutschlandzubeein-
trächtigen, ergibt sichdaraus, dassdas
Opferwegendessen politischerÜberzeu-
gung und Arbeit alsRegierungspräsident
ausgewähltworden sei. Er sollte „für die
vonihm vertrete ne Linieinder Flücht-
lingspolitik abgestraft“werden. DieTat,
so der Bundesgerichtshof weiter ,ent-
springeaus derFeindschaftdes Täters
gegenüber dem freiheitlich-demokrati-
schenStaats- und Gesellschaftssystem.
Wann die untergroßen Sicherheitsvor-
kehrungen zu planende Hauptverhand-
lung vordem Staatsschutzsenat des
FrankfurterOberlandesgerichts begin-
nen wird, istungewiss. Zunächstwerden
die Richter entscheiden, ob sie das Haupt-
verfahren eröffnen.Sie überprüfen da-
bei, inwieweit sie der Bundesanwalt-
schaf tdarin folgen, dassder Tatverdacht
aufgrund des Ergebnisses der Ermittlun-
gen„hinreichend“, das heißt, auch nach
ihrer Einschätzung eineVerurteilung mit
Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei.Hal-
tensie gewisseUmstände für unklar,kön-
nen sieweiter eErmittlungsaufträgeertei-
len.Die Verteidigungkann dieses soge-
nannteZwischenverfahren nutzen, um
Einwände gegendie Anklagevorzubrin-
gen. Lässt das Oberlandesgerichtdie An-
klage zu, können nochMonatebis zum
Prozessbeginnvergehen.Auch dieStaats-
schutzsenatedes Frankfurter Oberlandes-
gerichts sindstark belastet,vor allem mit
Verfahrengegenmutmaßliche Anhänger
islamistisch-terroristischer Gruppen.Au-
ßerdem mussnochder Prozessgegen den
wegenVorbereitung einer schweren
staatsgefährdenden Gewalttat freigestell-
ten(und längstaus derUntersuchungs-
haftentlassenen) OberleutnantFranco
A. bewältigt werden. Der jungeMann
aus Offenbachsoll imFrühjahr 2017 in
der Kaserne eines Jägerbataillons im
französischen Illkirch aus rassistischen
Motiven Anschlägeauf Politikergeplant
haben.
M
arkusH.dürftewährend
des Verfahrens gegen
Stephan Ernstebenfalls
eine wichtigeRolle spie-
len. Es istnicht ausge-
schlossen, dasserander Tatdirekt betei-
ligt gewesen is t. In jedemFall hat er einen
großen Einflussauf Ernstgehabt.Ersoll
ihm bei der Beschaffung derWaffegehol-
fenhaben. Ebenso, so die Ermittler,habe
er ihn in seinem Entschluss, den Mordan-
schlag durchzuführen, bestärkt. Mit H.
hattesichauchder hessischeVerfassungs-
schutz intensiver befasst.Das geht aus
der Antwortder Behörde auf eine Anfra-
ge dieserZeitung hervor. So hattedas
Landesamt derWaffenbehörde derStadt
Kassel „gerichtsverwertbare Erkenntnis-
se“ zu MarkusH.übermittelt, als es um
die Erlaubnis zumWaffenbesitz ging. In
der Folgeentschied dieKasseler Behör-
de, die Genehmigung zuversagen. Aller-
dings schlosssichdaran einRechtsstreit
an, der bis 2015 dauerte.IneinemUrteil
vordem VerwaltungsgerichtKassel wur-
de die ursprüngliche Entscheidung der
Kasseler Waffenbehörde schließlichauf-
gehoben.Unteranderem hieß es in der
Begründung des Gerichts, das Landesamt
für Verfassungsschutz habe „mit Schrei-
ben vom9.Februar 2015 mitgeteilt, dass
seit der letztenUnterrichtungkeine weite-
renErkenntnisse zurPerson des Klägers
vorlägen“, diegegendie Zuverlässigkeit
im Sinne desWaffengesetzes sprächen.
MarkusH.bekam die Erlaubnis zumWaf-
fenbesitz schließlichdoch.
Mit derFrage,wieso H.Zugang zu Waf-
fenbekam und wiesoergenauso wie
Erns tvom Radar derVerfassungsschüt-
zer verschwand, obwohl sie imVerborge-
nen nochimmeraktiv waren, soll sich
auchein Unte rsuchungsausschussim
Hessischen Landtag beschäftigen. Die
SPD will eineUntersuchung beantragen,
wartet aber,wie es heißt, die Anklage der
Bundesanwaltschaftab. Man erhofft sich
vonden Er kenntnissen der Sicherheitsbe-
hörden Schlüsse darauf,warum Ernst,
der nochsechs Jahrevor der mutmaßli-
chen Tatals „brandgefährlich“galt, nicht
intensiver beobachtet und gestopptwur-
de. Wasdie Aufgabe desVerfassungs-
schutzesgewesen wäre.
Kopfschuss aus kurzer Distanz
Der mutmaßliche MördervonWalterLübckeradikalisiertesichüberJahr e–und verschwand doch
vomRadar der Behörden. Bald sollgegenStephan ErnstAnklag eerhoben werden.
VonKatharina Iskandar, Helmut Schwan undTimoSteppat