DERSTANDARD Wirtschaft DONNERSTAG, 20.FEBRUAR2020| 19
In einer Studie zeigen zwei Ökonomen erstmals,dass eine höhere
Sozialhilfe mehr FlüchtlingezueinemUmzug nachWien bewegt.
Dem entgegenwirkenkönnen bessereIntegrationsangebote.
Wann höhereSozialhilfe
Flüchtlingeanzieht
W
enige politische Themen sor-
gen in Österreich laufend für
so emotionale Debatten wie
die Frage, was Flüchtlinge anzieht
und was sie abschreckt. Experten
sprechen von Pull- oder Push-Fakto-
ren. Zu Letzteren zählen all jene
Gründe, die Menschen dazu bringen,
ihre Heimat zu verlassen, wie Kriege
oder staatliche Verfolgung.
Zu den Pull-Faktoren gehört alles,
was Menschen dazu antreibt, in
einem bestimmten Land um Asyl an-
zusuchen und einen großen Bogen
umandereStaatenzumachen.Woein
rechtsstaatliches Verfahren garantiert
ist,kommenAsylwerber eherhin. Das
ist durch Studien belegt. Ebenso, dass
strenge Grenzkontrollen abschre-
ckend wirken.
AktuelltobteineDebatteunterWis-
senschaftern darüber, welche Wir-
kung Sozialsysteme haben. Strömen
also mehr Menschen in ein Land, weil
dort die sozialen Zuwendungen hö-
her sind? In den meisten Forschungs-
arbeitenwirddasverneint.Imvergan-
genen Jahr kamen aber drei Ökono-
men der Princeton University anhand
einer Untersuchung in Dänemark zu
dem Ergebnis, dass höhere Leistun-
gensehrwohldafürsorgen,dassmehr
Flüchtlinge in ein Land kommen.
Zwei österreichische Ökonomen
leisten einen interessanten neuen
Beitrag zu dieser Debatte. Fanny Del-
linger von der Universität Innsbruck
undderWifo-MigrationsexpertePeter
Huber haben sich angesehen, welche
Rolle Sozialleistungen bei der Aus-
wahl des Wohnortes, die Geflüchtete
treffen, in Österreich spielen. Die bei-
den haben Daten über rund 21.
Menschen ausgewertet, die zwischen
2010 und 2018 nach Österreich ge-
kommen sind und bleiben durften,
entweder als anerkannte Flüchtlinge
oder als subsidiär Schutzberechtigte.
Ein natürliches Experiment
Die Forschungsfrage lautete, ob hö-
here Sozialhilfe die Wohnortentschei-
dung im Inland beeinflusst–konkret,
ob Flüchtlinge eher nach Wien gehen.
Um diese Frage zu beantworten, bietet
Österreich ein perfektes Umfeld. Asyl-
werber werden nach ihrer Ankunft im
Land relativ gleichmäßig auf alle Bun-
desländer aufgeteilt. Wird ihnen Asyl
zuerkannt, können sie ihren Wohnort
frei wählen. Im Regelfall müssen die
Menschen nachZuerkennung ihres
Schutzstatus die Asylheime innerhalb
von vier Monaten verlassen. Als natür-
liches Experiment diente den For-
schern dieKürzu ng derMindestsiche-
rung in Niederösterreich, die 2017 in
Kraft getretenist: Die Sozialhilfe wur-
de dort von 837 Euro für Flüchtlinge
auf 522 Euro gekürzt.
Dellinger und Huber zeigen, dass
daraufhin um fast ein Fünftel mehr
Flüchtlinge nach Wien umgezogen
sind, wo sie die Mindestsicherung in
voller Höhe beziehen können, als da-
vor. Insgesamt sind im Jahr 2017 von
100 Flüchtlingen in Niederösterreich
42 innerhalb der ersten Monate nach
Asylzuerkennung in die Bundes-
hauptstadt übersiedelt.
Als zweiter Beleg für die Auswir-
kungen der Sozialleistungen auf die
Wohnortwahl dient ein Vergleich
zwischen Flüchtlingsgruppen. In
mehreren Bundesländern, darunter
Oberösterreich und Niederösterreich,
bekommen subsidiär Schutzberech-
tigte keine Mindestsicherung, son-
dern nur eine deutlich niedrigere
Grundsicherung. In anderen Bundes-
ländern, darunter Wien, gibt es da-
gegen die volle Sozialhilfe. Die Folge:
Unter den subsidiär Schutzberechtig-
ten zieht es etwas mehr als zehn Pro-
zent zusätzlich in die Hauptstadt.
Diese alles spricht also für die Sog-
wirkungdurchhöhereSozialtransfers
im Inland, wobei nur das Verhalten
von Menschen untersucht wurde, die
soeben Asyl bekommen haben, also
bald umziehen mussten.
Rolle der Integrationsangebote
Das Thema ist aktuell von Bedeu-
tung: Die Mindestsicherung oder So-
zialhilfe ist auch heute von Bundes-
land zu Bundesland unterschiedlich
geregelt,wobeiWienmithöherenBei-
hilfen für Kinder und der günstigeren
Regelung für subsidiär Schutzberech-
tigte tendenziell etwas mehr zahlt als
manch andere Länder. Wer also gerin-
gere Leistungen vergibt, kann Asylbe-
rechtigte nach Wien drängen.
Dabei spielen nicht nur Sozialleis-
tungen eine Rolle. Bekannt ist, dass es
viele Flüchtlinge nach Wien zieht,
weil sie dort eine größere Communi-
ty aus dem eigenen Land vorfinden.
