4 |DONNERSTAG,20. FEBRUAR 2020 International DER STANDARD
DieFreude über denFreispruch im Gezi-Prozesswährte nur kurz:
DerMenschenrechtler undVerlegerOsmanKavala bleibtinHaft –
nun aberwegeneiner angeblichen Putsch-Verschwörung.
Ein neues Kapitel
„türkischer Justizwillkür“
E
swar kalt,dochdie Stim-
mung vor demHochsicher-
heitsgefängnis in Silivri,
einem Vorort vonIstanbul, war
bestens.Erst voreinigen Stunden
hatte ein Gericht in einem alsSen-
sation empfundenen Urteil den
Mäzen, Menschenrechtler und
VerlegerOsman Kavala zusammen
mit weiteren acht Angeklagten von
Vorwürfen,sie hätten einen Um-
sturzgegen die türkische Regie-
runggeplant, freigesprochen.
Kurz zuvor hatte die Staatsan-
waltschaft Kavala, die Architektin
und Sprecherin der Bürgerinitia-
tive vom Taksim-Platz, Mücella
Yapıcı,u nd den Menschenrechts-
aktivisten Yiğit Aksakoğlu noch
lebenslang im Gefängnis sehen
wollen. Ungläubiges Erstaunen
im Gerichtssaal, als dann die Frei-
sprüche verkündet wurden. Kava-
la, der als Einziger der Angeklag-
ten im sogenannten Gezi-Prozess
die vergangenen zwei Jahre in
Untersuchungshaft verbringen
musste, sollte umgehend entlas-
sen werden. Deshalb warteten
Freunde, Anwälte und Ayşe
Buğra, die Ehefrau von Kavala, in
freudiger Erwartung.
Schockierende Nachricht
Dann kam der Schock. Plötzlich
machte die Nachricht die Runde,
Kavala sei erneut verhaftet wor-
den. Laut seinen Anwälten war er
zunächst einem Arzt außerhalb
des Gefängnisses vorgeführt wor-
den, der bescheinigen soll, dass
die Häftlinge in der U-Haft keinen
Schaden genommen haben. Doch
dann wurde Kavala nicht zurück
nach Silivri gebracht, um dort for-
mal entlassen zu werden, sondern
zur Hauptpolizeidirektion in Is-
tanbul, wo ihm ein Staatsanwalt
eröffnete, er sei erneut festgenom-
men worden: Man ermittle gegen
ihn nun wegen der Beteiligung am
Putschversuch gegen Präsident
Tayyip Erdoğan im Sommer 2016.
Für Buğra, eine Wirtschaftspro-
fessorin, war diese Wendung am
Dienstagabend kaum noch auszu-
halten. Über zwei Jahre hatte sie
um Kavala gebangt, war über-
glücklich gewesen, als der Frei-
spruch kam–und dann das: „Sie
ist am Boden zerstört“, sagte einer
Staatsanwaltschaft wäre es aller-
dings auch unmöglich gewesen,
Beweise für den Umsturzversuch
vorzulegen–weil die Gezi-Demos
im Sommer 2013 zunächst bloß
einlokalerProtesteinerBürgerini-
tiative gegen die Bebauung eines
Parks auf dem Istanbuler Taksim-
Platz waren.
Brutal niedergeknüppelt
Als dieser völlig harmlose Pro-
test brutal niedergeknüppelt
wurde, bildeten sich überall in
der Türkei Gruppen zurUnter-
stützung der Bewegung, und De-
mos gegen Willkür und Repres-
sion der Regierung begannenin
verschiedenen Städten der Tür-
kei. Für Erdoğan, damals noch
Ministerpräsident, waren die
Demonstrationen jedochgleich
ein Versuch, illegal seine Regie-
rung zu stürzen.
