Neue Zürcher Zeitung - 02.03.2020

(avery) #1

Montag, 2. März 2020 FEUILLETON 27


Eineiige Zwillinge und doch nicht gleich:Auch kleine Unterschiede fördern dieVielfalt der Menschen. ALY SONG / REUTERS


Das Händereiben


Die Swiss Music Awards 2020


ADRIAN SCHRÄDER

Seit dreizehnJahren prosten sich die
Exponenten der Schweizer Musikindus-
trie an denSwiss MusicAwards (SMA)
zu.Für die einenist derEvent eine wich-
tige Plattform für das Schweizer Musik-
schaffen. Skeptiker hingegen kritisie-
ren, es würden nur wenige, bereits er-
folg reiche Musiker ausgezeichnet und
die Szene müsse dem Diktat der gros-
sen Konzerne gehorchen.
Auch bei der durchdie Corona-
virus-Epidemie gefährdeten Vergabe
der SMA 2020 kam das Schulterklop-
fen nicht zu kurz. Es schien,als seien
aufgrund der Sicherheitsbestimmun-
gen und derReduzierung der Gästezahl
nur noch Gratistrinker – Medienleute,
Sponsoren, Vertreter der Industrie und
Musiker – in denRängen des KKL an-
zutreffen.Das häufige Händereiben galt
an diesem Abend für einmal nicht den
Preisen und Deals, sondern der Hygiene:
überall Desinfektionsmittel-Dispenser.
Durch den Abend führte die Kaba-
rett istin Hazel Brugger, die mitWitz und
vollem Kampfgewicht in jedes mögliche
Fettnäpfchen trat. Und zwar so unbarm-
herzig undkonsequent, dass sich Stefa-
nie Heinzmann, die Loco Escrito den
Award für den «Best Hit»(«Punto»)
vergeben durfte, sich zunächst ver-
pflichtet sah, die Moderatorin zu loben:
«Danke, Hazel! Ich habe mich an den
SMA noch selten so amüsiert.»
Bei Brugger blieb tatsächlich nichts
unausgesprochen. Nicht die Affäre um
die umstrittene Preisträgerin Lore-
dana – «Falls du mal in eine brenzlige
Situationkommen solltest, habe ich dir
eine Feile in deinenAward eingiessen
lassen» – und nicht dasVirus und die
Taktik derVeranstalter:«Wisst ihr, was
wir uns gesagt haben?Laden wir die-
jenigen, die zu schwach sind,um das hier
zu überleben,docheinfach aus!» Immer
hatte die «GretaThunberg der deut-
schen Comedy-Szene» (Zitat Brugger)
einenkessen Spruch auf den Lippen.
Für berührendeMomente sorgten
andere: Etwa Büne Huber, der sich auf-
richtig freute über dieAwards , die seine
Band Patent Ochsner als «Best Group»
und für das «Best Album» gewann.
Oder die Schriftsteller Martin Suter und
Philippe Djian, die Stephan Eicher wür-
digten – er wurde für sein Lebenswerk
ausgezeichnet. Irritierend hingegen die
Dankesrede der Luzerner Rapperin
Loredana: «Ich bin so glücklich, hier
zu sein – auch wenn’s gar nicht so aus-
sieht.» Umso träfer dieWorte, die Endo
Anaconda für das Schaffen des mit dem
Künstlerpreis ausgezeichneten Berner
RappersBaze fand. Er sei ein «poeti-
sche r Tumult», eine «wandelnde Blue
Note» und «än ächtiWuchtbrummä».