Die erwähnte Studie, eigentlich ein
Working Paper, weil es noch nicht
ganzfinalisiertist,zeigtnocheinenin-
teressanten Aspekt auf. Aus zwei Bun-
desländern, Tirol und Vorarlberg, ge-
hen generell kaum Flüchtlinge weg.
Niederösterreich verlassen zum Bei-
spiel fünfmal mehr Flüchtlinge nach
Zuerkennung von Asyl als Tirol in
Richtung Hauptstadt. Das dürfte laut
den Studienautoren daran liegen, dass
es für Asylberechtigte in den beiden
westlichsten Bundesländern mehr
Unterstützung bei der Wohnungssu-
che gibt, also ein besseres Integra-
tionsangebot. Die Interpretation der
Studie würde dann lauten: Nur dort,
wo es wenig Integrationsangebote
gibt, ist die Sozialhilfe ein entschei-
dender Faktor bei der Wohnortwahl.
Dazu würden auch die Ergebnisse
der Wifo-Studie aus dem Burgenland
passen: Dort sind nach einer Kürzung
der Mindestsicherung weniger
Flüchtlinge nach Wien gegangen als
davor.Diesen Effekt können Huber
und Dellinger nicht erklären. Laut
DellingerdeutetdieanekdotischeEvi-
denz auch hier darauf hin, dass paral-
lel zur Kürzung der Mindestsiche-
rung mehr Unterstützung bei der
Wohnungssuche angeboten wurde.
Kommentar Seite
Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen (NÖ): Asylwerber werden relativ gleichmäßig auf ganz
Österreichaufgeteilt–aber waslässtAufenthaltsberechtigte entscheiden, wohin sie gehen?
Foto: Picturedesk
András Szigetvari
Sehr wenigeÖsterreicher sehen Migration als Chance
OECD-Umfragezeigt, dass ÖsterreicherNeuzuzug sehr skeptisch sehen, aberIntegration gut bewerten
Wien–ImVergleich mit anderen
Ländern, die in den vergangenen
Jahren eine sehr hohe Zahl an Ein-
wanderern aufgenommen haben,
herrscht in Österreich gegenüber
Migranten eine besonders hohe
Skepsis. Das ist eines der Ergeb-
nisse einer EU-weiten Befragung
unter 28.000 Menschen.
Im Auftrag der EU-Kommission
wurdeerhoben,wiedieMenschen
in den 28-EU-Ländern über Mi-
gration und Integration denken,
ausgewertet wurden die Ergebnis-
se von Experten der Industriestaa-
tenorganisation OECD und des
Europäischen Hochschulinstituts
in Florenz.
Die Österreicher haben dabei
von Migration ein sehr wider-
sprüchliches Bild. Nur in wenigen
anderen Ländern ist die Zahl der
Menschen so niedrig, die in der
Einwanderung eine Chance se-
hen: Nur 13 Prozent der rund 1000
Befragten in Österreich sehen Zu-
wanderung positiv. In Deutsch-
land dagegen sagen immerhin 24
Prozent, dass Migration ins Land
eine Chance ist, in Schweden so-
gar 45 Prozent.
Weniger auffällig sind die Wer-
te, was die Zahl der Einwande-
rungsgegner betrifft. In Österreich
sehen Migration 38 Prozent als
problematisch, das ist nur unbe-
deutend mehr als in Deutschland.
In Schweden sehen weniger als
ein Fünftel der Befragten Zuwan-
derung ausschließlich negativ.
Interessant ist, dass während
Österreicher Einwanderung nega-
tiv beurteilen, viele der Meinung
sind, dass die Integration im Land
selbst recht gut funktioniert. Et-
was mehr als die Hälfte der Befrag-
ten sagt, dass Integration sehr er-
folgreich oder überwiegend er-
folgreich verläuft.
Gefragt wurde übrigens nur be-
treffend Migranten aus Drittstaa-
ten, also von außerhalb der EU.
Das widersprüchliche Bild vie-
ler Bürger zeigtsich auch noch in
der Detailauswertung, wie Thomas
Liebig, Migrationsexperte bei der
OECD sagt. Ein Beispiel: Drei Vier-
tel der BefragtenÖsterreicher ge-
ben an, dass Zuwanderung den So-
zialstaat belastet. Zugleich glaubt
aber eine etwa ebenso große Mehr-
heit, dass Migranten wesentlich
dazu beitragen, dass Jobs besetzt
werden,die ansonsten durch In-
länder nicht besetzt werden könn-
ten. Mehr als die Hälfte der Befrag-
ten sagt auch, dass Einwanderer
einen positiven Beitrag zur wirt-
schaftlichen Entwicklung leisten.
Etwa 75 Prozent der Befragten
sagen, dass Zuwanderung das Kri-
minalitätsproblem im Land insge-
samt erhöht–auch das ist im Ver-
gleich mit den übrigen 28 Ländern
ein sehr hoher Wert.
Tendenziell wird Zuwande-
rung dort am negativsten gesehen,
wo sie kaum stattfindet: in Ost-
europa, etwa in Ungarn oder
Polen, wo Abwanderung ein weit
größeres Thema ist. Am positivs-
ten ist das Bild in nordischen Län-
der, groß ist die Skepsis auch in
Südeuropa. (szi)
HU FR AT DE NL SE
Umfrage zu Migration:
Chanceoder Problem?
Quelle: OECD |DERSTANDARD
... eher ein Problem
...eher eine Chance
... is tsowohlProblem alsauch Chance
...weder Problem noch Chance
Befragt n: EU-weit 28.000, Österreich: ~1.
Migration ist...
*