Am Mittwochvormittag nahm
der jetzige Staatspräsident
Erdoğan in einer Rede vor seiner
Fraktion zu der erneuten Festnah-
me Kavalas Stellung. Er machte
deutlich, dass er die damaligen
Proteste immer noch für einen
Umsturzversuch hält, und nannte
sie einen „niederträchtigen An-
griff auf das Volk“. Zu Kavalas
Freispruch vom Vorwurf, an dem
vermeintlichen Umsturz führend
beteiligt gewesen zu sein, sagte
Erdoğan: „Mit einem Manöver ha-
ben sie gestern versucht, ihn frei-
sprechen zu lassen.“
Verdacht auf Verschwörung
Offenbar hatte das Gericht tat-
sächlich unabhängig und gegen
den Willen Erdoğans auf Frei-
spruch entschieden. Doch wer
sind „sie“, die dieses Manöver in
Auftrag gegeben haben? Seit dem
Putschversuch 2016 ist Erdoğan
besessen von der Vorstellung, im
In- und Ausland werde ständig
gegen ihn konspiriert. Da folglich
Kavalas Freilassung nur das Er-
gebnis einer Verschwörung gegen
ihngewesenseinkann,wurdedie-
ser erneut festgenommen. Dies-
mal wird ihm eben vorgeworfen,
an dem Putschversuch im Som-
mer 2016 beteiligt gewesen zu
sein. Beweise dafür gibt es nicht.
Kommentar Seite
Aktuelle Fotos des prominenten Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala gibt es nicht–erbleibt
hinterGefängnismauern (im Bild: Kavalas Anwälte bei einer Pressekonferenz Ende Oktober 2018).
Foto: AFP
/O
zan Kose
Jürgen Gottschlich aus Istanbul
der Anwälte. Formal sitzt Kavala
wieder in Polizeihaft und wartet
darauf, einem Haftrichter vorge-
führt zu werden. „Das ganze üble
Spiel beginnt von neuem“, kom-
mentierte Emma Sinclair Webb
von Human Rights Watch die Vor-
gänge. Es sei ein „rachsüchtiges
und gesetzloses Vorgehen“.
Von einer „zynischen und kal-
kulierten Grausamkeit“ sprach
Amnesty International (AI), deren
türkischer Vorsitzender Taner
Kılıçund deren Geschäftsführerin
in der Türkeiİdil Eser am Mitt-
woch selbst in einem anderen Pro-
zess gegen zehn Menschenrecht-
ler auf deren Urteil warteten.
Für die meisten Beobachter war
jedoch die Verwirrung über dieses
„neue Kapitel der türkischen Jus-
tizwillkür“, wie die NGO Reporter
ohne Grenzen die erneute Fest-
nahme Kavalas nannte, perfekt.
Warum hatte das Gericht Kavala
nicht gleich verurteilt, wenn er
doch wenig später wieder festge-
nommen wurde?
Der Vorsitzende Richter im
Gezi-Prozess hatte am Dienstag-
nachmittag die Freisprüche für
die Angeklagten damit begründet,
dass die Staatsanwaltschaft für
den behaupteten Umsturzversuch
gegen die Regierung, für den Ka-
vala das Geld beschafft haben soll,
keine Beweise vorlegen konnte.
Gibt es also doch noch unabhän-
gige Richter in der Türkei? Für die
Streikstrotz Wirtschaftsaufschwungs in Griechenland
Die neue Regierung istwirtschaftspolitisch erfolgreich, doch dieMigrationspolitikführt zu Kritik
Adelheid Wölfl
N
ichts ging mehr. Am Diens-
tag streikten in Athen die
Bediensteten des öffent-
lichen Verkehrs. Weder Busse,
noch Straßenbahnen noch
U-Bahnen verkehrten in der grie-
chischen Hauptstadt. Es kam zu
massenhaften Staus, weil viel
mehr private Autos benutzt wur-
den. Der Streik richtete sich gegen
eine Pensionsreform der neuen
konservativen Regierung unter
Kyriakos Mitsotakis.
Der griechische Politologe Di-
mitris Katsikas kann die Proteste
nicht wirklich nachvollziehen.
„Die Änderungen im Sozialversi-
cherungssystem bewirken, dass
SelbstständigeihreGeschäftewie-
der offiziell machen können, weil
sie keine doppelten Abgaben
mehr zahlen müssen“, erklärt er
dem STANDARD. Auch sollten
jene, die sich selbstständig ma-
chen,mehrAnreizedafürerhalten,
überhauptein Business zu starten,
und die, die mehr arbeiten, sollen
auch mehr Pensionenerhalten.
Durch die neue Gesetzesinitia-
tive sollen zudem das Sozialversi-
cherungsregister digitalisiert und
die Pensionen von anderen Ein-
künftengetrenntwerden.Katsikas
stelltderneuenRegierung,dieseit
vergangenem Juli im Amt ist, vor
allem in der Wirtschaftspolitik ein
positives Zeugnis aus. Die Effekti-
vität der Ministerien wird erst-
mals anhand von Zielvorgaben
evaluiert, zudem wurden einige
Steuern mittlerweile gesenkt, um
Investitionen anzuziehen. „Sie ist
eine der aktivsten Regierungen,
die es bisher in Griechenland
gab“, meint Katsikas.