Warum die Menschen nicht gleich sind


Der streitbare Autor Charles Murray zeigt auf, was die Genetiker über menschlicheUnterschiede wissen


MARKUS SCHÄR


«Ich bin einekontroversePerson», sagt
der Autor von sich selbst. Er lud deshalb
nach dem Abschluss seines Manuskripts,
wie es sich gehört, alleWissenschafter
zum Gegenlesen ein, deren Studien er
erläutert oder deren Expertise er einge-
holt hatte. Und er versprach ihnen,ihre
Namen in derVerdankung nicht zu nen-
nen.Denn öffentlicherDank von ihm sei
«das Letzte, was ein Genetiker oder ein
NeurologeaneinerHochschulebraucht».
Die Vorsicht drängte sich auf, denn
Charles Murray – um diesenAutor han-
delt es sich hier – wagt sich mit seinem
Buch «Human Diversity» an das Pro-
blem, um das die Intellektuellen seit
einem halbenJahrhundert am fieber-
haftesten streiten: Sind Geschlecht,
Rasse und Klasse von der Natur oder
von derKultur bestimmt? Sind sie also
ein biologisches Produkt oder ein sozia-
les Konstrukt?
Mit dieserFrage löste der 77-jährige
Politologe schon vor bald dreissigJah-
ren aus , was heute als Shitstorm gälte. Im
Bestseller«The Bell Curve» von1994,zu-
sam men mit dem Harvard-Psychologen
RichardJ. Herrnsteinverfasst,zeigteerdie
BeziehungzwischenIntelligenzundKlas-
senstruktur in den USA auf. Und er stand
deshalb, vorschnell alsRassist verschrien,
jahrelang im Kreuzfeuer von Medien und
Akademie,selbstalsdieForschungimmer
klarer für seine Sicht sprach.
Noch vor dreiJahren,als Charles
Murray an einem College inVermont
sprechen sollte, verjagte ihn ein Mob
zartbesaiteterStudenten.SeineEhefrau,
die ihm bis dahin von seinemVorhaben
abgeraten hatte, ermutigte ihn darum:
«Wenn sie ohnehin auf dich losgehen,
dann schreib das Buch.» Der Sturm
bleibt bis anhin aus, aber das freut den
Autor auch nicht: Offenbar zetteln die
Publikumsmedienkeine Debatte mehr
an,nurdie«NewYorkTimes»kochtedie
jahrzehntealte Polemik nochmals hoch.
Das lässt sich erklären, dennbei der
Frage, ob der Mensch bei der Geburt
ein evolutionär geprägtes Wesen oder
ein «unbeschriebenes Blatt» sei – so der
Titel von Steven Pinkers Bestseller zu
diesem Streit –,steh en sich die beiden
Fronten heute in sprachloserFeindselig-
keit gegenüber. Einerseits die Biologen,
die auf die Diversität im Genom der


Menschen hinweisen, also auf ihre über
Jahrmillionen entwickelte und heute
noch wirkmächtige Natur. Anderseits
die Sozialwissenschafter, die mit ihrer
Lehre von der Intersektionalität alle
Ungleichheit auf Machtstrukturen zu-
rückführen, also auf die gestaltbare und
deshalb veränderbare Kultur.
Bei der Debatte um «nature» (Bio-
logie) oder «nurture» (Sozialisation)
steht für Charles Murray fest: «Das neue
Wissen, das uns Genetiker und Neuro-
logen verschaffen, erlaubt uns Riesen-
schritte in unseremVerständnis, wie Ge-
sellschaft undWirtschaft wirklich funk-
tionieren.» Bis Ende diesesJahrzehnts
stelle sich das Problem deshalb gar nicht
mehr. «2030, wenn gigantische Genom-
Datenbanken verfügbar sind», meint er,
«wird es alsKunstfehler gelten, zu sozia-
lemVerhalten zu forschen,ohne sich auf
genetische Informationen zu stützen.»

