Die Zeit - 27.02.2020

(nextflipdebug2) #1

mein Vater und ich zweimal im Jahr in die Synagoge, an
Rosch ha-Schana und Jom Kippur. Ich war auch bei ei-
nem Jugendtreff der Gemeinde, die haben mich allerdings
zunächst abblitzen lassen. Einer sagte mal: Was, ihr fastet
nicht an Jom Kippur, dann seid ihr keine Juden! Später
habe ich dort zwei sehr gute Freundinnen gefunden.
Das war Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre,
nachdem die Fernsehserie Holocaust ein wenig das Tabu
gebrochen hatte, darüber zu reden. Ich glaube, meine El-
tern schleppten mich auch in die Synagoge, weil ich in
dem Alter war, in dem ich mich für Jungs zu interessie-
ren begann. Einen deutschen Freund mit nach Hause zu
bringen kam nicht infrage, das war klar. Ich habe später
einen Italiener geheiratet.
Aber Ihre Kinderfrau war Deutsche.
Ja, und das war nicht immer einfach. Mutter hatte manch-
mal das Gefühl, dass die gute Cilly sie hasste. Vielleicht
hat sie auch ihretwegen ihre polnisch-jüdische Identität
versteckt. Dabei hat Cilly sehr dazu beigetragen, dass ich
ein halbwegs normaler Mensch geworden bin. Eine kräfti-
ge junge Krankenschwester, die eine Dauerwelle hatte und
jeden Tag Hosen trug und mir bei den Hausaufgaben half.
Ihre Mutter hatte ihren italienischen Schuhladen, was
machte Ihr Vater beruflich?
Den Laden hat Mutter Mitte der Fünfzigerjahre eröffnet,
da erholte sich mein Vater gerade von seinem ersten Herz-
infarkt. Als es ihm wieder besser ging, führten sie das Ge-
schäft zusammen.
Wem fühlten Sie sich näher, Ihrem Vater oder Ihrer Mutter?
Meinem Vater. Mit ihm war es unkomplizierter.


Janeczek steht auf und zeigt ein Foto an der Wand: ein Mann
mit sehr buschigen Augenbrauen, der innig ein Baby an seine
Brust drückt – sie.


Mein Vater war ein Mann, der kein Problem damit hatte,
einen Säugling zu halten, das war damals ungewöhnlich. Die
Schwangerschaft meiner Mutter war ein Horror gewesen,
davor hatte sie etwa zehn Fehlgeburten gehabt. Nach der Ent-
bindung litt sie wahrscheinlich unter postnataler Depression,
ich hatte von Anfang an ein Kindermädchen. Meine Mutter
hatte unbedingt ein Kind haben wollen. Sie war dem Tod
entronnen – ich war das Symbol des Weiterlebens.
War das nicht ein wahnsinniger Ballast, so existenziell zu
sein für die Eltern?
Sicher. Mir wurde da eine Art Heilsanspruch aufgebrummt.
Ihre Mutter hatte sehr klare Vorstellungen davon, wie Sie
sein sollten, schreiben Sie. In erster Linie: schön und dünn.
Mutter war sehr auf meinen Körper fixiert. Nun hatte ich
von Natur aus keine schlanke Linie. Als ich 12 oder 13
war, drückte sie mir einen Kalorienkompass in die Hand.
In dieser Zeit habe ich gelernt, wie Knäckebrot mit Hüt-
tenkäse schmeckt. Cola und Nutella waren eh verboten,
das gab es nur einmal im Jahr, an meinem Geburtstag.
Und heute?


Süßes mag ich nicht mehr. Aber wenn Sie mir Chips vor die
Nase setzen, esse ich alle auf. In meinem Alter müsste ich
endlich auch mit Sport anfangen. Aber ich tue mich schwer,
das Wort Dis zi plin ist mir nach wie vor unheimlich. Da bin
ich noch sehr pubertierend. (lacht)
In Ihrem Buch »Essen« beschreiben Sie ein kleines Morgen-
ritual mit Ihrem Vater – das Knoblauchbrot.
Das war unser Ding, lange vor den Diäten. Mein Va-
ter nahm zwei Scheiben Sauerteigbrot, steckte sie in den
Toaster und rieb sie danach mit einer Knoblauchzehe ein.
Darauf kamen Salz und Butter, dazu tranken wir starken,
gezuckerten Tee. Mutter hat unser Ritual nie gefallen, Juden
wurden ja Knoblauchfresser genannt, Knoblauch zu essen
gehörte sich nicht. Hinterher musste ich mir immer ein
zweites Mal die Zähne putzen, bevor ich zur Schule ging.
Ihre Mutter hat Auschwitz überlebt. Können Sie sich er-
klären, warum sie nach dem Krieg so einen Wert gelegt
hat auf Nebensächlichkeiten? Das Äußere ihrer Tochter,
ihre Manieren?
Zum einen, finde ich, haben auch Holocaust-Überlebende
ein Recht auf Banalitäten. Zum anderen glaube ich, dass es
meiner Mutter darum ging, die Frau zurückzubekommen,
die sie vor dem Krieg gewesen war – eine piękna panienka,
eine schöne junge Dame, die auf ihre Figur achtet. Wo-
bei meine Vermutung ist, dass sie damals eine leichte Ess-
störung hatte. Später jedenfalls aßen meine Eltern wie viele
Holocaust-Überlebende: wahnsinnig schnell. Sie aßen aber
nie im Stehen! Nein, sie setzten sich an ihren schön ge-
deckten Tisch, wie zu einem Festmahl, mit Tischdecke und
allem. Dann schlangen sie ihr Essen hinunter.
Ihre Mutter hatte viele Ängste. Haben Sie die auch?
Ja, vor Hänsel und Gretel! Ein Kind traumatisierter Eltern
braucht ja eigentlich keine bösen Märchen und Horrorfil-
me, um Angst zu haben. Für mich war das aber die Chance,
mich normal zu fühlen. Ich hatte Angst vor Dingen, vor
denen ein normales Kind eben Angst hat. Dunkelheit, Geis-
tern – und dem Ofen der bösen Hexe.
Wenn es um Flucht und Migration geht, um traumatische
Erlebnisse in Familien, ist es oft die zweite Generation, die
diese Erfahrungen reflektiert, auch in Büchern oder Filmen.
Warum, denken Sie, ist das so?
Die zweite Generation wächst ja meist privilegierter auf, in
einer stabilen Welt. Ihr wurde nicht gerade die Zündschnur
am Hintern angesteckt, sodass sie weiterrennen muss. Sie
kann in aller Ruhe zurückblicken. In einer Hinsicht aber
hat die zweite Generation auch einen schwierigeren Stand,
finde ich. Die Eltern haben ein Trauma überstanden. Sie
kennen die Geschichte davor und die danach. Einem Kind
fehlt das Davor. Das Bedürfnis, über diesen Bruch hinweg-
zusteigen und sich ein Stück der Vergangenheit wieder zu
erarbeiten, ist da verständlich, finden Sie nicht?
Ist es nicht auch ein Weg, aus der Passivität eines Kindes in
die Aktivität eines Erwachsenen zu finden?
Auf jeden Fall. Ein Kind will das Leben der Eltern ver-
stehen, es für sich ordnen und formen. Es will sich nicht als

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