Wachstum von zwei Prozent
Die Wirtschaftsdatenzeigen
jedenfalls nach oben. Das Wachs-
tum des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) liegt derzeitbei etwa zwei
Prozent, also über dem Durch-
schnittderEU.WeilauchdieZins-
raten für die Abzahlungdes Schul-
denbergs momentan relativ gering
sind, hofft die Regierung nun, dass
sie künftig jenen Überschuss, den
sie lautEU-Kommission erwirt-
schaften muss, um die Schulden
zu bedienen, verringerndarf. Zur-
zeit sind es noch 3,5 Prozentdes
BIPs. Es besteht zudem die Hoff-
nung, dass die Ratingagenturen
das Investitionsklima dieses Jahr
besser bewerten werden.
Das Hauptproblem der Regie-
rung liegt mittlerweile auch ganz
woanders. Insbesondere auf den
Inseln Lesbos und Samos mehrt
sich der Unmut der dortigen Be-
völkerung wegen der neuen ge-
schlossenen Migrantenlager, die
die Regierung dort errichten will.
Grundstücke wurden bereits aus-
gesucht, doch die Insulaner pro-
testieren, weil sie Angst haben,
dassdieMigrationskrisesichnoch
ausweitet.
Die Regierung will auch die An-
zahl der Beamten, die sich mit den
Asylanträgen beschäftigen, erhö-
hen. Das soll die Verfahren be-
schleunigen. Bisher warten Mi-
granten oft wochenlang auf das
erste Interview. Nun sollen die
Verfahren auf drei Monate ver-
kürzt werden und Personen, die
kein Asyl oder kein Aufenthalts-
recht bekommen, schneller wie-
der abgeschoben werden.
Schwimmende Barrieren
Zurzeit leben allein im Camp
Moria auf Lesbos etwa 20.
Menschen,obwohlesnurfür
ausgerichtet ist. In den vergange-
nen Monaten kamen wieder ver-
mehrt Migranten aus der Türkei
mit Schlauchbooten auf den
Inseln an. Nun will die Regierung
im Meereswasser schwimmende
Barrieren anbringen, sodass die
Migranten nicht mehr mit Booten
nach Griechenland gelangen kön-
nen. Auch die Registrierungen für
NGOs, die sich um Migranten
kümmern, wurden von der neuen
Regierung verschärft.
Am Dienstag wurde in Athen protestiert. Gewerkschafter warnten vor
Pensionskürzungenund der Privatisierung der Versicherungen.
Foto: AP
/Y
orgos Karahalis
RamelowsCoup zur
Stabilisierungvon
Thüringenverpufft
Erfurt–Für seinen Vorschlag, sich
nicht selbst im Thüringer Landtag
zum Ministerpräsidenten wählen
zu lassen, sondern das Amt der
früheren Regierungschefin Chris-
tine Lieberknecht (CDU) zu über-
lassen, hatte Bodo Ramelow (Lin-
ke) viel Applaus über Parteigren-
zen hinweg bekommen.
Von einem „Coup“ war die
Rede, aber er ging nicht auf.
Lieberknecht steht nicht zur Ver-
fügung, weil ihre eigene Partei die
Bedingungen der Linken nicht ak-
zeptieren wollte.
Ramelow hatte vorgeschlagen,
Lieberknecht sollte mit drei Minis-
tern eine technische Übergangsre-
gierung führen und Neuwahlen or-
ganisieren. Die CDU will Lieber-
knecht an der Spitze einer voll
funktionsfähigen Regierungmit
Experten sehen, die auch das Bud-
get 2021 beschließt. Hintergrund:
Die CDU steht, nachdem sie FPD-
Mann Thomas Kemmerich ge-
meinsam mit der AfD gewählthat-
te,inUmfragensoschlechtda,dass
sie schnelle Neuwahlen fürchtet.
Die ehemalige Ministerpräsi-
dentin, die sich mit Ramelow gut
versteht, hätte bei seinem Plan
mitgemacht.NunrätsieihrerCDU
zu einer Koalition mit der Linken,
denGrünenundderSPDunterRa-
melows Führung, nur so könne
die Partei Neuwahlen verhindern.
(bau)