Differenzen bei Persönlichkeit


Wo dieForschungheuteschonsteht,legt
CharlesMurray vorsichtig,oftbiszurEr-
schöpfung gründlich und sorgfältig dar,
was sein Buch zur schwerverdaulichen
Lektüre macht. Er enttäusche Leser, die
Bomben erwarteten,sagt der Autor war-
nend. Zwar setze er sich mit einigen der
brennendstenFragen derWissenschaft
auseinander, aber errate allen, sich
erst einmal zu entspannen: «Die Unter-
schiede zwischen Gruppen von Men-
schen sind interessant,aber nicht furcht-
erregend oder weltbewegend.»
Deutlich zeigen sich die Unter-
schiede zwischen Männern undFrauen.
Die Gender-Studies setzen aber nicht
nur die Unterscheidung zwischen Sex
und Gender durch, also zwischen dem
biologischen und dem sozialen Ge-
schlecht. Sie glauben auch an fliessende
Übergänge zwischen Mann undFrau,
also letztlich an die freieWählbarkeit
des Geschlechts. Wir würden nicht als
Männer oderFrauen geboren, lehren
sie, sondern dazu gemacht.
Doch so einfach ist es nicht. Denn
Psychologen stellen in zahllosen Studien
zwischen den Geschlechtern markante
Unterschiede beiden Persönlichkeits-
merkmalen fest,sei es bei derAggression
oder bei der Empathie, bei derKoopera-
tionundderKompetitivitätoderbeimIn-
teresse an Menschen und an Dingen. Da-

bei geht es aber, wie Charles Murray stets
betont,nicht um Individuen,sondern um
Statistik: Die Forscher sehenimmer zwei
Normalverteilungen, die sich stark über-
lappen. Bei einer einzelnenFrau kann
desh alb jedes Merkmal stärker ausge-
prägt sein als bei fast allen Männern–
die Mittelwerte der beidenKurven, also
diedurchschnittlicheFrauundderdurch-
schnittlicheMann,liegendessenungeach-
tet oft deutlich auseinander.
Die Genderforscherinnen wenden
ein, zu diesen Unterschieden führe ge-
rade die geschlechtsspezifische Soziali-
sation.Ihre These läss t sich aber empi-
risch widerlegen. Etwa dank einerLang-
zeitstudie mit mathematisch hochbegab-
ten Kindern in den USA: Die jungen
Frauen, die jedeFörderung erfuhren,
zeigten nachJahrzehnten«mit ihren
Karrieren und ihren Prioritäten im Le-
ben die stereotypen Geschlechtsunter-
schiede». Oder mitVergleichen von
Nationen: Sie stellen die stärkste Nei-
gung derMänner zu technischen und
der Frauen zu sozialenBerufen dort fest,
wo dieFrauen dank der Gleichstellung
frei über ihr Leben bestimmenkönnen.
Auch die Unterschiede zwischen den
Ethnien lassensich imAlltag nicht über-
sehen.Aber sie zeigen sich eben,wie der
2002verstorbeneEvolutionsbiologeSte-
phenJay Gould dekretierte, buchstäb-
lich nur «skin-deep», also an der Ober-
fläche: «Die natürliche Selektion ist bei
der Evolution des Menschennahezu
irrelevant geworden. Er hat in den letz-
ten 40000 bis 50000 Jahren kaum eine
biologische Entwicklung durchgemacht.
Alles, was wirKultur undZivilisation
nennen, haben wir mit demselbenKör-
per und demselben Hirn geschaffen.»
Diese Doktrin, die sich gut gemeint
gegen den sozialdarwinistischenRas-
sismus wandte, lässt sich nach den fas-
zinierendenFortschritten der Genomik
in den letzten zwanzigJahren nicht mehr
halten. Zwar bestätigendie Genetiker
die engeVerwandtschaft aller Men-
schen: Eine kleine Gruppe wanderte vor
rund 60000 Jahren in den Nahen Osten
aus und breitete sich seither über die
ganze Erde aus; von ihr stammen also
alle Ethnien ausserhalb Afrikas ab. Auf
dem Herkunftskontinent aber zeigt sich
wegen derVermischung mit älterenVer-
wandten eine weit grössere genetische
Vielfalt. Und auch bei denAuswande-

rern zeugt das Erbgut von solchenKon-
takten, etwa mit Neandertalern.
Vorallemgabesvielschnellere lokale
Anpassungen, als es die Doktrin wahr-
haben wollte. So bildete sich dieLakto-
setoleranz, dank der auch Erwachsene
Milchtrinkenkönnen,erstindenGesell-
schaften heraus, die in den letzten zehn-
tausendJahrenVieh hüteten. Deshalb
rät Charles Murray, wir sollten die gene-
tischenUnterschiedezwischenGruppen
anerkennen,ja b egrüssen – aber imWis-
sen:«Esgibtkeinemoralischeoderjuris-
tischeRechtfertigung, Individuen auf-
grund derPopulation, der sie angehö-
ren, unterschiedlich zu behandeln.»

Das Lebenist nichtvorbestimmt


Bei den Unterschieden zwischen den
Klassen zeigt sich Charles Murray nach
jahrzehntelanger Verfemung ebenso
versöhnlich. Denn dieWissenschaft
bekräftigt seineWarnung in«The Bell
Curve», dass in den USA eine herr-
schende Kaste besonders talentierter
Menschen heranwachse. Die Forscher
erkannten vor allem mit Studien an
Zwillingen: IntellektuelleFähigkeiten
und persönlicheMerkmale wie Kreativi-
tät oderAmbition sindgrosst eils erblich,
lassen sich also kaum durch die Umwelt
beeinflussen. Da dieseFaktoren in der
Wissensgesellschaft zum Erfolg führen
und die Erfolgreichen sich mit ihresglei-
chen zusammentun, verfestigt sich die
Klassen- oder gar Kastenstruktur.
DochauchhierbetontderAutor:Das
Leben des Individuums ist nicht durch
seine Gene vorbestimmt,vor allem nicht
seineWürdealsMensch.CharlesMurray
fordert deshalb «eine säkulareVersion
des Glaubenssatzes, dass wir vor Gott
alle gleich sind». Die Elite müsse akzep-
tieren,dasses–sotrivialeseinerseitsund
so inkorrekt es anderseits klingt – unter-
schiedliche Begabungen gebe, dass also
jeder Mensch seine Stärken und Schwä-
chenhabe:«WirbraucheneineneuePoli-
tik, die die Unterschiede anerkennt und
auf die Leute eingeht, wie sie sind und
nicht wie sie sein sollen.»
Dieser Grundsatz sollte eigentlich
nicht zuKontroversen führen.

Charles Murray: Human Diversity.The Biology
ofGender, Race, and Class.Little, Brown and
Company,Boston 2020. 528S., Fr. 42.90.

Goldener Bär für


iran ischen Film
(dpa) · Der Episodenfilm «Es gibt
kein Böses» des iranischenRegisseurs
Mohammed Rassulof hat den Gol-
denenBären gewonnen. DerFilme-
macher thematisiert darin dieTodes-
strafe. Die Jury zeichnete dasFilm-
team am Samstagabend auf der Ber-
linale aus – allerdings in Abwesenheit
des Regisseurs, der selbstkeine Reise-
erlaubnis erhielt.
Die deutsche SchauspielerinPaula
Beer wurde als besteDarstellerin ge-
ehrt für ihreRolle in ChristianPetzolds
Liebesfilm «Undine». BesterDarsteller
wurde der Italiener Elio Germano für
sein Spiel imKünstlerdrama «Hidden
Away» (« Volevo nascondermi»). Der
Grosse Preis derJury ging an Eliza Hitt-
mans Coming-of-Age-Drama «Never
Rarely Sometimes Always». Einen Sil-
bernenBären erhielten der Südkorea-
ner Hong Sangsoo für die besteRegie
in «DieFrau, dierannte» und die Brü-
der Fabio undDamianoD’Innocenzo
für das Drehbuch zu «BadTales» («Fa-
volacce»). – Die Schweiz ging leer aus.
Mit «Schwesterlein» von Stéphanie
Chuat undVéroniqueReymond war sie
aber erstmals seit achtJahren wieder im
Wettbewerb in Berlin vertreten.
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